Makellos

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Lomil

Mitglied
Es gab wieder Grund zum Jubeln im persilreinen Adenauerstaat, mit Lübke als Bundespräsident. Die ersten Kriegsgefangenen kehrten heim und es herrschte schwarz-rot-goldene Ruhe und Schwamm über die Verbrechen der Hitlerei. Man war wieder wer und zeigte es. Nicht alle, aber Frau Berger gehörte dazu.
Frau Berger war die Mutter von Hannelore; meiner besten Freundin. Bis zu dem Tag, als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte und mir den Umgang mit Hannelore verbat.
"Sage mir mit wem Du umgehst, und ich sage Dir wer Du bist", sagte mein Vater. Das war ihm Bergründung genug, als ich ihn nach dem Warum fragte.

Ich war verzweifelt. Nie wieder durfte ich zu Hannelore nach Hause gehen, bei der alles so anders war, als bei uns, oder meiner anderen Freundin Gisela. Weiße Decke auf dem Küchentisch und im Wohnzimmer Spitzendeckchen auf der Musiktruhe, auf dem Tisch und der Anrichte, auf der auch immer eine reichlich gefüllte Obstschale stand, aus der ich mich stets, ohne zu fragen bedienen durfte. Bei uns zu Hause gab es kein Obst.
Es gab ein Badezimmer, mit verschieden duftenden Badeoelen unf Parfüms. Frau Berger besaß sogar eine Trockenhaube. Eine Lieblingsbeschäftigung von Hannelore und mir war es, Friseur zu spielen. Aber am allermeisten würde ich Frau Berger vermissen. Frau Berger war ein sehr schöne Frau und sie war mein Vorbild. So wollte ich einmal werden, mich so kleiden wie Sie, frisieren, so gut riechen wie Sie.

Aber das Bild das der Spiegel mir zeigte und die Sprüche der Jungen aus meiner Klasse, von denen "Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen", noch zu den netteren gehörte, belehrten mich eines Besseren.
Keine Aussicht auf Schönheit. Die Fotos meiner Vorfahren und lieben Verwandten, die in einem Schuhkarton aufbewahrt wurden, offenbarten die Sinnlosigkeit einer solchen Hoffnung. Väterlicher - wie mütterlicherseits.
Wenn ich schon die Figur von Schneewittchen hatte, warum dann nicht auch ihr Aussehen. Haare, schwarz wie Ebenholz. Haut, weiß wie Schnee. Einen Mund, rot wie Blut.
Meine Haare hatten die Farbe und Beschaffenheit von Putzwolle, mein Mund war fast Lippenlos und meine Haut zierten hin und wieder Eiterpickel.

"Für eine pubertierende nicht ungewöhnlich, das verliert sich mit zunehmenden Alter", sagte meine Mutter. Ich schaute im Lexikon (neben dem Doktorbuch und der Bibel, das einzige Buch, das es bei uns zu Hause gab) nach, wie lange eine Pubertät dauert. Alles was unter "pubertierend" zu lesen stand, war bei mir (außer den Eiterpickeln) nicht zu erkennen. Mir wuchsen weder Brust, noch Schamhaare.
Mein vierzehjähriger Bruder pubertierte auch. Seine Arme mit den schaufelartigen Händen wurden immer länger, seine Stimme tiefer und die Brust die mir wachsen sollte, wuchs ihm. Die einzige Gemeinsamkeit die wir aufwiesen, war die Oberlippenbehaarung. Bei mir ausgeprägter als bei ihm.

Hannelore hatte schon Busen. Und was für einen. Er teilte eindrucksvoll die Rippen ihrer Pullover, die sie fast ausschließlich trug.
"Unanständig für eine zwölfjährige so herumzulaufen; aber bei der Mutter!" hörte ich meinen Vater, mehr als einmal sagen. Was daran unanständig war, würde ich gerne wissen. Sie hatte den Busen, der pubertierenden Mädchen, außer mir natürlich, nun mal wächst. Schließlich konnte sie ihn ja nicht verstecken. Oder meinte er ihre Pullover, die ihn so eindrucksvoll zu Geltung brachten?
Hannelore war, wie ihr Mutter, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Nicht wie meine Mutter, oder die Mutter von Gisela, meiner anderen Freundin. Grau, alles grau in grau. Graue Kleider, graue Mäntel, graue Gesichter. Graue Kapotthütchen auf ausgebleichter Dauerwelle, die weder eigenes, noch das Interesse des Friseurs, an Gesicht und Kopfform erkennen ließen.

Hannelores Mutter trug weiße Seidenblusen, zu dunkelblauen, hochgeschlitzten Röcken. Nylonstrümpfe mit Naht und Stöckelschuhe mit Pfennigabsatz. Ihr schweres, blondes Haar (gefärbt, wie meine Mutter abfällig behauptete) war am Hinterkopf eingeschlagen, aber lose Locken hingen zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich schon im Hausflur das Parfüm von Frau Berger riechen. Sollte Frau Berger etwa.... Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte ich, ohne anzuklopfen, die Wohnzimmertüre aufgerissen. Für dieses Vergehen ich regelmäßig gerügt wurde. Wie ich aber des Öfteren beobachten konnte, auch von meinem Vater begangen wurde.

Da stand Frau Berger im Unterrock. In der einen Hand eine Zigarette und in der anderen Champagner, den sie aus einem leeren Senfglas trank, das uns als Wasserglas diente. Die geöffnete Flasche stand vor ihr auf dem Tisch und auch meine Mutter hatte ein halbvolles Glas vor sich stehen. Frau Berger brachte immer etwas mit, wenn sie zu Anprobe kam. Ein bißchen enttäuscht war ich schon, dass es diesmal nichts für mich war. Meine Mutter saß an der Nähmaschine und schloss die letzte Naht an dem Kleid, das sie für Frau Berger geändert hatte.

