Mein erster Roman

Kayl

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Mein erster Roman


Merkwürdig, dieser Mensch. Er weiß fesselnd zu erzählen von seiner Insel, den Quellen, Pflanzen, Katzen, Ziegen, mit denen er vier Jahre und vier Monate alleine war. Auf sich allein gestellt. Einsam, wie man es sich einsamer nicht vorstellen kann. Waren seine Wutanfälle, die ruppigen Antworten auf die Fragen der Zuhörer die Folgen dieser Einsamkeit? Er hielt immer wieder im Redefluss inne, um einen Schluck aus dem Whiskyglas zu nehmen. Das Ende seines Vortrags war stets nicht die Schilderung seiner Rückkehr nach England sondern seine Volltrunkenheit. Dann raffte er sich auf, „Ladies and Gentlemen, that´s the End!“, nahm die Whiskyflasche, schwenkte sie zum Abschiedsgruß hoch im Tabaksqualm, dass die nächst sitzenden Zuhörer einige Tropfen mitbekamen, wankte zur Tür und verschwand im Dämmerlicht des Korridors.
Ich hatte mir diesen Alexander Selkirk anders vorgestellt, aufrechter, kräftiger, beherrschter. Aus Allem sprach seine Abscheu vor der Gesellschaft. Er behauptete gar, er wäre freiwillig auf diesem Pazifik-Eiland 350 Seemeilen westlich von Chile geblieben, weil er den mörderischen Alltag an Bord nicht mehr ertrug. Man glaubt es ihm fast, denn die Mannschaft des englischen Freibeuters „Duke“, die ihn am 2. Februar 1709 von der Insel Más a Tierra aufgelesen hatte und die zur Hälfte an Skorbut litt, traf ihn gesund und munter an. Er lief zwischen den Felsbrocken der Vulkaninsel schneller als der Schiffshund. Noch eine Genugtuung für ihn, dass er auf der „Duke“ seinen ehemaligen Kapitän William Dampier wiedersah, zum Navigator degradiert.
Das Abenteuer dieses Seemanns war von Mund zu Mund gegangen, seit er 1711 mit Freibeutern zurückgekehrt war. In der Zeitschrift „The Englishman“ erfuhr ich 1713 zum ersten Mal von seinen Abenteuern. Seitdem ließ mich die Idee nicht mehr los, ihn zu treffen und seine Geschichte, so Gott will, in einem Buch zu schildern.
Die Droschke rumpelt durch die Dunkelheit Bristols zurück zu meinem Quartier. Ich frage mich, wie diesem groben Kerl beizukommen ist, wie ich ihm Einzelheiten entlocken kann. Nicht mit Geld, Geld hat er genug durch drei Jahre Freibeuterei. Ich kann ihm nur seinen Whisky, die Mahlzeiten und Nächte im Gasthaus bezahlen. Und ich könnte ihn damit ködern, dass er durch mein Buch noch bekannter und begehrter würde. Sollte er sich weiter sperrig zeigen, sollte er mir nicht sein Tagebuch ausleihen, werde ich mir die Freiheit nehmen, das Geschehen auf der Insel in meinem Werk nach Gutdünken zu ändern. Vier Jahre scheinen mir zu gering. Ein halbes Menschenleben sollte es sein. Trotzdem darf er nicht nahezu stumm sein wie dieser Seemann bei seiner Rettung. Er muss seine Abenteuer heraus sprudeln können.
Ich werde auch anders beginnen. Den Dauerstreit mit dem Kapitän im Herbst 1704 auf der Cinque Ports mit der Folge, dass er zur Strafe auf der menschenleeren Insel abgesetzt wurde, werde ich nicht erwähnen. Ich mache ihn zu einem Schiffbrüchigen, der als einziger der Mannschaft fast ertrunken an den Strand gespült wird. Damit bin ich der Wahrheit nicht allzu fern, denn die Cinque Ports sank schließlich tatsächlich, von Bohrmuscheln zerfressen, und nahm fast die ganze Mannschaft mit in den Tod.
