Kleines Blau

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Katharina M

Mitglied
Kleines Blau, ich liebe dich!

Das steht auf einem grauen Kasten vor dem Mainfranken Theater in Würzburg.
Du würdest niemals zugeben, dass du das geschrieben hast, aber ich habe dich an der Schrift erkannt.
Ich sehe dich vor mir, wie du in deiner fleckigen, ausgefransten Stofftasche kramst und dann die Spraydose herausholst. Nervös siehst du dich um, nach rechts, nach links, über die Schulter. Nicht nötig, unter der Woche ist die Innenstadt um 23.30 Uhr wie ausgestorben. Außerdem bist du gut getarnt mit deiner dunklen Jeans und dem schwarzen Sweatshirt, dessen Kapuze du dir tief über die Stirn gezogen hast. Du schüttelst die Dose, sprühst kurz in die Luft und dann auf den Kasten...
Am nächsten Tag wache ich wie gewohnt neben dir auf. Das Fenster zeigt einen Himmel, der schon seit Tagen gleich aussieht. Wie einbetoniert, keine erkennbaren Wolken, nicht einmal Regen.
Ich sehe zu dir. Du siehst schön aus, während du schläfst, fern und entrückt. Ich streichel dir die Locken aus dem Gesicht und schmiege meine Wange an deine, küsse dich sacht. Von hinten kuschel ich mich an deine schlaftrunkene Wärme und sauge den Duft ein, der aus deinem Nacken steigt.
Das ist dein Morgen. Er ist blau. Du schenkst ihn mir.
Dich fest in meinen Armen haltend, schlafe ich noch einmal ein.


Kleines Blau, ich liebe dich!


Eine riesige Python öffnet ihr Maul, verschlingt uns beide, ohne dass wir es merken. Hand in Hand liegen wir in ihrem Rachen und die Zeit rauscht in der Dunkelheit an uns vorbei. Jahre später sehe ich ein Stück Himmel durch die Zahnzwischenräume blitzen. Plötzlich verstehe ich alles: Wo ich bin, wo wir sind und dass ich hier nicht sein möchte.

Wir machen Urlaub.
Drei Wochen am Strand, in einem kleinen Ferienort an der Algarve. Es ist unser Paradies. Dir gehört ein Stück des Strandes und ich bin die Frau an deiner Seite. Wir können uns ausbreiten, so weit wir wollen. Wir können drei Sonnenschirme auf einmal besetzen und fünf Liegen zu einem riesigen Bett zusammenstellen. Wir können andere von ihrem Strandlager vertreiben und Unsummen an Geld von ihnen eintreiben für ein bisschen Schatten. Wir haben uns ein aufblasbares Krokodil gekauft, um das uns die Kinder beneiden. Schnappinho bewacht unser Domizil.
Der Himmel ist tagsüber immer strahlend blau. Du schenkst mir ein weißes Kleid. Damit renne ich über den Strand und spiele Wolke.

Nachts ist der Himmel von Sternen übersät. Vom Meer sieht man nur den äußeren Rand, wie es an der Küste leckt. Rauschende, schwarze Dunkelheit umgibt uns. Wir haben uns aus Liegestühlen und Handtüchern ein kleines Zelt im Sand gebaut. Wir trinken aus einer großen Flasche süßen Portwein und werden müde und schwer. Es ist feucht und kalt, aber wir frieren nicht.

Über mein Pinselauswaschglas hinweg sehe ich den atlantischen Ozean. Mit Aquarellfarben will ich ihn malen. Ich bin ziemlich verzweifelt. Ich löse Farbe im salzigen Wasser auf, kippe das Gemisch über mein Papier und wische mit den Fingern darin herum. Dann streue ich Sandkörner darauf. In der Sonne ist das Papier sehr schnell getrocknet, die Farbe darauf verblasst, bleibt aber auf den Steinchen hängen. Hunderte blaue Sandkörner werden nach und nach vom Wind davon getragen. Wenn sie Samen wären, wäre die Welt irgendwann ein großes Feld. Ich würde nur noch Blau sehen. Das wäre wirklicher, als immer nur das Meer. Das Meer ist auch nur ein Spiegel für den Himmel. Dich sehe ich darin nie.

Vom Flugzeug aus blicke ich über das portugiesische Festland. Viel Braun, karges, sprödes Land. Dazwischen Häusergruppen, leuchtend weiß. Plötzlich ein kleines blaues Viereck: Ein Swimmingpool. Du liegst dort träge auf einer Luftmatratze und blinzelst mit müdem, zufriedenen Blick zum wolkenlosen Himmel. Gedankenlos siehst du dabei zu, wie mein Flugzeug eine dicke, weiße Spur hinterlässt und wie sie sich wieder auflöst.
Ein Schriftzug, über den du nicht nachdenkst, den du nicht lesen kannst, der für dich nichts aussagt.

