Liane

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HFleiss

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Liane


Erst wenn sich das Leben vollendet, wenn ihm nichts mehr bleibt, das es zu regeln gilt, erkennen wir den Menschen wirklich. Nichts kann mehr geschehen, was das Bild, das man sich von jemandem macht, verändern könnte. Aber ich glaube, ein bisschen erkennt man den Menschen auch an seinen Hinterlassenschaften, an dem, was seinen Gang durch die Welt überdauert hat.

Ein paar halbvergilbte Fotos auf dem Tisch, auf denen Liane jung ist, sehr jung noch, ein Konfirmationsbild aus der wilhelminischen Zeit, auf harter Pappunterlage, ein paar sehr ausgeblichene Kinderfotos, die Kinder brav aufgereiht, nach der Größe, im Sonntagsstaat. Die Geschwister.

Und die Fotos mit dem Onkel, der Gustav hieß, den ich als Kind Onkel Taffke nannte. Hier eine Dampferfahrt nach Gosen, neunzehnhundertsechsunddreißig, fünfundzwanzigster Juni, zur Erinnerung. Sie hat das Datum mit eigener Hand vermerkt, es ist eine spitze Schrift, eine, die wehtun kann und etwas über den Ordnungssinn der Tante aussagt, mit langen Ober- und Unterlängen, Sütterlin. Lachende Leute laufen über einen Bootssteg vom Dampfer an Land, den Namen des Dampfers kann ich nicht erkennen, vielleicht existiert er heute noch. Der Mann neben Liane ist ihr Mann Gustav, mit Hitlerbärtchen und militärisch exaktem, kurzem Haarschnitt, Hosenträgern überm hellen Polohemd, er hält den Kopf gesenkt, er starrt auf die Bohlen, man kann ihnen wohl nicht trauen. Liane, dunkelhaarig, braunhäutig, sehr schlank, in strahlendweißem Kleid, etwas größer als ihr Gustav, läuft neben ihm, ihr Blick geht in die Umgebung. Vielleicht warten die Wirtsleute auf die Ankommenden, oder gute Bekannte, oder Verwandte, die den Dampfer davor genommen hatten, die Familie machte oft gemeinsame Ausflüge ins Grüne. Ihre Familie war groß, sie hatte neun Geschwister. Vielleicht aber sucht sie sich schon den besten Platz im Gartenlokal aus, einen schattigen, der Tag scheint heiß zu sein. Die anderen Leute auf dem Foto sind Zufallsfremde vom Dampfer, ich erkenne niemanden aus der Familie.

Neunzehnhundertsechsunddreißig war eine Zeit, in der es aufwärts ging in Deutschland – „nach der Systemzeit“, wie Lianes Bruder Otto, mein Großvater, die Weimarer Zeit nannte. Gustav war lange Zeit arbeitslos gewesen. Sechs lange Jahre, warf er den Geschwistern immer dann an den Kopf, wenn sie über die Beschwerden der Nachkriegszeit klagten. „Bloß den Krieg hätten sie nicht anfangen sollen“, fügte er dann hinzu, und er meinte die Nazis, die ihm sechsunddreißig Arbeit gegeben hatten, als Kranführer bei Borsig, wo man schon für den kommenden Krieg plante. Onkel Gustav war in keiner Partei, hielt sich aber für einen Politiker. Mit großen Gesten und dröhnender Stimme bestimmte er mit meinem Großvater die Familiendiskussionen, und ich sehe noch das abgewandte Gesicht meiner Tante Liane, wenn er über die Nazis schwadronierte, nach dem Krieg, bei Kerzenschein im Wohnzimmer meiner Großeltern. Was mochte sie von ihrem Mann denken? Als Kind hatte ich mich das nie gefragt. Ich hatte Tante Liane geliebt, wie man als Fünfjährige eine erwachsene Verwandte eben liebt, die dem Dummerchen auch mal eine Frage stellt und auf die Antwort wartet und nicht über so kurz geratene Wichtigkeit hinwegsieht. Liane war eine, an die man sich anlehnen konnte und wo es warm war.

