Mein Pferd

Anonym

Gast
Gleich zur Geburt wurde mir ein Pferd geschenkt, so wie den meisten anderen Menschen auch. Wir wachsen damit auf, das Pferd ist uns nützlich und wird uns im Laufe der Jahre immer vertrauter, bis wir es im Normalfall eines Tages als einTeil unserer selbst empfinden.

Meines war immer bei mir, es trug nicht nur mich, sondern auch alle Lasten meines Lebens zuverlässig, manchmal bis an die Grenze seiner Kräfte. Ich hatte mich bald daran gewöhnt, den Ton anzugeben und die Richtung zu bestimmen; sehr selten spürte ich einen Vorbehalt oder gar Widerstand meines Pferdes, den ich allerdings immer energisch überwinden konnte. Jeden Tag erkundeten wir einen weiteren Teil der Welt, der Radius unserer Ausflüge vergrößerte sich stetig, je älter ich wurde.

Eines Tages, schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden, geriet ich mit meinem Pferd an den Rand des großen Waldes, von dem ich bisher nur gehört hatte. Das waren allerdings wundersame Geschichten. Es sollte dort seltsame Pflanzen geben mit prächtigen Blüten, von denen einige sich nur für einen Tag und eine Nacht öffneten und dann verwelkten. Fremdartige Schreie schallten wie ein Konzert aus dem Dickicht. Was für bunt schillernde Vögel mochte es dort geben? Das wollte ich sehen, dort mußte ich einfach hin. Aber zu meiner Überraschung blieb mein Pferd am Waldrand stehen und war zu keinem einzigen Schritt mehr zu bewegen. Dieses Mal halfen mir weder Ungeduld noch Nachdruck.

An den folgenden Tagen zog es mich magisch immer wieder an den Rand dieses geheimnisvollen Waldes, aber es passierte jedes Mal dasselbe: mein Pferd blieb bockbeinig stehen und verweigerte mir den Gehorsam, ganz gleich, wie ich ihm die Sporen gab und dann sogar die Peitsche. Ich spürte Zorn auf mein widerspenstiges Pferd, begann, ihm die tägliche Nahrung zu halbieren und dann vorzuenthalten. "Du taugst gerade mal für den Pferdeschlachter", beschimpfte ich mein Tier, "du hast zu gehorchen, wenn ich dir den Weg vorgebe!"

Es nützte alles nichts, mein Pferd trug mich zwar samt meinen Lasten zuverlässig und warf mich nicht ab, aber in den ersehnten Wald trug es mich nie. Manchmal sah ich andere Reiter von dort kommen, mit verklärten Gesichtern und sehr aufrecht auf den Rücken ihrer Pferde. Schließlich wandte ich mich an einen berühmten Pferdeflüsterer und beklagte bitter die Differenzen mit meinem nutzlos gewordenen Pferd. Er besah sich das Tier genau, unternahm auch einen kleinen Proberitt. Danach versorgte er erst das Pferd mit Wasser und etwas Futter, rieb es sorgsam trocken und wandte sich dann mir zu.

"Dein Pferd ist gut zu lenken, ausdauernd und treu, jedoch nicht treu bis in den Tod, wie etwa mancher Hund es wäre. Du tätest gut daran, dir seine feinen Instinkte zunutze zu machen. Das Tier hat im Wald ein Rudel Wölfe gewittert, das der groben, menschlichen Nase verborgen bleibt. Die Verweigerung ist ein Selbstschutz."
"Mein Pferd ist schnell und größer als ein Wolf. Es könnte mich verteidigen."
"Was erwartest du? Ein Pferd ist ein Fluchttier, es verteidigt seinen Besitzer nicht. Der Reiter sollte sich rechtzeitig auf seine feine Wahrnehmung verlassen."
Meinen Einwand, daß ich manchmal Reiter mit glücklichen Gesichtern aus dem Wald hatte kommen sehen, ließ er nicht gelten.
"Weißt du denn, wie viele drinnen bleiben? Verirrt, samt ihren Pferden gerissen und gefressen? Davon leben Wölfe schließlich! Ich beglückwünsche dich zu deinem klugen, sensiblen Pferd, hüte es und behandle es mit Respekt! Du hast nur das eine", schloß er.

Der Pferdeflüsterer hat mich nachdenklich gemacht. Gestern war mein Geburtstag, ich bin abermals ein Jahr älter geworden. Mein Ausritt Richtung Waldrand endete wieder damit, daß mein Pferd einfach stehen blieb. Diesmal allerdings tätschelte ich ihm stolz und anerkennend den Hals und dachte an den Glückwunsch des Pferdeflüsterers zu meinem klugen, treuen Pferd.
 



 
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