Koma

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Anonym

Gast
Aufwachen war das falsche Wort für das, was mit mir passierte. Denn ich hatte ja gar nicht geschlafen. Wo ich war? Ich kann es nicht sagen. Ich habe gefühlt. Ich habe gesehen. Ich habe Gerüche wahrgenommen, Wärme, Kälte, Helligkeit und Dunkelheit. Aber ich konnte nichts benennen aus der äußeren Welt, und nichts war greifbar. Auch konnte ich mich nicht bewegen. Es müssen die Strahlen der Sonne gewesen sein oder eine warme, weiche Stimme oder auch die Bewegungen in meinem Inneren. Aber erst einmal gab es kein Inneres, so wie es kein Äußeres gab. Farben und Töne, heiß oder kalt, auch Glück oder Unglück. Schmerz und Behagen. Ich wusste nichts und es gab kein woher oder wohin.

Anfangs gab es nur grau und etwas wie eine Wattewand, die es verhinderte, dass die Töne zu mir drangen. Ich weiß nichts über das ‚Wie lange’ dieses Zustands, es könnten Tage gewesen sein, Wochen oder auch Monate. Jahre nicht, aber das weiß ich erst jetzt. Irgendwann wurden die Geräusche lauter, etwas drang zu mir, mir wurde wohler. Es war eine Stimme, die ich kannte, die mir vertraut war. Ich spürte Berührung und bis jetzt weiß ich nicht, hat mich da jemand gestreichelt oder war es mein Sohn, der mich begrüßte. Im Bauch, am Kopf oder in der Phantasie. Wenn man es denn Phantasie nennen kann, was da in mir passierte. Immer wieder erlebte ich, wie ein schwarzes Etwas rasend schnell auf mich zuschoss und ich verspürte einen stechenden Schmerz. Anfangs schob sich meist recht schnell die Wattewand dazwischen. Später sah ich dann immer wieder ein Gesicht. Es war ein Junge, vielleicht 14 und ich kannte ihn. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Zuerst nahm ich ihn nur ganz kurz wahr. Dann wurden die Augenblicke immer länger und die Gesichtszüge veränderten sich. Manchmal wurde daraus das Gesicht einer jungen Frau. Sie lachte und zeigte dabei eine ganze Reihe sehr weißer Zähne. Weiß und vorstehend. Dann wieder wurde der Junge in rasendem Tempo zum alten Mann. Ich spürte, dass das nicht stimmte. Er war tot, nie würde er so alt werden. Dann ein anderes Männergesicht. Vertrautheit und Sehnsucht. Aber das erschien selten. Ein verwilderter Garten mit Pflanzen. Der Duft von Rosen. Wahrscheinlich standen diese gerade neben meinem Bett in einer Vase. Doch ich sah eine Rosenhecke, im Garten meiner Kindheit.

Mein Vater tauchte auf und ich wollte sagen: Du bist doch tot. Aber es ging nicht. Ich konnte es nicht einmal denken. Wie konnte ich wissen, dass es mein Vater war? Wieder ein brennender Schmerz in meinem Kopf. Mit der Zeit verschwand die Wattewand. Ich sah eine nackte Gestalt mit großen Brüsten und einem mächtigen Glied auf mich zukommen. Die Gestalt schwenkte ihren Penis wie eine Waffe, verschwand dann aber sehr schnell wieder. War die auch tot? Konnte ich nur Totes sehen? Es war, als ob sich alles immer wieder in Luft auflöste, ein ständiges Erscheinen und Verschwinden. Immer wieder erschienen auch Gegenstände aus dem Krankenzimmer. Der Tropf an dem ich hing, dieser gefüllte Plastikbeutel. Aber ich konnte das alles nicht benennen, es stürzte sich auf mich. Die weiße Decke verschob sich und kam immer näher auf mich zu. Ich bekam Angst, zerdrückt zu werden.