Alle in der Familie nannten sie nur Liane. Ich konnte es nie über die Lippen bringen, sie Tante Liane zu nennen, obwohl sie meine Großtante war und doppelt so alt wie meine Mutter. „Sag Tante Liane“, versuchte sie mich zu erziehen. „Liane“, sagte ich trotzig. „Deine Tochter hat einen ganz schönen Dickkopf“, sagte sie zu meiner Mutter, und die gab mir einen flachen, symbolischen Katzenkopf, denn dies hielt sie für die einzige Erziehungsmethode, die bei mir fruchten konnte. „Es heißt Tante Liane, merk dir das!“ Und an Liane gewandt, fügte sie hinzu: „Die kommt nach dir. Musst dich nicht wundern. Die ist genauso voglig wie du. Malt den ganzen Tag, und dann nichts als Männeken und Ruinen. Ein Glück, dass wir kein Klavier haben.“

Liane hatte ein Klavier. Sie hat es fotografiert: Es steht rechts vom Fenster, exakt auf Mitte ein Blumenstrauß platziert, es scheint aus gutem braunen Holz zu sein. Ein Statussymbol. Ob sie oder Onkel Gustav Klavier spielen konnten, bezweifle ich. Das Klavier gehörte ins Wohnzimmer wie die eichene Anrichte mit den gedrechselten Säulen und der runde Tisch in der Mitte, die vier gepolsterten Stühle drumherum, das Sofa, auf dem Süßer, ihr Kanarienvogel, turnen durfte. Liane hatte auch einen Balkon, ihre Wohnung lag in der besseren Gegend vom Wedding, dort, wo die Angestellten und kleinen Beamten wohnten, weitab von unserem Arbeiterviertel, aber immer noch im Wedding. Es war ein bisschen anrüchig, im Wedding zu wohnen, damals, vor dem Krieg. Dort marschierte der rote Wedding, und wer von dort kam, war rot, es war ihm in die Wiege gelegt worden. Bevor er arbeitslos geworden war, arbeitete Onkel Gustav bei der Post und hatte Aussicht gehabt, ins Beamtenverhältnis übernommen zu werden, woraus dann aber doch nichts geworden war wegen der großen Krise. Nur dass sie was Besseres war als die übrige Verwandtschaft, sämtlich Hilfsarbeiter, das war Liane geblieben. „Bleib nicht zu lange bei Großkotzens“, ermahnte meine Großmutter den Großvater, wenn er zu seiner Schwester auf Besuch ging. Sie selbst sträubte sich, in die feinere Weddinger Gegend zu gehen. „Da haben Arbeiter wie wir nichts zu suchen“, sagte sie, und es klang stolz. Ich begriff meine Großmutter nicht, ich war gern bei Liane, auf dem Balkon, auf dem ausrangierte Küchenstühle standen und ein von Onkel Gustav selbstgebauter Tisch, der den halben Balkon einnahm, von dem ich, wenn ich auf Zehenspitzen stand, die ganze Straße überblicken konnte. Die beiden hatten Glück, genau wie wir, auch ihr Haus war nicht zerbombt worden, und es waren viele Häuser im Wedding nach dem Krieg nur noch Ruinen.

Liane und Onkel Gustav hatten keine Kinder. Einmal fragte ich sie, ob sie Kinder nicht leiden kann, denn ich kannte nur Familien mit Kindern, und irgendeinen Grund musste es doch geben, dass ausgerechnet meine Lieblingstante keine Kinder hatte. „Ach Jottchen, det hat ehm nich sollen sein“, sagte sie berlinerisch. Was mich sehr erstaunte, denn Liane legte Wert auf gepflegtes Sprechen, sie war die einzige in der Familie, die nicht berlinerte. Wer berlinerte, war Prolet, Liane war keine Proletin. „Kinder solln nich so ville fragen“, beschied sie mich.