Ich habe in groben Zügen mein Buch im Kopf, als ich vor dem Gasthof aus der Kutsche steige. Im Kerzenlicht meiner Stube werde ich die ersten Notizen machen. Ob sich die Mühe lohnt? Soll ich es wagen? Das Gezerre mit dem Verleger, der mich kurz hält und selbst ein Vermögen ansammelt? Gibt er mir 100 Pfund, vielleicht 200? Nach vielen Pamphleten, Flugschriften, Zeitungsartikeln wäre es mein erster Roman. Der schwadronierende Seemann ist mir zuwider, aber seine Geschichte, obwohl nun acht Jahre alt, ist unglaublich, und noch nie ist das Erleben eines Menschen auf einem kleinen Eiland im Buch beschrieben worden.
Bisher war mein Tun als Daniel Foe, Autor und Herausgeber einer sozialkritischen Zeitung, als Kämpfer für politische und religiöse Freiheit, wenig einträglich. Als 32-jähriger Kaufmann verlor ich mehrere wertvolle Schiffsladungen im Krieg gegen Frankreich und musste einen Bankrott von 17 000 Pfund erklären. Erst mein satirisches Gedicht „The True-Born Englishman“ brachte 1701 mit 21 Auflagen so viel Erfolg, dass ich mich erdreistete, meinen Namen zu ändern. Was klingt denn vornehmer und flüssiger? Daniel Defoe.
Dank einer Öllampe finde ich die hölzernen Treppenstufen, von unzähligen Stiefeln ausgeschliffen, den hölzernen Handlauf, von unzähligen Seemannspranken poliert. Lärm dringt aus der Gaststube, und ein widerlicher Duft von Bier, heißem Fett und Tabaksqualm. Der Wirt hat mir verraten: Kapitäne und Sklavenhändler feiern mit Dirnen ihre Erfolge. Ich versuche, möglichst wenig davon berührt zu werden. Das Sündhafte stößt mich ab.
Da stehe ich allein im fremden Zimmer in kerkerhafter Dunkelheit, in fremden Gerüchen von modrigem Holz und Möbelwachs. Allmählich erkenne ich schemenhaft Stuhl und Tisch und Bett. Ich gehe ans Fenster. Als graue Silhouette steht das Nachbarhaus, schwarzes Mauerwerk, schwarze Fenster, dunkle Dächer, darüber ein Himmel ohne Mond, ohne Sterne, der kaum einen Deut heller ist. Mir fröstelt. Selkirk wird kaum Ähnliches erlebt haben bei stets freiem Blick wo er ging und stand, keine Mauer, keine gespenstisch dunklen Fenster, keine bedrückend düsteren Dächer.
Hier die muffige, düstere Stube, dort das paradiesische Eiland im grenzenlosen Meer unter grenzenlosem Himmelsblau.
Einerseits gefangen auf der Insel, hatte Selkirk doch die größtmögliche Freiheit. Was hatte er zu tun mit riskanten Geldgeschäften, Verträgen, zähen Verhandlungen mit Verlegern, dem aufreibenden Betrieb einer Ziegelei? Ich fühle mich eingeengt. Sein Tun beschränkte sich auf das Lebensnotwendige, und das war nicht viel außer Sammeln, Jagen, Essen und Trinken. Er wurde nie dazu befragt, einzige Grenze war der Umriss der Insel. Vier Jahre Paradies? Zugegeben, ich bin durch meine gesellschaftskritischen Schriften bekannt und beliebt, bin von meinen Anhängern gar aus dem Gefängnis geholt worden, aber hatte dieser einfache Seemann mit seinem märchenhaften Inselleben und einträglichen Kaperfahrten nicht das bessere Los gezogen?