Dann war ich noch einmal in einer anderen Welt. Es war wie ein Traum und doch denke ich noch heute, dass diese Welt existiert, nicht nur in meinem Kopf. Diesmal war es eindeutig ein nackter Mann, der mir gegenüberstand. So nah, dass ich ihn gerade nicht mehr anfassen konnte. Aber anschauen, immer wieder. Unaufhörlich redete er wie beschwörend auf mich ein. Er veränderte sich in rasender Geschwindigkeit. Mal war er blond, mal dunkelhaarig. Die Größe änderte sich, die Stimme und die Figur. Anfangs konnte ich zusehen, wie er dicker oder dünner wurde, wie das Gesicht immer neue Formen annahm ebenso wie der Schwanz. Die Nase wurde kürzer, der Schwanz dicker, länger und krümmte sich. Die Haare wurden heller und voller, dann dunkel und kraus. Irgendwann veränderte sich alles immer schneller, und es war, als beobachtete ich eine Diashow. Bilder, Bilder und immer mehr Bilder, die sich in rasender Folge abwechselten. Es hörte überhaupt nicht mehr auf. Schwindel ergriff mich und mir wurde schlecht wie bei einer Achterbahnfahrt. Schließlich verlangsamte sich alles wieder, die Haut des Mannes nahm einen goldenen Ton an, seine Ohrläppchen wurden lang, das Gesicht rund und faltig. Jetzt glich er einer Buddhafigur, die bei Leo im Regal stand. Nur, dass ich eine solche Buddhafigur noch nie stehend gesehen hatte. Das hintergründige Lächeln beruhigte mich. Ich schien mit ihm zu verschmelzen, jetzt war er ich und ich war er. Sehr bald ergriff mich Panik und mein Herz pochte wild. Ein Geruch von altem Schweiß lag in der Luft. Gefühle von Scham und Ekel wechselten ab mit einem merkwürdigen Stolz, zwei zu sein und alt und jung gleichzeitig, aufzugehen im Universum.

Dann schlüpfte ich aus ihm heraus wie eine Larve, entschwand leise und unbemerkt. Ich hatte ihm die Seele gestohlen. Wieder stellte ich mich auf den Platz ihm gegenüber und schaute ihm direkt ins Gesicht. Er zerfiel zu Staub. Eine Handvoll Goldstaub auf dem Boden, die ich triumphierend mit den Händen zusammenkehrte. Immer wieder hob ich etwas davon auf und verteilte ihn zuerst auf meinen Brüsten, dann auf dem Bauch und schließlich auf dem ganzen Körper. Meine Haut nahm ihn auf wie eine wärmende Creme und während ich ihn einrieb, durchströmte mich ein Glücksgefühl. Ein grauer, verhangener Himmel tauchte auf, durch den ein Jumbo-Jet flog.

Dann schien ich fast zu ersticken. Ich sah nur noch weiß vor mir und ein blendendes Licht. Vor Schmerz schrie ich laut auf und meine Stimme schien sich in meinem Inneren zu vervielfachen. Ich stürzte in einen engen Schacht, in rasender Geschwindigkeit fiel und fiel ich, meine Haut schruppte an den Schachtwänden entlang und wurde wie mit Sandpapier abgerieben. Ich fiel in eine andere Welt, die nur Schmerz war, ein dunkles, eisiges Loch und eine gleißend helle, unendlich weite Wüste, in der ich versank, von dröhnendem Lärm und einer erstickenden Stille gleichzeitig umgeben. Meine Haut brannte wie Feuer.

In der wirklichen Welt waren meine Schreie nicht zu hören. Aber es muss der Zeitpunkt gewesen sein, als mein Kreislauf zusammen brach. Als ich aus diesem Zustand zurückkam, konnte ich zum ersten Mal meinen Körper wieder als etwas anderes, so etwas wie einen Gegenstand oder ein Instrument spüren. Ich konnte spüren, dass es da einen Luftzug vom Fenster gab. Ich konnte auch fast schon wieder denken: dies ist ein Luftzug, da gibt es ein Fenster. Das da oben an der Decke ist eine Lampe. Ich kehrte in die Welt mit den Gegenständen zurück. Noch nicht in die mit den Menschen, dafür war es noch zu früh.

