KLIRR - Ein Kind, Kapitel 15

kinAski

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15

Das neue Jahr hatte begonnen und im Kindergarten war Zeichnen angesagt. Das gefiel Vinz. Schon der einsame Spaziergang durch das Schneetreiben am Morgen hatte ihm gefallen. Er hatte eine Sturmmütze getragen und es war ein gutes Gefühl gewesen, durch den Sehschlitz die Welt zu betrachten, während man selber nicht erkannt wurde.
»Kinder. Heute zeichnen wir etwas zum Thema Natur. Das kann alles sein, ein Tier, ein Baum, eine Landschaft ... «, verkündete Tante Norma.
»Auch ein Mensch?«, fragte ein Mädchen.
»Nein«, sagte Tante Gretl. »Keine Menschen.«
»Kann ich meine Eltern zeichnen?«, meinte Seppi.
»Nein. Das sind ja auch Menschen.«
Vinz begann zu zeichnen. Zuerst Gras, und dahinter Gras, und wieder Gras, und dann einen Vogel mit langen, bleistiftdünnen Beinen und messerförmigem Schnabel, der in dieser Graslandschaft herumstand. Am oberen Blattrand platzierte er einige Wolken. Vinz fiel in dieses Bild hinein und wusste mit aller Deutlichkeit, dass der Vogel an einem Seeufer wartete, sehr einsam, und nach Fischen Ausschau hielt.
Nachdem er mit den Umrissen fertig war, begann er den Schnabel und die Flügel mit Farbe zu füllen. Er bemerkte nicht, dass Tante Gretl bereits eine ganze Weile hinter ihm stand. Erst als sie sagte: »Komm einmal, Norma, das musst du dir anschauen«, sah er kurz auf, ohne sich bei der Vollendung seines Werkes stören zu lassen. Er hörte die beiden Tanten erstaunt miteinander sprechen: »Das ist dreidimensional. Er zeichnet mit Tiefe ... «, sagte Gretl.
»Bist du die ganze Zeit bei ihm gestanden?«, fragte Norma.
»Ja. Er hat das gezeichnet. Wer sollte das sonst gezeichnet haben.«
»Du weißt, Ferdl nahm einmal eine Zeichnung seines älteren Bruders mit und hat sie für seine ausgegeben.«
»Ach, der Ferdl ... nein, schau wie lebensecht. Das bringen nur wenige Erwachsene zusammen.«
»Vinzi. Wer hat dir das Zeichnen beigebracht?«
»Niemand.«
»Komm. Hat deine Mutter mit dir gezeichnet?«
»Nein.«
»Nie?«
»Nie. Aber dein Vater ... «
»Nein. Der zeichnet nicht.«
Als die Zeichenstunde um war, nahm Norma das Blatt an sich.
»Ich hänge die Zeichnung zu den anderen. Aber morgen verschließe ich sie in meinem Schreibtisch, Vinzi. Sie ist zu schade, um aufgehängt zu werden. Wir wissen ja, die Zeichnungen werden dort manchmal heruntergerissen. Das hast du sehr, sehr schön gemacht.«
»So etwas hab ich noch nie erlebt«, sagte Gretl zu Norma im Weggehen.
Vinz begriff, dass er etwas geschaffen hatte, das die Tanten in ehrliches Erstaunen versetzt hatte, etwas, das ihnen gefiel, und wofür er gelobt wurde. Das waren Dinge, die im Verlies nicht vorkamen.
Vinz fühlte sich prächtig.
In der Vormittagspause erhielten die Kinder die Erlaubnis, im Schnee zu tollen, doch Vinz stand nur abwesend dabei, trunken von Lob.
Beim Hineingehen war Vinz der Letzte und es geschah, dass er durch einen ungeschickten Handgriff die Glastür aus einem Gelenk hievte. Schräg baumelte sie in ihrer Verankerung. Vinz machte, dass er in die Garderobe kam. Hinter ihm rief ein Mädchen sehr laut: »Was ist denn mit der Tür? Tante Gretl! Die Tür ist kaputt.«
Vinz hing in der Garderobe seine Jacke auf und schwitzte dabei Wasser und Blut. In seiner Fantasie sah er sich schon als Opfer eines Tribunals, wie der Jausenbeißer. Und dabei war er eben erst gelobt worden! Schweigen war Pflicht. Das Unwetter würde sodann an ihn vorüberziehen, wie beim Zimmerbrand. Nie würde er sagen: »Ich, Vinzent Sabotnik, habe die Tür ausgehängt und es nicht gemeldet. Ich bin böse.« Nie! Er war doch nicht völlig plemplem. Und wenn ihm Tante Gretl das Ohr ausriss. Aber warum sollte sie das? Niemand hatte sein Missgeschick gesehen.
Vinz wartete einen Moment und schlich zurück in den Spielsaal. Die Tanten waren gerade dabei, die Tür wieder einzuhebeln. Einige Kinder standen dabei und er hörte Norma sagen: »Das ist mir auch schon einmal passiert. Verrücktes Patent.« Vinz wollte schon aufatmen, als Gretl rief: »Kommt alle her, Kinder, und stellt euch vor der Tür auf.«
Vinz wurde schwarz vor Augen, doch der erste Satz der Tante lautete: »Kinder. Diese Tür ist gefährlich. Man muss sie richtig schließen. Oder richtig kippen. Macht man beides, fällt sie euch noch auf den Kopf. Also werden wir euch noch einmal genau zeigen ... «
