Londoner Schatten

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drama

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Jeden Samstagnachmittag saß er dort.
An den regnerischen Tagen meisten etwas länger als sonst. Er wählte stetig den selben Platz und, falls dieser besetzt war, wartete er geduldig bis die Gäste sich erhoben.
Er war der Inbegriff von Unauffälligkeit, ein Phantom, ein Schatten, ein einsamer Mann. Trotz der geschätzten Anfang dreißig, hatte er leicht schütteres Haar und führte die Kaffetasse so bedacht an die Lippen, wie ein alter Herr.
Ebenfalls Teil seiner beständigen Tradition war das Stück Mandelkuchen zum schwarzen Kaffe, das, so war es mir bekannt, das schlechteste der Stadt war. Nebenbei gesagt, an regnerischen Tagen konnten es auch mal zwei Stücke werden.
Er fuhr sich häufig mit der Zunge über die trockenen Lippen, während er emsig in sein kleines schwarzes Buch schrieb. Was er Tag für Tag auf Papier brachte? Ich hatte mir schon oft Gedanken über mögliche Themen gemacht, konnte jedoch nie zu einer engeren Auswahl, geschweige denn zu einem Schluss, gelangen.
Er lächelte nicht. Nicht ein einziges mal hatte ich ihn lächeln sehen. Manchmal, wenn auch selten, versuchte er sich aus Höflichkeit an derartigem, doch scheiterte fortwährend kläglich.
Schatten ist es wohl nicht vergönnt zu lächeln.

Es war ein nasskalter Samstagvormittag, als ich in Routine aus meiner Wohnung trat und mein Gesicht gen Himmel wand. Die Wolkendecke war so dicht, dass das Licht eine Abenddämmerung vermuten lies. Es nieselte kaum spürbar. Die Pflastersteine auf der Straße glänzten regennass und der Ausdruck jedes Passanten schien so grau und trübe wie das Wetter.
Ich zog den Schal etwas höher, steckte die Hände in die Manteltaschen und machte mich auf den Weg. Ich hatte es nicht weit zu der kleinen Buchhandlung, die ich führte, seit fünfzehn Jahren jetzt schon. Zeit rast. Ich konnte mich finanziell zwar nicht beklagen, doch reich wurde ich auch nicht. Zeit rast, nur ich stehe still.
Noch zwei Blocks mit schönen Londoner Altbauten in engen Gassen und ich war angekommen. Vergleichbares werde ich mir nie leisten können.
Ich warf einen Blick durch das Fenster des Cafés neben meiner Buchhandlung. Es war gut gefüllt. Er würde wohl heute wieder warten müssen.
Das Geschäft lief heute nicht berauschend. Genau wie in den letzten Wochen. Ich vernahm nur selten die klischeehaften Glöckchen an der Ladentür. Kunden kauften in größeren Häusern, forderten Variation, Aktualität und Rabatte. Ich war des Konkurrierens müde geworden.
Stehe still und bin müde.
Klingelingeling. Die Glöckchen an der Tür klangen und rissen mich aus den grauen Gedanken.

Er trat mit gesenktem Kopf ein und sah mich erst an, als er gedankenverloren zu mir rüber geschlurft war. Grüne Augen, voll von träumerischem Glanz. Das schüttere Haar war feucht vom Nieselregen und sah jetzt noch spärlicher aus.
"Kann ich ihnen weiter helfen?"
Er überlegte kurz und fuhr sich dabei zwei mal mit der Zungenspitze über die Unterlippe.
"Ja... ich bin auf der Suche nach einem Buch über den Tod."
Wieder die Unterlippe.
"Hätten sie da was für mich?"
Es fiel mir schwer meine Gedanken zu ordnen.
"Sicher. Haben sie irgendwelche Vorstellungen zu Genre?" Meine Stimme brach am Ende kläglich ab.
"Eigentlich nicht, nein."
Ich suchte ihm wahllos ein paar Bücher zusammen und stellte sie ihm vor. Er blätterte ein wenig in einem Sachbuch und einem Liebesroman, entschied sich dann aber doch dagegen und schlurfte wieder zur Ladentür. Ich blickte ihm verwirrt nach. Im Türrahmen drehte er sich noch beiläufig um und fragte: "Wovon handelt ihr Lieblingsbuch?"
Ich überlegte kurz. Stille, bis auf das Ticken der Uhr und das Fahren der Autos durch die Pfützen auf der Straße.
"Von Liebe, einer Veränderung, einem Geheimnis und... dem Tod."
Er seufzte kaum merklich. "Okay, ich danke ihnen. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen."
Klingelingeling.