"Hallo, meine Liebe", sagte sie mit ihrer freundlichen Stimme "du warst ja schon lange nicht mehr bei uns, hast du dich mit Hannelore zerstritten?"
Den Blick, den mir meine Mutter zuwarf, erlaubte es mir nicht die Frage zu beantworten. Nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. Mit meinem Schweigen hielt ich Frau Berger auf Abstand und sie fragte nicht weiter.

Aber mir hatte es sowieso die Sprache verschlagen. So schön hatte ich Frau Berger noch nie gesehen. Der weiße Unterrockden den sie trug, hatte über dem Busen und am Saum eine breite Spitze und von der linken Brust bis zum rechten Saumende schlängelte sich eine grüne Efeuranke. Ihre Haut war schneeweiß und ich sah, dass sie unter den Armen keine Haare hatte, als sie sie hob, um das Kleid anzuziehen das meine Mutter ihr hinhielt. Wobei die schwarzen Büschel unter den Armen meiner Mutter abstanden, wie zum trocknen aufgestellte Malerpinsel.

Mir fiel das Wort makellos wieder ein , das ich neulich bei Kaufmann Kroll im Zusammenhang mit Äpfeln gehört hatte.
"Schauen sie, Frau Hoffmann, makellos,einer wie der andere", sagte er und hat ihr jeden einzelnen Apfel zur Begutachtung unter die Nase gehalten.

Makellos war also der Ausdruck für etwas das keine Macken hatte. Frau Berger war makellos. Keine noch so kleine Macke verunzierte die weiße Haut. Vom Scheitel bis zu Sohle. Ihre unbehaarten Beine, mit den unglaublich kleinen Füßen, den brombeerfarben lackierten Zehennägel, steckten in schwarzen Sandalen mit übereinander gekreuzten Riemchen.
Mamas behaarten Beine, mit den großen Füßen, den gelblich-braunen Zehennägeln steckten auch in Sandalen, dessen übereinander gekreuzten Riemchen häßliche, rote Striemen hinterließen.

Mama hatte Macken. Sichtbare wie an den Füßen und unsichtbare die sie unter ihren Kleidern versteckte. Überall hatte sie Macken. Auf dem Rücken, an den Schultern, am Bauch, auf dem Po. Eigentlich am ganzen Körper habe ich sie schon gesehen. Große blaue Flecken. Manchmal waren sie auch gelb und grün. Ich habe sie gesehen, wenn sie sich zum waschen über die Waschschüssel, die auf dem Küchenstuhl stand, gebeugt hatte und sie sich unbeobachtet vorkam. Wenn sie mich bemerkte, hielt sie sofort ein Handtuch vor sich und schimpfte mit mir, weil ich sie angeblich erschreckt hatte. Mama versteckte ihre Macken unter ihren Kleidern. Obwohl nicht mehr sichtbar und selbst wenn sie die schönen Kleider von Frau Berger angezogen hätte, nichts von der Schmuddeligkeit, dem Schmutz und der Vernachlässigung die Armut so mit sich bringt, wäre zu überdecken gewesen. Nichts von dem Aussehen und dem Geruch.

Mit einem mal wurde mir klar, was Frau Berger von meiner Mutter unterschied. Frau Berger hatte keine Macken unter ihren Kleidern. Mehr denn je wusste ich, dass ich so werden wollte wie Frau Berger. Es gab ein Leben, an dem ich nicht teilnahm. Von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte. Ich musste herausfinden, warum Frau Berger Geld hatte wie Heu, obwohl es keinen Mann gab, der Geld nach Hause brachte. Herr Berger war nämlich im Krieg geblieben. Ich musste herausfinden, von welchem Glück die Leute sprachen, dass mein Vater heimgekehrt ist.

Nachdem Frau Berger, unter der Aufforderung sie doch bald zu besuchen, gegangen war, sagte ich zu meiner Mutter: "So wie Frau Berger möchte ich auch mal werden. Sie hat immer schöne Kleider an. Sie hat sogar ein Badezimmer, wo das heisse Wasser direkt aus der Wand in die Wanne läuft und fährt ein Auto mit roten Ledersitzen. Außerdem hat sie eine makellose Haut.

"Ha, die hat es leicht so auszusehen, die schafft doch den lieben langen Tag nichts, die braucht doch nur die Beine breit zu machen", sagte sie. Ihre Stimme war passend zu ihrer Miene; schrill, hasserfüllt, neidisch.

Tagelang ging mir dieses "Beine breit machen" im Kopf herum. Ich konnte mir trotz intensiven Nachdenkens nicht vorstellen, dass man soviel Geld verdienen konnte, nur wenn man die Beine breit machte. Es ließ mir keine Ruhe. Ich würde Frau Berger selbst fragen. Heute noch.

Ich machte mich auf den Weg, obwohl ich wusste, dass Frau Berger um diese Zeit niemals gestört werden wollte, weil sie dann ihren Schönheitsschlaf hielt. Selbst Hannelore war während dieser Zeit stets bei einer Freundin. Um so besser dachte ich, dann würde uns auch niemand stören.

Ich stand vor der Türe und wollte gerade klingeln, als die Türe sich öffnete. Mein Vater stand im Flur vor dem Spiegel und richtete seine Krawatte und Frau Berger, in ihrer makellosen weißen Haut, stand nackend neben ihm.
 