Vinz fühlte alle Seligkeiten des noch einmal Davongekommenen.
Der Rest des Vormittags verflog rasch.
Auf dem Heimweg hatte er es nicht eilig. Die überstandene Gefahr und das schöne Lob, die plötzliche Freiheit in einen geheimnisvollen Wintertag entlassen zu werden, ließen sein Herz höher schlagen. Die anderen Kinder hatten ihn lärmend und schneeballwerfend überholt und waren fort. Er war zurückgeblieben und stand nun an der Verladerampe des Lagerhauses, unweit des Kindergartens. Es war 12 Uhr und nichts rührte sich.
Gmünd aß zu Mittag.
Vinz betrachtete seine Spuren im Schnee. Er starrte den Flocken entgegen und fragte sich, von wie weit oben sie herkamen. Er erklomm eine grüne Metalltreppe und stellte sich auf die Rampe. Ein schwacher Wind wehte vereinzelte Flocken unter das Vordach. Sie landeten lautlos auf dem Stoff seiner Jacke, größere und kleinere Sterne, die sich eine Weile hielten und dann ruckweise schmolzen.
»Schneekristalle«, hörte er Normas Stimme im Ohr. Er sprang von der Rampe und etwas ließ ihn nicht gleich heimgehen, sondern einen Umweg nehmen. Er überquerte die Maltatal-Straße und ging links zum Friedhof hinein. Dass dort sein Großvater lag, hatte ihm bisher niemand gesagt. Mit den eisernen Kreuzen und goldenen Lettern auf den Grabsteinen konnte er nicht viel anfangen. Der Tod interessierte ihn nicht. Ihm gefielen die frischen Schneekronen auf den Grabsteinen – und die Burgruine, die durch das Schneetreiben auf den Gottesacker heruntersah ...
Eine alte Frau kreuzte seinen Weg und starrte ihn an. Die Sturmmütze war unbezahlbar. Wer war der vermummte Knirps mit dem orangen Lacktäschchen, mochte sie sich fragen. Vinz sprang zum Friedhofstor hinaus und spazierte durch die beiden Malta-Tore zum Städtchen hinein. Er schlenderte zum einzigen Spielzeug-Geschäft der Stadt, blieb eine Weile davor stehen und machte sich Richtung Stadtturm auf. Er kam an dem kleinen Lebensmittelgeschäft vorbei. Die Verkäuferin mit der violetten Warze lugte gerade heraus. Ihr Blick war in den flockendichten Himmel gerichtet. Vinz blieb stehen und starrte sie an. In seiner Sturmmütze fühlte er sich unbesiegbar. Als sich ihre Blicke trafen, streckte er ihr die Zunge heraus und machte mit den Händen Eselsohren. Vinz sah, wie sich ihr Gesicht verfärbte, doch als sie die Tür öffnete, um ihm nachzusetzen, war er schon ein gutes Stück gelaufen. »Du Rotzbub, du verfluchter. Was fällt dir ein?!«, hörte er die Krähe rufen. Obwohl er sicher war, dass sie ihn nicht erkannt hatte, blieb er im Fußgänger-Durchlass des Stadtturmes einen Moment stehen und lugte vorsichtig zum Steinhaus hinab. Nein, diesmal war da kein Mensch. Friedlich lag das Haus im Schnee. Die Flocken tanzten lustig und als er über die steinerne Treppe hinabstieg, sah er sich um und hatte das Gefühl in ein Feenreich eingetreten zu sein. Eines, das ihn schützte und in dem er unangreifbar war. Niemand wollte ihm Böses und keine verwandelte Mutter fiel über ihn her. Keiner würde ihn köpfen oder hängen. Nicht auf diesem verwandelten Planeten, in dieser neuen, weißen Stadt. Vinz war so frisch und unschuldig wie seine Schritte im Schnee.

»Schritten im Schnee gleiche mein Leben
Es bezeichne die Spur, aber beflecke sie nicht ... «
 

Willibald

Mitglied
Ungemein gut in der Strukturierung des Geschehens und in der Erzähltechnik: Die rettende Welt des Malens und Zeichnens, die Bedrohungen durch Einbrechen, die Tragfähigkeit der Leistung und des Lobes.
Die magische, wenn auch labile Gegenwelt zum Verließ... Die Tragfähigkeit eines Textes, der einem Gemäldeprozess analog ist.
Greetse
ww
 

kinAski

Mitglied
@Willibald schrieb.
Ungemein gut in der Strukturierung des Geschehens und in der Erzähltechnik: Die rettende Welt des Malens und Zeichnens, die Bedrohungen durch Einbrechen, die Tragfähigkeit der Leistung und des Lobes.
Die magische, wenn auch labile Gegenwelt zum Verließ... Die Tragfähigkeit eines Textes, der einem Gemäldeprozess analog ist.
Thx für deine treffenden Worte und die dadurch bewirkte Aufmunterung der Dichterseele!

Cheers

kinAski
 



 
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