Eine Stunde später ging ich in die Mittagspause und besuchte, wie üblich, das Café nebenan. Ob er wohl wieder dort saß? Er tat es. Ich hielt kurz inne, bevor ich zu seinem Stammplatz trat.
"Und wovon handelt ihr Lieblingsbuch?"
Er erschrak ein wenig und kleckerte Kaffee auf sein dunkelgrünes Kort-Jackett. Kurz bereute ich mein spontanes Handeln.
"Es... es handelt vom Leben. Genau wie ihres." Er versuchte sich an einem Lächeln, nahm einen Bissen von seinem Mandelkuchen und wies auf den Stuhl neben sich.
"Erzählen Sie doch bitte einem Autor ein wenig von Literatur."
Ich schmunzelte, nahm Platz und bestellte mir einen Kaffee.
"Ich weiß nur soviel, dass diese die Menschen zum träumen bringt. Eine Kunst die sie beherrschen, Herr...?"
"Watson, Peter Watson mein Name. Und die Buchhändlerin heißt?"
"Eva Moore. Freut mich."
Ein Händeschütteln folgte, bevor er fortfuhr.
"Ob ich diese Kunst beherrsche? Genau diese Frage beschäftigt mich seit geraumer Zeit. Ich hatte ihn. Einen Erfolg. Ein Buch, das die Menschen geliebt haben. Eins. Nicht mehr. Ein Folgendes mag mir nicht gelingen. Ich schreibe, streiche durch, schaffe Welten, lösche sie wieder."
Er tat Zucker in den schwarzen Kaffee. Einen Löffel, zwei Löffel, drei Löffel, vier Löffel. Mir war nie aufgefallen, dass er so viel nahm.
"Eine Schreibblockade?"
"So etwas in der Art, ja."
Ich betrachtete seine perfekt manikürten Fingernägel.
"Ich sehe Sie jeden Samstagnachmittag an diesem Tisch sitzen, mit Kaffee und Mandelkuchen, schreibend und träumend. Warum?"
"Weil..." Er biss sich auf die Unterlippe. "...weil ich nie ein besonders guter Autor war. Bis auf einen Samstagnachmittag vor drei Jahren, an dem ich mit Kaffe und einem ungenießbaren Mandelkuchen den ersten Satz zu meinem Bestseller schrieb. Ich verfasste das Buch in diesem Café, an diesem Tisch. Jeden Samstag. Ein zweites sollte folgen. Natürlich. Welchen Wert hat schon ein 'one hit wonder'? Doch..." Er brach ab.
Ich holte tief Luft. Die Fragen um den einsamen Mann schienen sich zu lichten, doch spürte ich, dass die Sachlage deutlich komplexer war, als das Phänomen mit dem Mandelkuchen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und zog gedankenverloren daran.
Die grünen Augen beobachteten mich.
"Rauchen kann zum Tode führen."
Ich schmunzelte über die Anspielung auf die Bücher. Seine Miene regte sich jedoch nicht. Vielleicht war es ihm noch nicht einmal vergönnt zu schmunzeln.
"Ein verzweifelter Autor also. Ich kenne sonst nur verzweifelte Leser. Ich bin siebenundvierzig und weniger vom Leben entmutigt. Darf ich fragen, wie alt sie sind?"
"Ich lebe seit 29 Jahren ein wenig erfreuliches Leben, bis auf diesen einen beruflichen Erfolg. Doch entspricht bei mir beruflich auch privat, da das, was ich bin, mit nicht vielem anderem auszuzeichnen ist. Ergo, das Schreiben ist ich. Ist ihnen mein Standpunkt nun ein wenig verständlicher?"
Sein Gesichtsausdruck war traurig - traurig und träumerisch zugleich.
"Ja, das ist er. Ohne Zweifel."
Ich hatte meine Zigarette gänzlich vergessen und die Asche fiel auf den Tisch.
"Und wenn ich Ihnen, Frau Moore, jetzt noch anvertraue, dass mir nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, um aus dem, was ich bin, mehr, als ein 'one hit wonder', zu machen, würden die auch dies verstehen?"
"Ich verstehe."
Ich verstand und mein Verständnis, mein Mitgefühl, lähmte mir Glieder und Denken. Ein Mann, ein Schatten, der seit drei Jahren jeden Samstag Kuchen isst, der ihm nicht schmeckt, nur um seinen verzweifelten Bemühungen einen Durchbruch zu verleihen, bevor er vom Tod eingeholt wird, hatte meinen Respekt. Egal, wie sehr seine Welt aus den Fugen geraten war.
Ich drückte meine Zigarette aus.
Draußen hatte es letztendlich doch angefangen richtig zu regnen und dicke Tropfen prasselten gegen die Fensterscheibe, perlten an ihr herab.
"Was fehlt Ihnen?"
"Krebs. Ein Tumor im Darm. Aussichtslos. Die Blockade macht mir jedoch mehr zu schaffen. Ist das zu glauben?!"
Er sah mir plötzlich tief in die Augen und berührte meinen Arm - ganz leicht.
Ein Schauer durchging mich.
"Bitte, Frau Moore, versprechen Sie mir, in ihrem Leben niemals alles auf eine Karte zu setzten."
Zaghaft legte ich meine Hand auf seine.
"Ich verspreche es." Meine Stimme bebte.