Ich betrachtete alles, als wäre es das erste Mal und eine Heiterkeit überkam mich. Die Wahrnehmungen entzückten mich. Ich berauschte mich an der Form der Deckenlampe, am Weiß des Heizkörpers, an dem glitzernden Chrom des Tropfes, an dem ich hing. Das samtene Gelb der Rosen sog ich in mich ein, im Glanz des Wasserglases ertrank ich. Sehen war wunderbar. Aber es gab auch eine Verlorenheit und Sehnsucht. Sehnsucht nach dem Buddha? Oder Sehnsucht nach dem Goldstaub? Oder war das alles das gleiche?
Ich spürte die Wärme seiner Hand auf meinem Bauch. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass es ein Zurück geben könnte. Er roch so vertraut und er war da, ganz bei mir. Ich konnte zurück, langsam sah ich immer öfter die Brücke. Aber lange flüchtete ich immer wieder vor der Kälte, die ich im Außen spürte zurück in meinen warmen Kokon von Sehen, Empfindungen und Phantasien.

Doch dann war ich wieder in dieser Welt, die man die reale nennt. Obwohl mich ab und zu etwas entführte, zurück in diesen anderen Zustand. Das wurde aber immer seltener und kürzer. Das Wahrnehmen von Menschen und Bewegung fiel mir anfangs noch schwer. Auch hatte ich das Gefühl, dass meine Haut noch so verletzlich war wie meine Seele.

........

Ein paar Wochen war alles gut, aber dann glitt ich wieder in die andere Welt hinüber. Noch konnte ich das alles nicht aushalten. Noch einmal überfielen mich die Phantasien und die Wahrnehmungen, distanzlos, diesmal schüttelte es mich durch ohne die Möglichkeit der Flucht. Dabei hätte ich so gern Stille um mich herum gehabt. Ich stürzte in einen Tunnel. An dessen Ende schien ein gleißend helles Licht auf. Sehen schmerzte plötzlich. Am Ende des Tunnels tauchte ich in die Helligkeit, ich hätte schreien können.

Wieder wurde alles anders. Ich befand mich auf dem Dach eines Hochhauses und schaute herunter. 20 Stockwerke, der Sog in die Tiefe, ich würde mich fallen lassen. Ich würde am Boden zerschellen, aber vorher würde ich fliegen. Ich trat näher an den Rand und da war sie plötzlich, die Wand aus Glas. Undurchdringlich, und Verzweiflung packte mich. Ich versuchte es nach allen vier Seiten, aber es war nichts zu machen. Und plötzlich wusste ich, dass ich gar nicht auf einem Hochhausdach stand sondern dass ich in einen Spiegel schaute. Die Weite und Tiefe, das war alles in mir. Eine tiefe Mutlosigkeit überfiel mich und die Spiegelwände rückten immer näher. Grell waren die Farben jetzt, die Schlucht ein schmutziges Braun, das Blau des Himmels so pastellig wie ein Cadillac aus den 50ern. Vor dem blaugrauen düsteren Wolkenband schwebte eine Barbiepuppe mit einem künstlichen Lächeln auf den hellrot geschminkten Lippen. Ein Gewitter stand kurz bevor.

Ken und Barbie dachte ich, immer nur Ken und Barbie. War das alles, was sich je zeigen würde? Eine mächtige entwurzelte Eiche schwebte durch die Luft in rasendem Tempo auf Barbie zu. Sie glitt durch deren Körper hindurch ohne dass es zu einem Zusammenstoß kam. Plastik und Holz, unterschiedliche Zeiten, unterschiedliche Stoffe. In den Ästen der alten Eiche hingen benutzte Kondome, von denen sich einzelne immer wieder nach außen stülpten und entleerten. Das Sperma lief über die Spiegel und bildete Rinnsaale auf dem Boden. Schon nach kurzer Zeit stand ich bis zu den Knöcheln in Sperma. Mich ergriff die Panik. Hier würde ich keinen Schritt mehr machen können, ohne auszugleiten.