Lomil

Mitglied
Es gab wieder Grund zum Jubeln im persilreinen Adenauerstaat, mit Lübke als Bundespräsident. Die ersten Kriegsgefangenen kehrten heim und es herrschte schwarz-rot-goldene Ruhe und Schwamm über die Verbrechen der Hitlerei. Man war wieder wer und zeigte es. Nicht alle, aber Frau Berger gehörte dazu.
Frau Berger war die Mutter von Hannelore; meiner besten Freundin. Bis zu dem Tag, als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte und mir den Umgang mit Hannelore verbat.
"Sage mir mit wem Du umgehst, und ich sage Dir wer Du bist", sagte mein Vater. Das war ihm Bergründung genug, als ich ihn nach dem Warum fragte.

Ich war verzweifelt. Nie wieder durfte ich zu Hannelore nach Hause gehen, bei der alles so anders war, als bei uns, oder meiner anderen Freundin Gisela. Weiße Decke auf dem Küchentisch und im Wohnzimmer Spitzendeckchen auf der Musiktruhe, auf dem Tisch und der Anrichte, auf der auch immer eine reichlich gefüllte Obstschale stand, aus der ich mich stets, ohne zu fragen bedienen durfte. Bei uns zu Hause gab es kein Obst.
Es gab ein Badezimmer, mit verschieden duftenden Badeoelen unf Parfüms. Frau Berger besaß sogar eine Trockenhaube. Eine Lieblingsbeschäftigung von Hannelore und mir war es, Friseur zu spielen. Aber am allermeisten würde ich Frau Berger vermissen. Frau Berger war ein sehr schöne Frau und sie war mein Vorbild. So wollte ich einmal werden, mich so kleiden wie Sie, frisieren, so gut riechen wie Sie.

Aber das Bild das der Spiegel mir zeigte und die Sprüche der Jungen aus meiner Klasse, von denen "Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen", noch zu den netteren gehörte, belehrten mich eines Besseren.
Keine Aussicht auf Schönheit. Die Fotos meiner Vorfahren und lieben Verwandten, die in einem Schuhkarton aufbewahrt wurden, offenbarten die Sinnlosigkeit einer solchen Hoffnung. Väterlicher - wie mütterlicherseits.
Wenn ich schon die Figur von Schneewittchen hatte, warum dann nicht auch ihr Aussehen. Haare, schwarz wie Ebenholz. Haut, weiß wie Schnee. Einen Mund, rot wie Blut.
Meine Haare hatten die Farbe und Beschaffenheit von Putzwolle, mein Mund war fast Lippenlos und meine Haut zierten hin und wieder Eiterpickel.

"Für eine pubertierende nicht ungewöhnlich, das verliert sich mit zunehmenden Alter", sagte meine Mutter. Ich schaute im Lexikon (neben dem Doktorbuch und der Bibel, das einzige Buch, das es bei uns zu Hause gab) nach, wie lange eine Pubertät dauert. Alles was unter "pubertierend" zu lesen stand, war bei mir (außer den Eiterpickeln) nicht zu erkennen. Mir wuchsen weder Brust, noch Schamhaare.
Mein vierzehjähriger Bruder pubertierte auch. Seine Arme mit den schaufelartigen Händen wurden immer länger, seine Stimme tiefer und die Brust die mir wachsen sollte, wuchs ihm. Die einzige Gemeinsamkeit die wir aufwiesen, war die Oberlippenbehaarung. Bei mir ausgeprägter als bei ihm.

Hannelore hatte schon Busen. Und was für einen. Er teilte eindrucksvoll die Rippen ihrer Pullover, die sie fast ausschließlich trug.
"Unanständig für eine zwölfjährige so herumzulaufen; aber bei der Mutter!" hörte ich meinen Vater, mehr als einmal sagen. Was daran unanständig war, würde ich gerne wissen. Sie hatte den Busen, der pubertierenden Mädchen, außer mir natürlich, nun mal wächst. Schließlich konnte sie ihn ja nicht verstecken. Oder meinte er ihre Pullover, die ihn so eindrucksvoll zu Geltung brachten?
Hannelore war, wie ihr Mutter, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Nicht wie meine Mutter, oder die Mutter von Gisela, meiner anderen Freundin. Grau, alles grau in grau. Graue Kleider, graue Mäntel, graue Gesichter. Graue Kapotthütchen auf ausgebleichter Dauerwelle, die weder eigenes, noch das Interesse des Friseurs, an Gesicht und Kopfform erkennen ließen.

Hannelores Mutter trug weiße Seidenblusen, zu dunkelblauen, hochgeschlitzten Röcken. Nylonstrümpfe mit Naht und Stöckelschuhe mit Pfennigabsätzen. Ihr schweres, blondes Haar (gefärbt, wie meine Mutter abfällig behauptete) war am Hinterkopf eingeschlagen, aber lose Locken hingen zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich schon im Hausflur das Parfüm von Frau Berger riechen. Sollte Frau Berger etwa.... Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte ich, ohne anzuklopfen, die Wohnzimmertüre aufgerissen. Für dieses Vergehen ich regelmäßig gerügt wurde. Wie ich aber des Öfteren beobachten konnte, auch von meinem Vater begangen wurde.

Da stand Frau Berger im Unterrock. In der einen Hand eine Zigarette und in der anderen Champagner, den sie aus einem leeren Senfglas trank, das uns als Wasserglas diente. Die geöffnete Flasche stand vor ihr auf dem Tisch und auch meine Mutter hatte ein halbvolles Glas vor sich stehen. Frau Berger brachte immer etwas mit, wenn sie zu Anprobe kam. Ein bißchen enttäuscht war ich schon, dass es diesmal nichts für mich war. Meine Mutter saß an der Nähmaschine und schloss die letzte Naht an dem Kleid, das sie für Frau Berger geändert hatte.

