KLIRR - Ein Kind, Kapitel 13

kinAski

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Vinz schloss keine Freundschaften, mit wem auch? Es wohnten hier keine Kinder. Mit Eddy spielte er selten. Er war ihm irgendwie zu klein und zu fremd. Vor allem dieses plötzliche Brüllen war Vinz unheimlich. Wenn Fred von der Schule nachhause kam, verschwand er sofort zu Hannes. Eines Tages nahm Vinz all seinen Mut zusammen und fragte: »Du, Fred, darf ich mitkommen?«
»Wohin?«
»Na, wo du hingehst?«
Fred band sich die Schuhe.
»Darf ich mit?«
»Na, ich weiß nicht.«
»Ach, komm – einmal.«
»Die Steiningers haben einen großen Hund.«
»Ich hab ihn schon gesehen. Das macht mir nichts.«
»Er beißt.«
»Ja?« Vinz zögerte.
»Aber nicht, wenn du mit mir aufkreuzt«, grinste Fred.
»Also darf ich mit?«
»Ausnahmsweise. Aber verhalt dich ruhig.«
Der Weg an der Stadtmauer entlang war nicht weit. Im Handumdrehen waren sie da. Ein großer Schäferhund lag auf den Stufen zum Einfamilienhaus der Steiningers. Er erhob sich nicht, als sie sich näherten und blickte Fred friedlich an. Fred läutete und der Schäferhund schnüffelte an Vinz' Hosenbein.
»Wie heißt er?«
»Ist eine Sie. Heißt Laika. Wie der Weltraumhund. Man kann auf ihm reiten«, meinte Fred.
»Hallo Laika.« Der Hund schenkte ihm einen treuherzigen Blick. Er wirkte zufrieden und gesund. Er strahlte eine Ruhe aus, die Vinz nur von Tante Sophia und der Großmutter her kannte ... Vinz hörte Schritte, die Tür wurde aufgerissen und ein dicker Junge stand vor ihnen. Er war mit Sommersprossen übersät und hatte rote Wangen. Er schwitzte.
»Wer ist der Knirps?«
»Mein anderer Bruder, Vinz.«
»Gleicher Vater?«
Fred schüttelte den Kopf.
»Gleiche Mutter?«
»Nein.«
»Aber er heißt Raffwaller?«
Fred schüttelte den Kopf. Vinz sah, dass ihm diese Fragerei unangenehm war, doch Hannes war schon wieder am Hineingehen. Die Brüder folgten ihm. »Mach die Tür zu«, kommandierte Fred. Vinz tat es. Als er sich wieder umdrehte, waren die beiden schon zur Treppe hinauf verschwunden. Im Hausgang war es dunkel. Auf der Treppe lag ein Läufer. Von oben drang Lachen. Die beiden schienen sich gut zu unterhalten. Vinz stapfte über die Stufen und fand sich in einem weiteren, fensterlosen Gang wieder. Dort standen mehrere Türen zur Auswahl. Vinz fühlte plötzlich Beklommenheit. Unter einer Tür war ein Lichtstreif zu sehen. Vinz probierte die Klinke. Im nächsten Moment hörte er Kichern und flüsternde Stimmen. Dann wurde direkt vor ihm eine Tür aufgerissen, Vinz zuckte zusammen, während Freds Kopf erschien. Er rief: »Hier sind wir, Milchgesicht! ... Oh, erschrocken? Hahahaha ... «
»Lass ihn herein. Aber dass er meine Spielsachen nicht anrührt«, kam es von drinnen. Hannes höhnte: »Du bist ja käseweiß, Kleiner.«
»Ich heiße Vinzi.«
»Hier bist du der Kleine.«
Vinz blickte zu Fred. Der grinste dämlich. Vinz bereute es bereits, mitgekommen zu sein. Die beiden führten nichts Gutes im Schilde.