Merlin – das sind sechs Buchstaben. Dein Name mit Tinte geschrieben ist magisch. Ich kröne dich mit dem M, auch wenn sich eund r genieren. Das ist mir gleich. l und i bezirzen mich, bilden einen Laut, den ich singen will: li li li li li li li li li lililililiiiiiiiii lili li li li li lililiiiiiiiiii li li!

Und das n ist das ungeliebte Ende. Ich unterschlage es, trenne es ab vom Rest des Namens. Es fällt unter den Tisch, verschwindet dort. Auf meinem Papier bestimme ich über unser Zusammensein.

Kleines Blau, ich liebe dich!

Ich weiß, dass das mal da stand, auf dem grauen Kasten vor dem Mainfranken Theater in Würzburg. Man sieht auch jetzt noch ein wenig von der Farbe. Du hast das gesprüht, heimlich.
Ich weiß nicht, warum.
 
hallo!

gefällt mir sehr gut! er hat eine schöne atmosphäre, dein text.

mein vorschlag wäre, folgende absätze zu streichen:
Merlin – das sind sechs Buchstaben. Dein Name mit Tinte geschrieben ist magisch. Ich kröne dich mit dem M, auch wenn sich eund r genieren. Das ist mir gleich. l und i bezirzen mich, bilden einen Laut, den ich singen will: li li li li li li li li li lililililiiiiiiiii lili li li li li lililiiiiiiiiii li li!

Und das n ist das ungeliebte Ende. Ich unterschlage es, trenne es ab vom Rest des Namens. Es fällt unter den Tisch, verschwindet dort. Auf meinem Papier bestimme ich über unser Zusammensein.
durch die dadurch entstehende unmittelbare nähe zwischen "Ein Schriftzug, über den du nicht nachdenkst, den du nicht lesen kannst, der für dich nichts aussagt." und "Kleines Blau, ich liebe dich!" gewinnt der abschlusssatz in meinen augen an bedeutung.
mag aber natürlich sein, dass es an deiner intention vorbeigeht ...

so oder so: gern gelesen.

lg
 
J

justooktavio

Gast
ja, mir hat das auch sehr gut gefallen.
am anfang, das exakte 23:30 hat mich aber ein wenig aus dem sonst sphärisch wieder rausgehoben. Ich weiß nicht ob das so von dir gewollt war, aber ich fände ein ... unter der Woche ist die Innenstadt am Abend wie ausgestorben ... glaube ich ein wenig passender... zumindest für mich :)
aber es ist an sich wirklich schön!!
 

Katharina M

Mitglied
Hallo,
Erstmal danke für eure Kommentare. Ich freue mich sehr über jede Art von Feedback.
Und ich stimme bei beidem zu, dass der Text an Intensität gewinnt, wenn ich die Änderungen übernehme. Die Passage mit dem Namenszug lasse ich allerdings trotzdem drin, weil ich sie inhaltlich wichtig für den Text finde. Das Große, also die Spur des Flugzeugs am Himmel soll so mit dem sehr intimen Vorgang des Schreibens der Erzählerin verbunden werden.
Die Uhrzeit ist in der Tat unwesentlich und kann rausgenommen werden.
Toll, sich so mal über die eigenen Texte austauschen zu können!
LG
Katharina
 

Katharina M

Mitglied
Kleines Blau, ich liebe dich!

Das steht auf einem grauen Kasten vor dem Mainfranken Theater in Würzburg.
Du würdest niemals zugeben, dass du das geschrieben hast, aber ich habe dich an der Schrift erkannt.
Ich sehe dich vor mir, wie du in deiner fleckigen, ausgefransten Stofftasche kramst und dann die Spraydose herausholst. Nervös siehst du dich um, nach rechts, nach links, über die Schulter. Nicht nötig, unter der Woche ist die Innenstadt kurz vor Mitternacht wie ausgestorben. Außerdem bist du gut getarnt mit deiner dunklen Jeans und dem schwarzen Sweatshirt, dessen Kapuze du dir tief über die Stirn gezogen hast. Du schüttelst die Dose, sprühst kurz in die Luft und dann auf den Kasten...
Am nächsten Tag wache ich wie gewohnt neben dir auf. Das Fenster zeigt einen Himmel, der schon seit Tagen gleich aussieht. Wie einbetoniert, keine erkennbaren Wolken, nicht einmal Regen.
Ich sehe zu dir. Du siehst schön aus, während du schläfst, fern und entrückt. Ich streichel dir die Locken aus dem Gesicht und schmiege meine Wange an deine, küsse dich sacht. Von hinten kuschel ich mich an deine schlaftrunkene Wärme und sauge den Duft ein, der aus deinem Nacken steigt.
Das ist dein Morgen. Er ist blau. Du schenkst ihn mir.
Dich fest in meinen Armen haltend, schlafe ich noch einmal ein.