Plötzlich stand meine Mutter neben mir und lachte. „Es ist wie bei dem Marquis de Sade, alles so schlüpfrig“ sagte sie. Ich schrie sie an: „Du bist schuld an allem, was willst Du jetzt hier?“ „Halt Dich an mir fest, irgendwie musst Du doch hier rauskommen“. Dann nahm sie mich huckepack und watete sicher durch die Spermafluten. Sie trug schwarze Gummistiefel, die ihr bis über die Knie reichten. „So viele Kinder sind das hier, so viele Kinder“ sagte sie immer wieder. Ohne Mühe glitten wir durch die Spiegelwand und befanden uns in einem dunklen, trockenen Flur, der durch eine Reihe von Kandelabern an den Wänden erleuchtet wurde. „Gleich geb ich Dich bei Deinem Vater ab.“ Sie schien das ungeheuer lustig zu finden, denn sie kicherte unentwegt vor sich hin. Unbemerkt glitt ich von ihrem Rücken. Kichernd lief sie immer weiter den Flur entlang.

Als ich jetzt wieder zurückfand in die sogenannte Realität, war alles anders. Ich wusste, jetzt würde es gehen, ich würde es schaffen. Eine seltsame Ruhe und Gelassenheit erfüllten mich.
 

anemone

Mitglied
gut zu wissen,

wie man sich in solch einer Situation fühlt. Waren Drogen mit daran Schuld? Ein Mittel im Tropf?
 

Anonym

Gast
Vielen Dank für Deine Rückmeldung, Anemone!

Nein, Drogen waren nicht im Spiel. Dies ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text, die Protagonistin fällt nach einem Schock ins Koma, der durch einen Unfall ausgelöst wurde. Ich habe bei verschiedenen Koma-Patienten recherchiert und möchte jetzt im Grunde wissen, ob sich der Ausschnitt glaubwürdig liest und ob es konsistent ist oder eher absurd wirkt.

A.
 

Inu

Mitglied
Hallo anonymous

Für mich wirkt der Text sehr glaubwürdig, so können Menschen im Koma es bestimmt erleben. Du hast alle Einzelheiten gut beschrieben, vielleicht etwas zu ausführlich.

Diese inneren Erlebnisse während des Komas, auf der Schwelle zum Jenseits, wie Du sie hier schilderst, tun aber meines Erachtens eines nicht: Sie bringen den Patienten geistig und erkenntnismäßig fürs wieder auf ihn zukommende Alltagsleben nicht wirklich weiter, wie du am Schluss der Geschichte suggerieren willst.

Die Barbiepuppen, die kichernde Mutter, das Sperma...und und und... erinnert einfach an wirre, zufällige Träume. Eine Botschaft, eine Erkenntnis seh ich da keine.

Liebe Grüße
Inu
 

Anonym

Gast
Liebe Brigitte,

vielen Dank für die Rückmeldung, es freut mich, zu hören, dass der Text scheinbar stimmig rüberkommt.

Liebe Inu,

auch Dir vielen Dank fürs Lesen und die positive Rückmeldung. Und Du hast recht,das mit der 'Entwicklung' ist so ein Problem. Obwohl ich es von einigen Seiten gehört habe, dass Menschen im Koma das teilweise so wahrnehmen, dass es für sie eine Entwicklung ist, die ihnen da auch wider herasugeholfen hat.

Nur: wie das im Text umsetzen, ohne dass es platt und gewollt wirkt? Ich werde darüber nachdenken.

A.
 



 
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