Ich nickte, Liane hatte recht. Wenn einer Kinder hatte, dann war es ein Gottesgeschenk, sagte Großmutter. Liane, erfuhr ich eines Tages, war Heidin und eines Gottesgeschenks nicht würdig. Sie ging nicht zur Kirche. Sie war eine Gottlose, eine Freidenkerin. Wenn Großmutter dieses Wort aussprach, klang es, als sagte sie, Liane sei eine Mörderin. Ich machte mir nichts daraus und liebte Liane weiter, vielleicht noch heißer als zuvor, denn die Kirchgänge mit Großmutter hingen mir zum Hals heraus, das Stillsitzen in der Kälte und das Singen von Liedern, deren Text ich nicht kannte. „Was ist eine Heidin?“, fragte ich Liane. „Eine Heidin ist eine anständige Frau, eine, die sich auf ihren Verstand verlässt und nicht auf den da oben“, erklärte sie. „Der hat noch keinem geholfen. Schon gar nicht der ganzen frommen Sippe.“ „Und was ist Sippe?“ Liane sah mich streng von oben herab an. „Sippe ist, wenn man denen nicht aus dem Weg gehen kann, Dummchen. Die können mich mal.“ Ich war immer noch nicht ausreichend aufgeklärt. „Und was ist Freidenkerin?“ „Na, nu reicht’s aber. Haste von Martha, der Betschwester? Von Oma?“ „Hm, und ist das was Schlimmes?“ Liane wollte nicht antworten. Ich kriegte sie am Schürzenzipfel zu packen. „Ich will das wissen!“ „Nee, Kind. Freidenker, das ist ... Also das sind die Besten. Die Freidenker wollen nicht in den Himmel kommen, die sagen sich, wir leben hier auf der Erde, und die muss erst mal besser werden, dass es keinen Krieg mehr gibt. An den Himmel denken die gar nicht.“„Aber die denken doch an was, nich?“ Liane lachte. „Und ob. Werd du erst mal groß, dann wirst du auch Freidenkerin. Da kannst du drauf spucken. Willst du das?“ Ich war begeistert: Wenn ich groß sein würde, durfte ich Freidenkerin werden. Wie Liane. „Aber nicht der Martha verraten, dass ich dir das gesagt habe. Die kriegt sich sonst nicht wieder ein.“ „Ehrenwort!“ Das war aber schon nach dem Krieg, die Nazis hatten die Freidenker verboten und viele von ihnen ins KZ geschickt, las ich später.

Liane hatte vor dem Krieg gearbeitet. Es gibt ein Foto: An einem langen Tisch sitzen junge Frauen, ein paar ältere unter ihnen, in der Kleidung der endzwanziger Jahre, die älteren mit gehäkelten weißen Kragen auf dunklem Kleid, die jüngeren in modischen Pullovern jener Zeit und mit kurzen Haaren, in Lockwellen gelegt. Woran gearbeitet wird, kann ich nicht erkennen, etwas Metallisches. Liane sitzt im Vordergrund, vielleicht ist sie dreißig, ich kann ihr Alter nicht leicht schätzen, damals wurden Frauen schneller alt als heute, aber wenn sie 1919 um die Zwanzig war, kam meine Schätzung hin. Das Foto von 1919: Liane sitzt halb auf einem Tischchen, auf dem eine verschnörkelte Blumenschale mit Trockenblumen steht. Sie trägt einen engen dunklen Rock und eine füllige weiße Voilebluse. Sie blickt ein wenig über den Fotografen hinweg, ihr Blick kommt mir verträumt vor, mir fällt die Ähnlichkeit mit meiner Mutter auf, als sie in diesem Alter war. Liane ist eine junge Frau aus besseren Verhältnissen, noch keine richtige Dame vom Kudamm, wo die wirklich feinen Leute verkehrten, aber dass sie nicht mit den Händen arbeitet, sieht man ihnen an, sehr schöne, langfingrige, gepflegte Hände. Sie ist schlank, sehr schlank, es war eine Zeit, als man es erst wieder lernen musste, richtig zu essen. Auf der Rückseite ein Vermerk in schwarzer Tinte: Berlin, im Januar 1919. Meiner lieben Friedel in treuem Gedenken. Liane. Friedel? Vielleicht eine Freundin. Ich hatte nie etwas von ihr gehört. Aufgenommen wurde das Foto von Max Fischer in Berlin N, Invalidenstr. 164. Der Fotograf hat das leicht gebräunte Foto auf Pappe gezogen, es wird sich nicht ins Fotoalbum einkleben lassen.

Ein Kinderfoto, ausgegilbt, kaum noch erkennbar. Ein noch nicht einjähriges Kind im Wachstuchkinderwagen. Der Wagen sieht selbst für heutige Verhältnisse nicht unmodern aus. Hatte Liane doch ein Kind? Deshalb das: Es hat nicht sollen sein? Ich werde es nie erfahren, es gibt niemanden mehr, der es mir erzählen könnte.

Eine ganze Serie Urlaubsfotos aus den dreißiger Jahren, ich erkenne die Zeit an der Mode. Liane in langem, ärmellosem weißem Kleid im Strandkorb, im Hintergrund die See, ein Segelboot. Das Foto ist zu klein, um ihren Gesichtsausdruck zu erkennen, wegen der Sonne, die voll auf sie fällt, kneift sie die Augen etwas zusammen. Ja, Liane war eine elegante Frau. Fotos mit geblümtem Bademantel, im einteiligen Badeanzug, sie ist noch immer sehr schlank.

