Kapitel 5: Der Hüter des Zeitschlüssels

Henry

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Kapitel 5 – Der Hüter des Zeitschlüssels

Nach dem Mittagessen legte Günter das restliche Wechselgeld auf den Küchenschrank und ging ins Wohnzimmer. Er nahm sich die Tüte mit dem Harry Potter Band, setzte sich in seinen Lieblingssessel und packte das Buch vorsichtig aus. "Wau!", sagte er, "was für ein Schinken." Wie lange er wohl in dem Buch lesen müsste, um die Stelle mit den Posteulen zu finden, dachte er, als seine Frau aus der Küche rief: "Könntest mal den Müll runter bringen, Günter. Außerdem brauche ich die Kartoffeln! Morgen gibt es Kartoffelsalat." "Klasse, endlich mal was anständiges zu Essen!", rief er zurück und legte das Buch auf den Wohnzimmertisch. Nur die Kartoffeln, die Kartoffeln… – Egal, irgendwann würde seine Frau diese schrumpeligen Nachtschattengewächse eh zu sehen bekommen. Er nahm den Mülleimer aus der Küche und ging hinter das Haus zu den Mülltonnen. Er war gerade dabei, den Müll in eine der Tonnen zu kippen, als eine kalte und rauchige Stimme hinter ihm sprach: "Guten Tag, Herr Stiller! Mein Name ist Professor Spintusi, Gregorius Spintusi, wenn ich mich vorstellen darf."
Günter erschrak, drehte sich blitzschnell um und wurde bleich im Gesicht, als er in die schwarzen Augen des Mannes blickte, die alles Licht der Umgebung zu verschlucken schienen. Dieser Mann war bestimmt zwei Meter groß, hatte lange dunkle Haare, die ihm bis über die Schulter reichten, trug einen alten schwarzen Mantel, der an den Ärmeln total verschlissen war und hielt eine große schwarze Tüte in seiner rechten Hand. Er sah einfach verboten aus.
"Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, Herr Stiller. Ich wirke meistens etwas befremdlich auf die Muggel, wenn sie mich zum ersten Mal sehen."
Günter zitterte am ganzen Körper. Hatte er gerade das Wort "Muggel" gehört? Wer war dieser Mann? Dann schoss Günter nur noch ein Gedanke im Kopf umher – Flucht! Dieser Mann musste vom Zaubereiministerium sein. Er war gekommen, um ihn zu bestrafen. Vielleicht wollte er ihn sogar mitnehmen und in ein Verließ sperren. Das Zaubereiministerium hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihm eine Eule zu schicken, waren seine Gedanken. – Nein, nein, er wollte noch nicht sterben. In Panik ließ Günter den Mülleimer zu Boden fallen und rannte so schnell er konnte zur Hausecke. Doch kaum war er dort angekommen, stand der Mann auch schon wieder vor ihm und hielt ihm, mit einem freundlichem Lächeln auf dem Gesicht, den Mülleimer entgegen.
"Den haben Sie wohl in Ihrer Eile vergessen, Herr Stiller." –
Wie war Professor Spintusi nur so schnell zur Hausecke gekommen? Das konnte nur etwas mit Zauberei zu tun haben, dachte Günter und beschloss sich in sein Schicksal zu ergeben.
"Schon gut, tun Sie mir nichts, ich ergebe mich!" sagte er mit keuchender Stimme, da er durch den kurzen Spurt, den er hingelegt hatte, völlig außer Atem war.
"Ich bin nicht gekommen, um Sie zu bestrafen, sondern im Gegenteil, ich brauche Ihre Hilfe, Herr Stiller. Beruhigen Sie sich erst einmal wieder." sagte Professor Spintusi mit rauchiger, aber warmherziger Stimme, um Günter nicht weiter in Panik zu versetzen und stellte den Mülleimer auf den Boden.
"Ich fange am besten noch einmal ganz von vorne an! – Einverstanden, Herr Stiller?" "Sie sind nicht gekommen, um mich zu bestrafen?"
"Nein!", erwiderte Professor Spintusi. "Bestimmt nicht, Günter. Ich darf doch Günter zu Ihnen sagen, oder?"
"Ja, von mir aus." erwiderte Günter mit leiser Stimme.
"Zuerst einmal, zu Ihrer Beruhigung, das Zaubereiministerium hat gestern einstimmig beschlossen, Sie nicht zu bestrafen. Man möchte sich nicht in Muggelangelegenheiten einmischen. Wir haben schon genug Probleme in den eigenen Reihen."
Günter unterbrach Professor Spintusi und fragte: "Sie meinen…, das soll heißen, dass ich nicht bestraft werde?"
"Ja, ich habe es Ihnen doch gerade gesagt, Sie sind frei!", erwiderte Spintusi. Eine zentnerschwere Last fiel von Günter ab und er atmete tief durch. Aber warum war Professor Spintusi dann gekommen, nur um ihm mitzuteilen, dass er nicht bestraft würde? Nein, das konnte er nicht glauben! Hatte Spintusi vorhin nicht davon gesprochen, dass er seine Hilfe brauche, oder hatte er sich das in all der Aufregung nur eingebildet?