"Hallo, meine Liebe", sagte sie mit ihrer freundlichen Stimme "du warst ja schon lange nicht mehr bei uns, hast du dich mit Hannelore zerstritten?"
Den Blick, den mir meine Mutter zuwarf, erlaubte es mir nicht die Frage zu beantworten. Nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. Mit meinem Schweigen hielt ich Frau Berger auf Abstand und sie fragte nicht weiter.

Aber mir hatte es sowieso die Sprache verschlagen. So schön hatte ich Frau Berger noch nie gesehen. Der weiße Unterrockden den sie trug, hatte über dem Busen und am Saum eine breite Spitze und von der linken Brust bis zum rechten Saumende schlängelte sich eine grüne Efeuranke. Ihre Haut war schneeweiß und ich sah, dass sie unter den Armen keine Haare hatte, als sie sie hob, um das Kleid anzuziehen das meine Mutter ihr hinhielt. Wobei die schwarzen Büschel unter den Armen meiner Mutter abstanden, wie zum trocknen aufgestellte Malerpinsel.

Mir fiel das Wort makellos wieder ein , das ich neulich bei Kaufmann Kroll im Zusammenhang mit Äpfeln gehört hatte.
"Schauen sie, Frau Hoffmann, makellos,einer wie der andere", sagte er und hat ihr jeden einzelnen Apfel zur Begutachtung unter die Nase gehalten.

Makellos war also der Ausdruck für etwas das keine Macken hatte. Frau Berger war makellos. Keine noch so kleine Macke verunzierte die weiße Haut. Vom Scheitel bis zu Sohle. Ihre unbehaarten Beine, mit den unglaublich kleinen Füßen, den brombeerfarben lackierten Zehennägel, steckten in schwarzen Sandalen mit übereinander gekreuzten Riemchen.
Mamas behaarten Beine, mit den großen Füßen, den gelblich-braunen Zehennägeln steckten auch in Sandalen, dessen übereinander gekreuzten Riemchen häßliche, rote Striemen hinterließen.

Mama hatte Macken. Sichtbare wie an den Füßen und unsichtbare die sie unter ihren Kleidern versteckte. Überall hatte sie Macken. Auf dem Rücken, an den Schultern, am Bauch, auf dem Po. Eigentlich am ganzen Körper habe ich sie schon gesehen. Große blaue Flecken. Manchmal waren sie auch gelb und grün. Ich habe sie gesehen, wenn sie sich zum waschen über die Waschschüssel, die auf dem Küchenstuhl stand, gebeugt hatte und sie sich unbeobachtet vorkam. Wenn sie mich bemerkte, hielt sie sofort ein Handtuch vor sich und schimpfte mit mir, weil ich sie angeblich erschreckt hatte. Mama versteckte ihre Macken unter ihren Kleidern. Obwohl nicht mehr sichtbar und selbst wenn sie die schönen Kleider von Frau Berger angezogen hätte, nichts von der Schmuddeligkeit, dem Schmutz und der Vernachlässigung die Armut so mit sich bringt, wäre zu überdecken gewesen. Nichts von dem Aussehen und dem Geruch.

Mit einem mal wurde mir klar, was Frau Berger von meiner Mutter unterschied. Frau Berger hatte keine Macken unter ihren Kleidern. Mehr denn je wusste ich, dass ich so werden wollte wie Frau Berger. Es gab ein Leben, an dem ich nicht teilnahm. Von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte. Ich musste herausfinden, warum Frau Berger Geld hatte wie Heu, obwohl es keinen Mann gab, der Geld nach Hause brachte. Herr Berger war nämlich im Krieg geblieben. Ich musste herausfinden, von welchem Glück die Leute sprachen, dass mein Vater heimgekehrt ist.

Nachdem Frau Berger, unter der Aufforderung sie doch bald zu besuchen, gegangen war, sagte ich zu meiner Mutter: "So wie Frau Berger möchte ich auch mal werden. Sie hat immer schöne Kleider an. Sie hat sogar ein Badezimmer, wo das heisse Wasser direkt aus der Wand in die Wanne läuft und fährt ein Auto mit roten Ledersitzen. Außerdem hat sie eine makellose Haut.

"Ha, die hat es leicht so auszusehen, die schafft doch den lieben langen Tag nichts, die braucht doch nur die Beine breit zu machen", sagte sie. Ihre Stimme war passend zu ihrer Miene; schrill, hasserfüllt, neidisch.

Tagelang ging mir dieses "Beine breit machen" im Kopf herum. Ich konnte mir trotz intensiven Nachdenkens nicht vorstellen, dass man soviel Geld verdienen konnte, nur wenn man die Beine breit machte. Es ließ mir keine Ruhe. Ich würde Frau Berger selbst fragen. Heute noch.

Ich machte mich auf den Weg, obwohl ich wusste, dass Frau Berger um diese Zeit niemals gestört werden wollte, weil sie dann ihren Schönheitsschlaf hielt. Selbst Hannelore war während dieser Zeit stets bei einer Freundin. Um so besser dachte ich, dann würde uns auch niemand stören.

Ich stand vor der Türe und wollte gerade klingeln, als die Türe sich öffnete. Mein Vater stand im Flur vor dem Spiegel und richtete seine Krawatte und Frau Berger, in ihrer makellosen weißen Haut, stand nackend neben ihm.
 