Kleines Blau, ich liebe dich!


Eine riesige Python öffnet ihr Maul, verschlingt uns beide, ohne dass wir es merken. Hand in Hand liegen wir in ihrem Rachen und die Zeit rauscht in der Dunkelheit an uns vorbei. Jahre später sehe ich ein Stück Himmel durch die Zahnzwischenräume blitzen. Plötzlich verstehe ich alles: Wo ich bin, wo wir sind und dass ich hier nicht sein möchte.

Wir machen Urlaub.
Drei Wochen am Strand, in einem kleinen Ferienort an der Algarve. Es ist unser Paradies. Dir gehört ein Stück des Strandes und ich bin die Frau an deiner Seite. Wir können uns ausbreiten, so weit wir wollen. Wir können drei Sonnenschirme auf einmal besetzen und fünf Liegen zu einem riesigen Bett zusammenstellen. Wir können andere von ihrem Strandlager vertreiben und Unsummen an Geld von ihnen eintreiben für ein bisschen Schatten. Wir haben uns ein aufblasbares Krokodil gekauft, um das uns die Kinder beneiden. Schnappinho bewacht unser Domizil.
Der Himmel ist tagsüber immer strahlend blau. Du schenkst mir ein weißes Kleid. Damit renne ich über den Strand und spiele Wolke.

Nachts ist der Himmel von Sternen übersät. Vom Meer sieht man nur den äußeren Rand, wie es an der Küste leckt. Rauschende, schwarze Dunkelheit umgibt uns. Wir haben uns aus Liegestühlen und Handtüchern ein kleines Zelt im Sand gebaut. Wir trinken aus einer großen Flasche süßen Portwein und werden müde und schwer. Es ist feucht und kalt, aber wir frieren nicht.

Über mein Pinselauswaschglas hinweg sehe ich den atlantischen Ozean. Mit Aquarellfarben will ich ihn malen. Ich bin ziemlich verzweifelt. Ich löse Farbe im salzigen Wasser auf, kippe das Gemisch über mein Papier und wische mit den Fingern darin herum. Dann streue ich Sandkörner darauf. In der Sonne ist das Papier sehr schnell getrocknet, die Farbe darauf verblasst, bleibt aber auf den Steinchen hängen. Hunderte blaue Sandkörner werden nach und nach vom Wind davon getragen. Wenn sie Samen wären, wäre die Welt irgendwann ein großes Feld. Ich würde nur noch Blau sehen. Das wäre wirklicher, als immer nur das Meer. Das Meer ist auch nur ein Spiegel für den Himmel. Dich sehe ich darin nie.

Vom Flugzeug aus blicke ich über das portugiesische Festland. Viel Braun, karges, sprödes Land. Dazwischen Häusergruppen, leuchtend weiß. Plötzlich ein kleines blaues Viereck: Ein Swimmingpool. Du liegst dort träge auf einer Luftmatratze und blinzelst mit müdem, zufriedenen Blick zum wolkenlosen Himmel. Gedankenlos siehst du dabei zu, wie mein Flugzeug eine dicke, weiße Spur hinterlässt und wie sie sich wieder auflöst.
Ein Schriftzug, über den du nicht nachdenkst, den du nicht lesen kannst, der für dich nichts aussagt.

Merlin – das sind sechs Buchstaben. Dein Name mit Tinte geschrieben ist magisch. Ich kröne dich mit dem M, auch wenn sich e und r genieren. Das ist mir gleich. l und i bezirzen mich, bilden einen Laut, den ich singen will: li li li li li li li li li lililililiiiiiiiii lili li li li li lililiiiiiiiiii li li!

Und das n ist das ungeliebte Ende. Ich unterschlage es, trenne es ab vom Rest des Namens. Es fällt unter den Tisch, verschwindet dort. Auf meinem Papier bestimme ich über unser Zusammensein.

Kleines Blau, ich liebe dich!

Ich weiß, dass das mal da stand, auf dem grauen Kasten vor dem Mainfranken Theater in Würzburg. Man sieht auch jetzt noch ein wenig von der Farbe. Du hast das gesprüht, heimlich.
Ich weiß nicht, warum.
 



 
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