Mit diesen Worten begann eine Art samstägliche Freundschaft.
Er erzählte. Ausschweifend, nahe legend und gern.
Er lies mich in Welten eintauchen oder Erkenntnisse gewinnen, indem ich einfach nur da saß, vor meinem Kaffee, und zuhörte.
Er brachte mich ohne ein Wort zu sagen dazu, das rauchen aufzugeben.
Er lies mich laut auflachen und im nächsten Moment die Tränen hinunter schlucken.
Und immer blickte ich in diese grünen Augen eines achtzehn Jahre jüngeren Mannes, traurig und verträumt zugleich.
Immer öfter machte ich schon früher Pause, um wieder seinen Erzählungen zu folgen.
Auch an dem heutigen Samstag, unser erstes Gespräch befand sich schon vier Monate zurück, konnte ich es wieder kaum erwarten. Mit einem kindlichen Leichtigkeit legte ich Dinge beiseite, trug den Lippenstift auf und schloss die Ladentür ab.
Klingelingeling.

Ich betrat das wahrscheinlich süßeste Café Londons.
Es war zu erwarten gewesen.
Er hatte sich die letzten Wochen schon so mühselig bewegt, die Tasse nur mit Anstrengung heben können.
Doch er war immer erschienen, fast dreieinhalb Jahre lang, ohne einen einzigen Tag zu fehlen.
Kein Arzttermin, keine Fernsehsendung, kein Londoner Verkehr und erst recht keine Erkrankung hatten ihn je davon abhalten können.
Der Stuhl war leer.
Ich wusste, da war ich mir so sicher, wie noch nie in meinem Leben, dass es nur eine Erklärung gab.
Der Regen prasselte, mein Atem ging schwer und meine Gedanken fanden keinen Halt.
Alles war taub.
Mein Inneres war leer, ein Vakuum. Nichts, was es mehr erfüllen konnte.
Ich setzte mich schließlich auf den ehemaligen Platz des einsamen Mannes, legte Papier und Stift vor mich und winkte die Kellnerin heran.
"Einen schwarzen Kaffe und ein Stück Mandelkuchen, bitte."
 



 
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