Spintusi fuhr fort: "Günter, ich habe Sie aufgesucht, weil das Zaubereiministerium Ihre Hilfe braucht.…".
Günter unterbrach Spintusi abermals. "Meine Hilfe, das Zaubereiministerium bittet einen Muggel wie mich um Hilfe? Das glaube ich Ihnen nicht!"
"Lassen Sie mich doch erst einmal ausreden, Günter.", fuhr Spintusi fort. "Ich bin Wissenschaftsminister und mir obliegt das Amt für die Genehmigung und Durchführung von Zeitreisen. Außerdem bin ich der Hüter des Zeitschlüssels, oder besser gesagt, ich war der Hüter des Zeitschlüssels. Der Schlüssel wurde vorgestern Nacht aus dem Zaubereiministerium gestohlen, obwohl er von Kobolden bewacht wurde. Man hat sie einfach betäubt, was fast unmöglich ist. Wir vermuten, dass dunkle magische Kräfte sich des Schlüssels habhaft gemacht haben. Dieser Zeitschlüssel ist der einzige seiner Art, mit dem man Reisen in die Vergangenheit unternehmen kann. Es müssen mindestens drei Zauberer gewesen sein, die der schwarzen Magie verfallen sind, sonst hätten sie die Kobolde niemals überlisten können. Sie haben sich den Schlüssel geschnappt und einen Zeitsprung in die Vergangenheit ausgeführt. Glücklicherweise haben sie das Zeittor hinter sich nicht schließen können, da sie sich im Umgang mit dem Zeitschlüssel nicht richtig auskennen. Das Zeittor ist am Abendhimmel recht gut zu beobachten, wenn es pulsiert. Im Moment sind etliche Zauberer Tag und Nacht damit beschäftigt, dieses Tor mit einem Gegenzauber so klein wie möglich zu halten, damit es den Muggeln nicht auffällt. Das Zeittor kann nur mit dem Zeitschlüssel wieder geschlossen werden, der sich jetzt auf der anderen Seite befindet. Wenn diese Zauberer erst einmal herausgefunden haben, wie sie die magischen Kräfte des Zeitschlüssels missbrauchen können, dann sind sie auch in der Lage, die Zukunft zu manipulieren. Nun ist es meine Aufgabe, den Schlüssel wieder zu finden, um schlimmeres zu verhindern. Das Problem ist, dass man das Zeittor nur mit Hilfe dieses Schlüssels durchschreiten kann, bis auf eine Ausnahme! – Und hier kommen Sie und Schuuh ins Spiel, Günter. Schuuh ist als einziger in der Lage, uns durch das Zeittor zu führen.", sagte Professor Spintusi und machte eine kleine Pause.
"Zeitschlüssel – Zeitloch – Zeitreise - dunkle Kräfte – meine Schuhe?", stotterte Günter und schüttelte den Kopf, während er auf seine Pantoffeln blickte. "Wie können meine alten Pantoffeln Ihnen helfen, Professor? Sind die verzaubert?"
"Entschuldigung, Günter. Hab ich total vergessen, ich meine nicht Ihre Schuhe – können Sie ja gar nicht wissen, ich meine Ihren Regenschirm, Ihren magischen Regenschirm, der heißt Schuuh.", lächelte ihn Spintusi an.