Lomil

Mitglied
Es gab wieder Grund zum Jubeln im persilreinen Adenauerstaat, mit Lübke als Bundespräsident. Die ersten Kriegsgefangenen kehrten heim und es herrschte schwarz-rot-goldene Ruhe und Schwamm über die Verbrechen der Hitlerei. Man war wieder wer und zeigte es. Nicht alle, aber Frau Berger gehörte dazu.
Frau Berger war die Mutter von Hannelore; meiner besten Freundin. Bis zu dem Tag, als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte und mir den Umgang mit Hannelore verbat.
"Sage mir mit wem Du umgehst, und ich sage Dir wer Du bist", sagte mein Vater. Das war ihm Bergründung genug, als ich ihn nach dem Warum fragte.

Ich war verzweifelt. Nie wieder durfte ich zu Hannelore nach Hause gehen, bei der alles so anders war, als bei uns, oder meiner anderen Freundin Gisela. Weiße Decke auf dem Küchentisch und im Wohnzimmer Spitzendeckchen auf der Musiktruhe, auf dem Tisch und der Anrichte, auf der auch immer eine reichlich gefüllte Obstschale stand, aus der ich mich stets, ohne zu fragen bedienen durfte. Bei uns zu Hause gab es kein Obst.
Es gab ein Badezimmer, mit verschieden duftenden Badeoelen unf Parfüms. Frau Berger besaß sogar eine Trockenhaube. Eine Lieblingsbeschäftigung von Hannelore und mir war es, Friseur zu spielen. Aber am allermeisten würde ich Frau Berger vermissen. Frau Berger war ein sehr schöne Frau und sie war mein Vorbild. So wollte ich einmal werden, mich so kleiden wie Sie, frisieren, so gut riechen wie Sie.

Aber das Bild das der Spiegel mir zeigte und die Sprüche der Jungen aus meiner Klasse, von denen - Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen - noch zu den netteren gehörte, belehrten mich eines Besseren.
Keine Aussicht auf Schönheit. Die Fotos meiner Vorfahren und lieben Verwandten, die in einem Schuhkarton aufbewahrt wurden, offenbarten die Sinnlosigkeit einer solchen Hoffnung. Väterlicher - wie mütterlicherseits.
Wenn ich schon die Figur von Schneewittchen hatte, warum dann nicht auch ihr Aussehen. Haare, schwarz wie Ebenholz. Haut, weiß wie Schnee. Einen Mund, rot wie Blut.
Meine Haare hatten die Farbe und Beschaffenheit von Putzwolle, mein Mund war fast Lippenlos und meine Haut zierten hin und wieder Eiterpickel.

"Für eine pubertierende nicht ungewöhnlich, das verliert sich mit zunehmenden Alter", sagte meine Mutter. Ich schaute im Lexikon (neben dem Doktorbuch und der Bibel, das einzige Buch, das es bei uns zu Hause gab) nach, wie lange eine Pubertät dauert. Alles was unter "pubertierend" zu lesen stand, war bei mir (außer den Eiterpickeln) nicht zu erkennen. Mir wuchsen weder Brust, noch Schamhaare.
Mein vierzehjähriger Bruder pubertierte auch. Seine Arme mit den schaufelartigen Händen wurden immer länger, seine Stimme tiefer und die Brust die mir wachsen sollte, wuchs ihm. Die einzige Gemeinsamkeit die wir aufwiesen, war die Oberlippenbehaarung. Bei mir ausgeprägter als bei ihm.

Hannelore hatte schon Busen. Und was für einen. Er teilte eindrucksvoll die Rippen ihrer Pullover, die sie fast ausschließlich trug.
"Unanständig für eine zwölfjährige so herumzulaufen; aber bei der Mutter!" hörte ich meinen Vater, mehr als einmal sagen. Was daran unanständig war, würde ich gerne wissen. Sie hatte den Busen, der pubertierenden Mädchen, außer mir natürlich, nun mal wächst. Schließlich konnte sie ihn ja nicht verstecken. Oder meinte er ihre Pullover, die ihn so eindrucksvoll zu Geltung brachten?
Hannelore war, wie ihr Mutter, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Nicht wie meine Mutter, oder die Mutter von Gisela, meiner anderen Freundin. Grau, alles grau in grau. Graue Kleider, graue Mäntel, graue Gesichter. Graue Kapotthütchen auf ausgebleichter Dauerwelle, die weder eigenes, noch das Interesse des Friseurs, an Gesicht und Kopfform erkennen ließen.

Hannelores Mutter trug weiße Seidenblusen, zu dunkelblauen, hochgeschlitzten Röcken. Nylonstrümpfe mit Naht und Stöckelschuhe mit Pfennigabsätzen. Ihr schweres, blondes Haar (gefärbt, wie meine Mutter abfällig behauptete) war am Hinterkopf eingeschlagen, aber lose Locken hingen zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich schon im Hausflur das Parfüm von Frau Berger riechen. Sollte Frau Berger etwa.... Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte ich, ohne anzuklopfen, die Wohnzimmertüre aufgerissen. Für dieses Vergehen ich regelmäßig gerügt wurde. Wie ich aber des Öfteren beobachten konnte, auch von meinem Vater begangen wurde.

Da stand Frau Berger im Unterrock. In der einen Hand eine Zigarette und in der anderen Champagner, den sie aus einem leeren Senfglas trank, das uns als Wasserglas diente. Die geöffnete Flasche stand vor ihr auf dem Tisch und auch meine Mutter hatte ein halbvolles Glas vor sich stehen. Frau Berger brachte immer etwas mit, wenn sie zu Anprobe kam. Ein bißchen enttäuscht war ich schon, dass es diesmal nichts für mich war. Meine Mutter saß an der Nähmaschine und schloss die letzte Naht an dem Kleid, das sie für Frau Berger geändert hatte.