Sie begannen sich mit dem Zusammenbau von Schienen einer elektrischen Eisenbahn zu beschäftigen. In den Regalen von Hannes' Kinderzimmer stapelten sich Legosteine, Matchboxautos und Schachteln mit Brettspielen. Vinz sah eine Laubsäge, einige Spielzeugrevolver und Indianerfiguren aus Plastik.
»Wo sind die Cowboys?«, frage er. Die Frage fiel ins Leere.
Vinz stellte sich ans Fenster. Der Gemüsegarten war zu sehen. Vinz suchte das Fenster zu ihrem Kinderzimmer. Von hier sah es winzig aus mit seinen Gittern.
Die beiden Älteren schossen plötzlich hoch und waren schon halb draußen bei der Tür. In einem Kübel hatten sie allerlei Modellbauschiffe verstaut.
»Was macht ihr damit?«, fragte Vinz.
»Wir vergaben das als Schatz«, antwortete Fred knapp. Hannes warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Und jetzt komm mit, sonst sperren wir dich im Haus ein.«
»Ja, hier gibt es tollwütige Ratten«, fügte Hannes hinzu.
Vinz lief hinter ihnen her. Hannes schloss ab und sagte: »So, jetzt gehst du besser wieder heim zu Mami. Was wir vorhaben, ist geheim. Und gefährlich.«
»Ja. Außerdem liegt an der Mündung ein Totenkopf.«
Hannes stieß Fred in die Seite. »Fred, still.«
»An der Mündung? Ihr wollt zur Mündung? Wo ein Totenkopf liegt«, fragte Vinz aufgeregt.
»Ja. Der liegt dort schon lange«, sagte Fred. Sie spazierten los, in der Hand den Plastikkübel. Vinz setzte sich auf die Stufen vor der Haustür und starrte ihnen nach, dann fiel sein Blick auf Laika. Der riesenhafte Hund war ihm etwas unheimlich, doch er thronte mit solcher Selbstverständlichkeit auf den Stufen, dass Vinz seine Hand nach ihm ausstreckte. Unter den treuherzigen Augen trieften die Leftzen, zwischen denen respektgebietende Zähne schimmerten. Doch dann streichelte Vinz Laika am Kopf, den sie zwischen die Vorderpfoten legte. Wenn man auf ihr reiten kann, kann man auch auf ihr sitzen, schoss es Vinz und schon saß er auf ihrem Rücken. Der Riesenhund machte keinen Mucks und langsam, ganz langsam übertrug sich sein Friede auf Vinz. Die beiden Erdlinge mochten sich. Schließlich schlief Laika ein ... Vinz hatte nicht lange so gesessen, als zwei Frauenstimmen näher kamen. Die Frauen blieben direkt hinter der Haus-Ecke stehen, während sie redeten und Vinz hörte ihnen atemlos zu. Er wagte nicht, sich zu rühren.
»Ich habe sie gesehen, wie sie ihr Kind gezüchtigt hat. Nein. Züchtigen ist falsch. Zusammengeschlagen. Die Frau ist nicht ganz richtig im Hirn.«
»Wo, um Gottes willen.«
»Auf den Steinstiegen vorne.«
»Was hat denn der Kleine angestellt?«
»Fleischbein sagt, er hätte im Laden ein paar Zuckerln gestohlen.«
»Na, ja ... «
»Am Ohr ziehen und eine Predigt haben bei meinem Hannes gereicht. Doch diese Frau hat ihr Kind nicht gezüchtigt. Sie hat es regelrecht zusammengeschlagen.«
»Haben sie es gesehen?«
»Nein. Aber der Fleischbein. Er war entsetzt.«
»Wahrscheinlich sind ihr die Nerven durchgegangen. Ihr Mann soll ja ein Säufer sein ... «
»Er ist ein Säufer ... ein harter Arbeiter, aber ein Säufer.«
»Das kenne ich. Das war der meine auch. Gott hab ihn selig. Wo arbeitet der Raffwaller eigentlich?«
»Beim Gigler. Steinklopfer.«
»War er nicht lange in Deutschland?«
»Ja, ja. Da hat er den einen Sohn her. Den ältesten. Von einer Deutschen.«
»Na, ich muss wieder zurück. Wiederschaun.«
»Wiederschaun.«
Jetzt bog eine beleibte Frau mit Einkaufstasche um die Ecke. Vinz erkannte sie. Es war die Steiniger vom Gemüsegarten. Sie stutzte während Laika Vinz abschüttelte und ihr schwanzwedelnd entgegenlief. »Du bist der kleine Bruder von Fred, nicht?«
Vinz nickte.
Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie: »Sind die beiden Lausbuben im Haus?«
»Fred und Hannes sind zur Mündung gegangen.«
»Hm. Das sehe ich eigentlich nicht gern.« Sie gab Laika ein Leckerli, schloss die Tür auf und verschwand mit ihr im Haus. Vinz war schon einige Meter weit fort, als sie noch einmal herauskam und ihm einen Schokoriegel gab. Er bedankte sich und aß ihn, während er sich an den Rand der Auffahrt zu einem Stall quer gegenüber setzte. Er ließ die Schokolade auf seiner Zunge schmelzen und dachte an die beiden Heimlichtuer – und an den Totenkopf. Er sah ihn vor sich, wie er an der Mündung lag und gruselte sich. Dann gab er sich einen Ruck und marschierte über die Wiese zur Mündung. Mochten die beiden sagen, was sie wollten, er wollte den Totenkopf sehen.
Ein ferner Donnerschlag hätte ihn beinahe umkehren lassen. Es begann zu nieseln. Als er sich der Baumgruppe näherte, die die Mündung bezeichnete, sah er die beiden nicht. Sie hielten sich wohl tiefer am Ufer auf. Das Rauschen der beiden zusammenfließenden Bäche schien lauter zu werden. Der Regen wurde stärker. Durch das Rauschen hörte er plötzlich Freds Stimme.
» ... komm Roter Korsar, packen wir die Schiffe in den Sack. Das macht hier keinen Spaß mehr. Siehst du, wie die Malta steigt?!«
»Du hast recht, Hook! Die Lieser steigt auch! Lichten wir den Anker! Sonst reißt das Hochwasser noch unsere Schiffe mit!«
»Genau, Hook! Und wie sollen wir dann die Flotte der Königin bekämpfen?«
»Ja, diese alte Trampel.«
»Diese Tschonda!«
Die beiden erschienen lachend auf der Wiese und erstarrten.
Fred sah zu Hannes und fragte ihn mit verstellter Stimme: »Ein verdammter Spitzel, Roter Korsar. Was sollen wir mit ihm machen?« Doch Hannes war die Lust am Spiel vergangen. »Der Zwerg hat eine Abreibung verdient, Fred«, sagte er.
Vinz wich einen Schritt zurück. Auch Fred war zurück von seinem Schiff. Mit seiner natürlichen Stimme sagte er: »Ich nehm ihn in den Schwitzkasten.«
Mit ziemlicher Brutalität stürzte er sich auf ihn. Vinz fand sich am Boden wieder, die Wange im nassen Gras, Freds Arme um den Hals geschlungen. Er würgte ihn einmal kurz, dann ließ er ihn los.
»He, würge ihn etwas länger.«
»Er ist noch klein. Und außerdem will ich nicht, dass er petzt – hast du gehört? Kein Wort zu Mama, sonst ... «
»Fesseln wir dich an diesen Stamm«, vollendete Hannes den Satz. Vinz glaubte es ihnen und nickte betroffen. Dann gingen die beiden über die Wiese fort.
»He! Wo ist der Totenkopf!«, rief er ihnen nach. Die beiden drehten sich nicht um, doch sie sahen sich an und lachten, während der Regen das letzte trockene Stück Stoff an Vinz Sabotniks Körper durchweichte.
 



 
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