"Mein Regenschirm hat einen Namen, heißt Schuh…".
Spintusi unterbrach Günter, "Nicht Schuh, sondern Schuuh, so heißt er!"
"Also gut, Schuuh, heißt mein Schirm und er besitzt magische Kräfte und ich soll mit Ihnen durch ein Zeittor gehen, das böse Magier geöffnet haben, um den Zeitschlüssel wieder zu beschaffen! Habe ich das soweit richtig verstanden, Professor?", fragte Günter und sah Spintusi mit einem ungläubigen Blick an.
"Sie haben es erfasst, Günter."
Günter grinste, da er das ganze immer noch für einen Scherz hielt und sagte: "Dann wird es wohl das Beste sein, wenn ich Ihnen den Schirm hole und Sie mich dann in Ruhe lassen!"
"So einfach ist es nicht, Günter!", fuhr Spintusi mit sorgenvoller Mine dreinblickend fort. "Ich werde mit Schuuh kaum etwas anfangen können, er wird mir nicht gehorchen!".
"Warum, Sie sind doch Zauberer? Ich weiß es ganz bestimmt nicht, wie ich meinem Regenschirm magische Kräfte entlocken kann, Professor!", warf Günter ein.
"Das werde ich Ihnen schon zeigen. Sie können Schuuh mit einem Hauselfen vergleichen.", fuhr Spintusi fort. "Er ist seinem Meister ein Leben lang treu und befolgt nur dessen Anweisungen, nur Sie selber können mit Schuuh richtig umgehen, er hört nur auf Sie. – Deshalb bitte ich Sie, mich zu begleiten, Günter. Wir müssen diesen Schlüssel unbedingt zurück holen, damit die Zukunft aller, die auf diesem Planeten leben, nicht zerstört wird. Wenn die dunkeln Kräfte, die den Schlüssel gestohlen haben, erst einmal herausgefunden haben, wie sie die Zukunft manipulieren können, dann sind unser aller Tage gezählt. – Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter wäre niemals geboren worden…"
"Schon gut, ich habe verstanden!", unterbrach ihn Günter, der jetzt sehr nachdenklich wirkte und sich mit dem Rücken an die Hauswand lehnte.
"Lassen Sie mich überlegen, Professor."
Eine seltsame Stille trat ein. Günter musterte Spintusi. So ein kleines Abenteuer wäre doch eigentlich eine willkommene Abwechslung in seinem tristen Rentnerleben. Jeden Tag alleine durch den Wald zu spazieren und einmal die Woche Kartoffeln kaufen, das konnte es ja auch nicht sein. Und wenn Professor Spintusi mit den dunklen Mächten Recht hatte, wovon er mittlerweile überzeugt war, dann könnte er genau so gut durch dieses Zeitloch gehen. Angst bräuchte er bestimmt keine zu haben, mit einem Zauberer wie Professor Spintusi an seiner Seite, zumal der nicht nur zaubern konnte, sondern allein schon durch sein Aussehen jeden einzuschüchtern vermochte, dachte Günter.