"Hallo, meine Liebe", sagte sie mit ihrer freundlichen Stimme "du warst ja schon lange nicht mehr bei uns, hast du dich mit Hannelore zerstritten?"
Den Blick, den mir meine Mutter zuwarf, erlaubte es mir nicht die Frage zu beantworten. Nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. Mit meinem Schweigen hielt ich Frau Berger auf Abstand und sie fragte nicht weiter.

Aber mir hatte es sowieso die Sprache verschlagen. So schön hatte ich Frau Berger noch nie gesehen. Der weiße Unterrockden den sie trug, hatte über dem Busen und am Saum eine breite Spitze und von der linken Brust bis zum rechten Saumende schlängelte sich eine grüne Efeuranke. Ihre Haut war schneeweiß und ich sah, dass sie unter den Armen keine Haare hatte, als sie sie hob, um das Kleid anzuziehen das meine Mutter ihr hinhielt. Wobei die schwarzen Büschel unter den Armen meiner Mutter abstanden, wie zum trocknen aufgestellte Malerpinsel.

Mir fiel das Wort makellos wieder ein , das ich neulich bei Kaufmann Kroll im Zusammenhang mit Äpfeln gehört hatte.
"Schauen sie, Frau Hoffmann, makellos,einer wie der andere", sagte er und hat ihr jeden einzelnen Apfel zur Begutachtung unter die Nase gehalten.

Makellos war also der Ausdruck für etwas das keine Macken hatte. Frau Berger war makellos. Keine noch so kleine Macke verunzierte die weiße Haut. Vom Scheitel bis zu Sohle. Ihre unbehaarten Beine, mit den unglaublich kleinen Füßen, den brombeerfarben lackierten Zehennägel, steckten in schwarzen Sandalen mit übereinander gekreuzten Riemchen.
Mamas behaarten Beine, mit den großen Füßen, den gelblich-braunen Zehennägeln steckten auch in Sandalen, dessen übereinander gekreuzten Riemchen häßliche, rote Striemen hinterließen.

Mama hatte Macken. Sichtbare wie an den Füßen und unsichtbare die sie unter ihren Kleidern versteckte. Überall hatte sie Macken. Auf dem Rücken, an den Schultern, am Bauch, auf dem Po. Eigentlich am ganzen Körper habe ich sie schon gesehen. Große blaue Flecken. Manchmal waren sie auch gelb und grün. Ich habe sie gesehen, wenn sie sich zum waschen über die Waschschüssel, die auf dem Küchenstuhl stand, gebeugt hatte und sie sich unbeobachtet vorkam. Wenn sie mich bemerkte, hielt sie sofort ein Handtuch vor sich und schimpfte mit mir, weil ich sie angeblich erschreckt hatte. Mama versteckte ihre Macken unter ihren Kleidern. Obwohl nicht mehr sichtbar und selbst wenn sie die schönen Kleider von Frau Berger angezogen hätte, nichts von der Schmuddeligkeit, dem Schmutz und der Vernachlässigung die Armut so mit sich bringt, wäre zu überdecken gewesen. Nichts von dem Aussehen und dem Geruch.

Mit einem mal wurde mir klar, was Frau Berger von meiner Mutter unterschied. Frau Berger hatte keine Macken unter ihren Kleidern. Mehr denn je wusste ich, dass ich so werden wollte wie Frau Berger. Es gab ein Leben, an dem ich nicht teilnahm. Von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte. Ich musste herausfinden, warum Frau Berger Geld hatte wie Heu, obwohl es keinen Mann gab, der Geld nach Hause brachte. Herr Berger war nämlich im Krieg geblieben. Ich musste herausfinden, von welchem Glück die Leute sprachen, dass mein Vater heimgekehrt ist.

Nachdem Frau Berger, unter der Aufforderung sie doch bald zu besuchen, gegangen war, sagte ich zu meiner Mutter: "So wie Frau Berger möchte ich auch mal werden. Sie hat immer schöne Kleider an. Sie hat sogar ein Badezimmer, wo das heisse Wasser direkt aus der Wand in die Wanne läuft und fährt ein Auto mit roten Ledersitzen. Außerdem hat sie eine makellose Haut.

"Ha, die hat es leicht so auszusehen, die schafft doch den lieben langen Tag nichts, die braucht doch nur die Beine breit zu machen", sagte sie. Ihre Stimme war passend zu ihrer Miene; schrill, hasserfüllt, neidisch.

Tagelang ging mir dieses "Beine breit machen" im Kopf herum. Ich konnte mir trotz intensiven Nachdenkens nicht vorstellen, dass man soviel Geld verdienen konnte, nur wenn man die Beine breit machte. Es ließ mir keine Ruhe. Ich würde Frau Berger selbst fragen. Heute noch.

Ich machte mich auf den Weg, obwohl ich wusste, dass Frau Berger um diese Zeit niemals gestört werden wollte, weil sie dann ihren Schönheitsschlaf hielt. Selbst Hannelore war während dieser Zeit stets bei einer Freundin. Um so besser dachte ich, dann würde uns auch niemand stören.

Ich stand vor der Türe und wollte gerade klingeln, als die Türe sich öffnete. Mein Vater stand im Flur vor dem Spiegel und richtete seine Krawatte und Frau Berger, in ihrer makellosen weißen Haut, stand nackend neben ihm.
 

