Lesung

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Anonym

Gast
Als er den Raum betrat, sah er zu Boden, als müsste er seine Füße beim Gehen kontrollieren dabei war es doch etwas, was er bestimmt schon hunderte Male erledigt hatte.
Er betrat das kleine Podest, das gerade eben Platz für ein Tischchen samt Sessel bot, setzte sich und fing sofort zu lesen an. Die Lacher der Gäste schien er nicht zu hören, den Applaus zwischen den vorgetragenen Texten nahm er scheinbar gleichgültig hin, er entlockte ihm keine Regung, er wartete kurz, nahm den nächsten Zettel „Otto Grünmann, die Wiese …“
Lucy sah ihn durch die Glaswand, die einen Teil des Cafes von der Bühne trennte, sie war zu spät gekommen und froh, den letzten Sitzplatz ergattert zu haben. Und wieder ging ein Lachen durch die Reihen, es war immer derselbe Anlaß, die Texte handelten allesamt von ach so lustigen Zwischenmenschlichkeiten, bei Furz und Arsch lachten immer Leute. Lucy nicht mehr. Sie fühlte sich alt, hundertzwanzig war sie, ganz bestimmt. Der Schauspieler vorne sah auch nicht viel jünger aus. Sie überlegte, ob er sie begehren würde, seine Stimme klang großartig aus einem schmächtigen mageren Körper, sie würde ihm das Buch mit ihren Lieblingslyrikern lesen lassen, als Vorspiel, oder auch Höhepunkt, den simplen Sex konnte man schließlich mit jedem haben, lieben würde sie die Stimme.
Sesselscharren. Pause. Der Schauspieler ging, wie er gekommen war. Lucy bestellte Wein. Die Sitznachbarn stießen an mit ihr, fremde Gesichter mit vertrautem Lächeln, das überfüllte Cafe mit seinen Lusterlichtern wogte, das war schon immer so gewesen, lag an ihren drei Schluck Alkohol - drei Minuten Ekstase - Innerem.
Dann wieder sein lautloses, publikumignorierendes Hereingleiten, graue Hose, weißes Hemd, graues Jackett, graue Haare, mehr Kleidung als Körper. Schade, dass er seine Augen hinter diesen dunklen Brillen versteckte. Und wieder erklang die Stimme, die berührende.
Sie träumte einen letzten Traum. Von ihm. Oder von sich. Man war doch immer allein.
 



 
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