"OK, ich mache es, ich komme mit, Professor. Ich wollte schon immer mal Indiana Jones spielen.", sagte Günter mit einem ironischen Unterton, um sich selber Mut zu machen. "Ich kann mir schon die Schlagzeile in der Zaubererwoche vorstellen: <Professor Spintusi mit Rentner auf der Jagd nach dem Zeitschlüssel verschollen!>", fügte Günter hinzu.
"Ich danke Ihnen, Günter. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, uns wird schon nichts passieren, wir haben schließlich Schuuh dabei.", sagte Spintusi, der sich nun merklich unwohl fühlte in seiner Haut, als hätte er Günter etwas verschwiegen.

"Und wie geht es jetzt weiter, Professor?", fragte Günter.
"Ich muss erst einmal ein paar Vorbereitungen treffen, bevor wir den Zeitsprung wagen können, ich habe noch keinen geeigneten Ort gefunden. Außerdem müssen Sie die Grundlagen im Umgang mit magischen Schirmen beherrschen, Günter. Ich habe Ihnen ein Buch mitgebracht, das Sie lesen sollten." Professor Spintusi öffnete die große schwarze Tüte, die er immer noch in der Hand hielt und nahm ein in schwarzes Leder gebundenes Buch heraus. Günter las den Titel:

Über den korrekten Umgang
mit magischen Regenschirmen
und deren Handhabung
(Kurzlehrgang für Anfänger)

Spintusi gab Günter das Buch und steckte die leere Tüte in eine seiner Manteltaschen. "Das beste wird sein," fuhr Spintusi fort, "Sie nehmen Schuuh, suchen sich ein einsames Plätzchen und fangen noch heute an zu üben! – Vielleicht im Badezimmer, schließen Sie sich einfach ein und entdecken Sie die Geheimnisse Schuuhs, den Rest, den Sie noch wissen müssen, werde ich Ihnen bei unserem nächsten Treffen beibringen!
Ich würde vorschlagen, wir treffen uns morgen Nachmittag zur gleichen Zeit, hier bei den Mülltonnen wieder, wenn es Ihnen Recht ist, Günter?"
"Einverstanden, Professor!", erwidert Günter in strammem Ton, als hätte man ihn soeben zum Oberfeldwebel ernannt.
"Und Günter, bitte tun Sie mir einen Gefallen, nennen Sie mich nicht immer Professor, das klingt so förmlich. Nennen Sie mich einfach Gregorius und stramm stehen brauchen Sie vor mir auch nicht.", lächelte Spintusi.
"Jawohl…, ich meine – OK, Gregorius."

Der Professor blickte kurz in den Himmel und sagte: "Es ist spät geworden, ich muss langsam zurück in das Ministerium. Ihre Frau wird Sie bestimmt auch schon vermissen." Günter schaute kurz auf seine Uhr und erwiderte: "Oh, ja, ich muss hoch!" Professor Spintusi verabschiedete sich mit einem Händedruck und ging dann die Straße hinunter. Günter schaute ihm noch eine Weile nachdenklich nach, bis Spintusi schließlich am Ende der Straße in den Bus stieg.
Sieh mal an, Zauberer fahren sogar Muggelbus, murmelte Günter, als er den Mülleimer nahm und sich auf den Weg zur Garage machte, um die Kartoffeln zu holen. Er steckte die Kartoffeln in den Mülleimer und ging dann hoch.

Er öffnete hastig die Wohnungstür, stellte den Mülleimer und das Buch auf den Boden und rief laut: "Ich bin es, Schatz, hab ein bisschen länger gebraucht. Die Mülltonnen sind schon wieder alle voll, war gar nicht so einfach, den Müll noch unter zu bringen."
"Ich bin im Badezimmer, Schatz, und nehme gerade ein Bad, ich kann dich kaum verstehen!", hallte es durch den Flur. Sehr gut, dachte Günter, dann hatte er jetzt jede Menge Zeit Schuuh zu untersuchen, denn so ein Bad konnte bei seiner Frau schon einmal zwei Stunden dauern. Dann kniete er sich auf den Boden nieder und schaute misstrauisch in die Ecke, wo sein alter Regenschirm stand. Mit prüfendem Blick starrte er ihn an. Dies soll ein Regenschirm sein, der magische Kräfte besitzt? Er sieht doch aus wie ein ganz normaler Regenschirm, der zugegeben in all den Jahren etwas verschlissen war. – Den Zauberern helfen, nur weil er diesen Schirm besaß und kein anderer mit ihm umzugehen vermochte, da magische Schirme ihren Herren auf Lebzeiten treu waren, so ähnlich wie Elfen?

"Hallo, Schuuh", sagte Günter leise und war gespannt, was wohl als nächstes passieren würde.
 



 
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