Lomil

Mitglied
Es gab wieder Grund zum Jubeln im persilreinen Adenauerstaat, mit Lübke als Bundespräsident. Die ersten Kriegsgefangenen kehrten heim und es herrschte schwarz-rot-goldene Ruhe und Schwamm über die Verbrechen der Hitlerei. Man war wieder wer und zeigte es. Nicht alle, aber Frau Berger gehörte dazu.
Frau Berger war die Mutter von Hannelore; meiner besten Freundin. Bis zu dem Tag, als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte und mir den Umgang mit Hannelore verbat.
"Sage mir mit wem Du umgehst, und ich sage Dir wer Du bist", sagte mein Vater. Das war ihm Bergründung genug, als ich ihn nach dem Warum fragte.

Ich war verzweifelt. Nie wieder durfte ich zu Hannelore nach Hause gehen, bei der alles so anders war, als bei uns, oder meiner anderen Freundin Gisela. Weiße Decke auf dem Küchentisch und im Wohnzimmer Spitzendeckchen auf der Musiktruhe, auf dem Tisch und der Anrichte, auf der auch immer eine reichlich gefüllte Obstschale stand, aus der ich mich stets, ohne zu fragen bedienen durfte. Bei uns zu Hause gab es kein Obst.
Es gab ein Badezimmer, mit verschieden duftenden Badeoelen und Parfüms. Frau Berger besaß sogar eine Trockenhaube. Eine Lieblingsbeschäftigung von Hannelore und mir war es, Friseur zu spielen. Aber am allermeisten würde ich Frau Berger vermissen. Frau Berger war ein sehr schöne Frau und sie war mein Vorbild. So wollte ich einmal werden, mich so kleiden wie Sie, frisieren, so gut riechen wie Sie.

Aber das Bild das der Spiegel mir zeigte und die Sprüche der Jungen aus meiner Klasse, von denen - Schneewittchen, kein Arsch und kein Tittchen - noch zu den netteren gehörte, belehrten mich eines Besseren.
Keine Aussicht auf Schönheit. Die Fotos meiner Vorfahren und lieben Verwandten, die in einem Schuhkarton aufbewahrt wurden, offenbarten die Sinnlosigkeit einer solchen Hoffnung. Väterlicher - wie mütterlicherseits.
Wenn ich schon die Figur von Schneewittchen hatte, warum dann nicht auch ihr Aussehen. Haare, schwarz wie Ebenholz. Haut, weiß wie Schnee. Einen Mund, rot wie Blut.
Meine Haare hatten die Farbe und Beschaffenheit von Putzwolle, mein Mund war fast Lippenlos und meine Haut zierten hin und wieder Eiterpickel.

"Für eine pubertierende nicht ungewöhnlich, das verliert sich mit zunehmenden Alter", sagte meine Mutter. Ich schaute im Lexikon (neben dem Doktorbuch und der Bibel, das einzige Buch, das es bei uns zu Hause gab) nach, wie lange eine Pubertät dauert. Alles was unter "pubertierend" zu lesen stand, war bei mir (außer den Eiterpickeln) nicht zu erkennen. Mir wuchsen weder Brust, noch Schamhaare.
Mein vierzehjähriger Bruder pubertierte auch. Seine Arme mit den schaufelartigen Händen wurden immer länger, seine Stimme tiefer und die Brust die mir wachsen sollte, wuchs ihm. Die einzige Gemeinsamkeit die wir aufwiesen, war die Oberlippenbehaarung. Bei mir ausgeprägter als bei ihm.

Hannelore hatte schon Busen. Und was für einen. Er teilte eindrucksvoll die Rippen ihrer Pullover, die sie fast ausschließlich trug.
"Unanständig für eine zwölfjährige so herumzulaufen; aber bei der Mutter!" hörte ich meinen Vater, mehr als einmal sagen. Was daran unanständig war, würde ich gerne wissen. Sie hatte den Busen, der pubertierenden Mädchen, außer mir natürlich, nun mal wächst. Schließlich konnte sie ihn ja nicht verstecken. Oder meinte er ihre Pullover, die ihn so eindrucksvoll zu Geltung brachten?
Hannelore war, wie ihr Mutter, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Nicht wie meine Mutter, oder die Mutter von Gisela, meiner anderen Freundin. Grau, alles grau in grau. Graue Kleider, graue Mäntel, graue Gesichter. Graue Kapotthütchen auf ausgebleichter Dauerwelle, die weder eigenes, noch das Interesse des Friseurs, an Gesicht und Kopfform erkennen ließen.

Hannelores Mutter trug weiße Seidenblusen, zu dunkelblauen, hochgeschlitzten Röcken. Nylonstrümpfe mit Naht und Stöckelschuhe mit Pfennigabsätzen. Ihr schweres, blondes Haar (gefärbt, wie meine Mutter abfällig behauptete) war am Hinterkopf eingeschlagen, aber lose Locken hingen zu beiden Seiten ihres Gesichtes herab.

Eines Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich schon im Hausflur das Parfüm von Frau Berger riechen. Sollte Frau Berger etwa.... Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, hatte ich, ohne anzuklopfen, die Wohnzimmertüre aufgerissen. Für dieses Vergehen ich regelmäßig gerügt wurde. Wie ich aber des Öfteren beobachten konnte, auch von meinem Vater begangen wurde.

Da stand Frau Berger im Unterrock. In der einen Hand eine Zigarette und in der anderen Champagner, den sie aus einem leeren Senfglas trank, das uns als Wasserglas diente. Die geöffnete Flasche stand vor ihr auf dem Tisch und auch meine Mutter hatte ein halbvolles Glas vor sich stehen. Frau Berger brachte immer etwas mit, wenn sie zu Anprobe kam. Ein bißchen enttäuscht war ich schon, dass es diesmal nichts für mich war. Meine Mutter saß an der Nähmaschine und schloss die letzte Naht an dem Kleid, das sie für Frau Berger geändert hatte.