Liane vor der Anrichte in ihrem Wohnzimmer. Es ist dieselbe Anrichte, die ich kenne. Die Tante ist fülliger geworden und älter, aber ihr Haar ist noch immer dunkel. Auf der Anrichte steht ein weißes Figürchen mit erhobenen Armen. Ich weiß, es ist ein Engel, hergestellt in der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur. Liane lächelt in die Kamera. Das Foto ist unscharf, ohne Blitz aufgenommen. Schmal ist ihr Gesicht geworden. Sie hat das Foto nicht datiert, ich glaube, es stammt aus der Kriegszeit. Wer hat es geknipst?

Ich greife zum Fotoalbum. Es ist so klein, dass nur ein Foto auf der Seite Platz hat. Fotos aus den fünfziger Jahren. Onkel Gustav ist aus der Gefangenschaft heimgekehrt. Trotz seines Alters war er noch eingezogen worden und hatte in Frankreich gelegen, bis zur Landung der Alliierten im Juni 44. Er ist behäbig geworden, ja, ich erkenne ihn, so habe ich ihn in Erinnerung. Mit seinem Hitlerbärtchen, jetzt grau, das Haar spärlicher, der Mann ist ein wenig auseinandergegangen. Der Arbeitsplatz des Hausherrn: ein Schreibtisch im neogotischen Stil, aufgeräumt, kein Blatt Papier liegt herum, ein Blumenstrauß in einer bauchigen Vase. Onkel Gustav auf dem Balkon, vor einem Kiefernwäldchen. Ein Haus im bayerischen Stil, mit langem Balkon, vielleicht waren sie dort im Urlaub. Ein Blumentopf auf dem Wohnzimmertisch: Blühende Kamelie, hat Liane in ihrer Sütterlinschrift vermerkt. Vielleicht hat sie die Pflanze zum Blühen gebracht und war so stolz auf das Ergebnis, dass sie es fotografieren musste. Ein Kiefernwald. Liane hat die Kamera in die Wipfel gehalten, die Umgebung ist nicht auszumachen. Fotos von der Steilküste, ein Urlaub an der Ostsee. „Er“, Onkel Gustav. Liane scheut sich, seinen Namen drunterzusetzen, sie schreibt „Er“. Anfang der sechziger Jahre, als die Mauer schon stand, ist er gestorben, und seit dieser Zeit lebte Liane allein in der Wohnung. Und weil die ganze Sippe schon vor ihr gestorben war, bekam sie wohl kaum Besuch, weder von der Verwandtschaft noch von Freunden, schon in der Ehe hatte sie sehr zurückgezogen gelebt.

Das Passfoto muss das letzte sein, das von Liane existiert. Ihr Haar ist immer noch schwarz. Eine strenge Falte um die Mundwinkel, schmales Gesicht. Aber der Blick. Noch immer so träumerisch. Wie alt war sie da? Älter als siebzig, vielleicht schon achtzig. Als sie achtzig war, ist sie nicht mehr aus dem Haus gegangen, sagte mir meine Mutter, die Nachbarn hatten es ihr erzählt. Ihre Wohnung soll, als sie ins Krankenhaus kam, chaotisch ausgesehen haben, die Fenster seit Jahren nicht mehr geputzt, von den Decken sollen die Spinnweben schwarz heruntergehangen haben. Niemand hatte sich um die alte Frau gekümmert, bis auf die eine Nachbarin, die auch den Nachlass für meine Mutter aufgehoben hatte.

Ihr Nachlass ist von meiner Mutter auf mich gekommen, Bücher. Eine Goethe-Gesamtausgabe, Storm drei Bände Novellen, Bruno H. Bürgel vier Bände, Ganghofer sechs Bände, zehn Bände Marlitt, alle Bücher sehr zerlesen, Liane hatte viel gelesen.

Neben den Fotos existiert noch ein Bild im Goldrahmen. Es hängt in meinem Wohnzimmer. Eine Flusslandschaft, mit Haus hinter hohen Bäumen, zwei Kähne im Wasser, weiter Ausblick in die Ferne. Es ist gestickt, mit feiner Seide gestickt, wahrscheinlich nach einer Vorlage. „Das hat die Liane selbst gestickt“, sagte mir meine Mutter, „die hatte für so was Zeit. Ist ja kein Wunder, ohne Kinder. Von mir erbst du so was nicht.“ Dieses „So was“, es hatte geklungen, als sagte sie: „So’n Krempel.“

Ich trete vor das Stickbild und sehe es mir genauer an: Ja, der Blick ist weit, weit reicht er in die wolkig verschwommene Ferne. Vielleicht, überlege ich, kann man ihn nur aushalten, wenn der eigene Blick verträumt ist, so verträumt wie Lianes, auf den vergilbten Fotos.
 



 
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