"Hallo, meine Liebe", sagte sie mit ihrer freundlichen Stimme "du warst ja schon lange nicht mehr bei uns, hast du dich mit Hannelore zerstritten?"
Den Blick, den mir meine Mutter zuwarf, erlaubte es mir nicht die Frage zu beantworten. Nicht wahrheitsgemäß zu beantworten. Mit meinem Schweigen hielt ich Frau Berger auf Abstand und sie fragte nicht weiter.

Aber mir hatte es sowieso die Sprache verschlagen. So schön hatte ich Frau Berger noch nie gesehen. Der weiße Unterrockden den sie trug, hatte über dem Busen und am Saum eine breite Spitze und von der linken Brust bis zum rechten Saumende schlängelte sich eine grüne Efeuranke. Ihre Haut war schneeweiß und ich sah, dass sie unter den Armen keine Haare hatte, als sie sie hob, um das Kleid anzuziehen das meine Mutter ihr hinhielt. Wobei die schwarzen Büschel unter den Armen meiner Mutter abstanden, wie zum trocknen aufgestellte Malerpinsel.

Mir fiel das Wort makellos wieder ein , das ich neulich bei Kaufmann Kroll im Zusammenhang mit Äpfeln gehört hatte.
"Schauen sie, Frau Hoffmann, makellos,einer wie der andere", sagte er und hat ihr jeden einzelnen Apfel zur Begutachtung unter die Nase gehalten.

Makellos war also der Ausdruck für etwas das keine Macken hatte. Frau Berger war makellos. Keine noch so kleine Macke verunzierte die weiße Haut. Vom Scheitel bis zu Sohle. Ihre unbehaarten Beine, mit den unglaublich kleinen Füßen, den brombeerfarben lackierten Zehennägel, steckten in schwarzen Sandalen mit übereinander gekreuzten Riemchen.
Mamas behaarten Beine, mit den großen Füßen, den gelblich-braunen Zehennägeln steckten auch in Sandalen, dessen übereinander gekreuzten Riemchen häßliche, rote Striemen hinterließen.

Mama hatte Macken. Sichtbare wie an den Füßen und unsichtbare die sie unter ihren Kleidern versteckte. Überall hatte sie Macken. Auf dem Rücken, an den Schultern, am Bauch, auf dem Po. Eigentlich am ganzen Körper habe ich sie schon gesehen. Große blaue Flecken. Manchmal waren sie auch gelb und grün. Ich habe sie gesehen, wenn sie sich zum waschen über die Waschschüssel, die auf dem Küchenstuhl stand, gebeugt hatte und sie sich unbeobachtet vorkam. Wenn sie mich bemerkte, hielt sie sofort ein Handtuch vor sich und schimpfte mit mir, weil ich sie angeblich erschreckt hatte. Mama versteckte ihre Macken unter ihren Kleidern. Obwohl nicht mehr sichtbar und selbst wenn sie die schönen Kleider von Frau Berger angezogen hätte, nichts von der Schmuddeligkeit, dem Schmutz und der Vernachlässigung die Armut so mit sich bringt, wäre zu überdecken gewesen. Nichts von dem Aussehen und dem Geruch.

Mit einem mal wurde mir klar, was Frau Berger von meiner Mutter unterschied. Frau Berger hatte keine Macken unter ihren Kleidern. Mehr denn je wusste ich, dass ich so werden wollte wie Frau Berger. Es gab ein Leben, an dem ich nicht teilnahm. Von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte. Ich musste herausfinden, warum Frau Berger Geld hatte wie Heu, obwohl es keinen Mann gab, der Geld nach Hause brachte. Herr Berger war nämlich im Krieg geblieben. Ich musste herausfinden, von welchem Glück die Leute sprachen, dass mein Vater heimgekehrt ist.

Nachdem Frau Berger, unter der Aufforderung sie doch bald zu besuchen, gegangen war, sagte ich zu meiner Mutter: "So wie Frau Berger möchte ich auch mal werden. Sie hat immer schöne Kleider an. Sie hat sogar ein Badezimmer, wo das heisse Wasser direkt aus der Wand in die Wanne läuft und fährt ein Auto mit roten Ledersitzen. Außerdem hat sie eine makellose Haut.

"Ha, die hat es leicht so auszusehen, die schafft doch den lieben langen Tag nichts, die braucht doch nur die Beine breit zu machen", sagte sie. Ihre Stimme war passend zu ihrer Miene; schrill, hasserfüllt, neidisch.

Tagelang ging mir dieses "Beine breit machen" im Kopf herum. Ich konnte mir trotz intensiven Nachdenkens nicht vorstellen, dass man soviel Geld verdienen konnte, nur wenn man die Beine breit machte. Es ließ mir keine Ruhe. Ich würde Frau Berger selbst fragen. Heute noch.

Ich machte mich auf den Weg, obwohl ich wusste, dass Frau Berger um diese Zeit niemals gestört werden wollte, weil sie dann ihren Schönheitsschlaf hielt. Selbst Hannelore war während dieser Zeit stets bei einer Freundin. Um so besser dachte ich, dann würde uns auch niemand stören.

Ich stand vor der Türe und wollte gerade klingeln, als die Türe sich öffnete. Mein Vater stand im Flur vor dem Spiegel und richtete seine Krawatte und Frau Berger, in ihrer makellosen weißen Haut, stand nackend neben ihm.
 



 
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