An seinen Abenden in den Londoner Pubs wiederholte er: „Ich habe jetzt 800 Pfund, aber nie wieder werde ich so glücklich sein wie damals, als ich keinen Viertelpenny besaß.“
Ich hole die Schwefelhölzer heraus. Beim Aufflammen der Öllampe verschwindet die dunkle Mauer und mein Spiegelbild erscheint: ein 60-jähriger im Rock, mit Stickereien verziert. Üppige Locken fallen auf Brust und Schultern. Es sind nicht meine Locken, nur Zierrat, wie die Stickereien des Rocks, eine Perücke. Maskenhaft, unecht. War nicht Selkirk wahrhafter in seinem Wollpullover, der üppige Brusthaare freiließ, selbst volltrunken? Auch das Whiskyglas war kein Zierrat, er hat es gebraucht.
Eine Spinne tastet sich auf der Fensterscheibe vor und quert mein Spiegelbild, erst meine Stickereien, dann, weil ich noch in Gedanken stillstehe, meine kunstvolle Perücke. Eine Spinne in meiner Perücke, totes Haar, das nur der Zierde dient! Natur besiegt Kultur.
Ich muss lachen bei der Vorstellung, mit geputzten Stiefeln, reichlich besticktem Rock und prächtiger Perücke allein am Strand dieser Insel zu sitzen.
Hat mein Lachen jemand gehört? Nein, nur der Lärm der Gaststube dringt als Gemurmel an mein Ohr.
Ich ziehe die Stiefel aus, hänge den Rock in den Schrank, ziehe die Perücke vom Kopf, betrachte den lockenhaarigen Putz und werfe ihn auf den nächsten Stuhl.
Aber, so ich dasitze im Unterkleid ohne Stiefel und Perücke, so sehr dieser Mann meinen Tugendvorstellungen Hohn spricht, hat er nicht im Gegensatz zu mir den Urbegriff der Freiheit erfahren?
Während ich notiere, fällt mir im Halbdunkel die Perücke ins Auge, vom Stuhl herunter gerutscht. Ich glaube zu träumen, sie bewegt sich am Boden. Von Mal zu Mal ruckt sie um Fingerbreite zur Wand. Die Tinte aus der Feder gestrichen, schaue ich zu, halb belustigt, halb verwundert. Nachdem ich aber einmal für kurze Zeit im Gefängnis war, vermute ich richtig. Dort suchten Nager nach den Resten der ohnehin kargen Mahlzeiten.
Vor 16 Jahren wurde ich eingesperrt, weil ich in einem anonymen Beitrag gegen die Intoleranz der anglikanischen Kirche gewettert hatte.
„Halt, kleine Maus, die Perücke ist mein!“ Das Tierchen huscht ins Dunkel des Stubenwinkels. Wäre ich jetzt auf dieser Insel, würde ich das Mäuslein sein Nest bauen lassen von meinem Kopfputz.
Was bedeutet Eigentum? Ist nicht diese Romanfigur das ideale Medium, diesen Begriff zu hinterfragen und dem Leser nahe zu bringen?
Was ist Eigentum? Attribut, Beiwerk, Anhängsel, Teil einer Person, über das sie lebenslang nach Belieben verfügt? Ohne Bezug zum Mitmenschen? Warum Erwerb, warum nicht Verzicht? „Eigentum“ scheint nicht nur ein juristischer, sondern auch ein psychologischer Begriff zu sein. Das Schicksal dieses isolierten Seefahrers zeigt es.
Die Insel, die Ziegen, Pflanzen, waren sie sein Eigentum? Warum sollte er darauf bestehen? Was hätte er auf der Insel mit Geld gemacht? Das Schicksal des Alexander Selkirk fokussiert die Probleme um Freiheit, Eigentum, Existenz, Religion und Lebenssinn. Ich werde dem Abenteuer deutliche Gesellschaftskritik beifügen. Raubein Selkirk wird mein Mittel sein zur Verbreitung meiner Ideen für eine gerechtere Wirtschaftsordnung, für Religionsfreiheit, geradlinige Politik.
Trotzdem stellt sich ein Problem. Wie soll der Einsiedler erkannt werden in seiner Beziehung zur Umgebung. Hilfreich wäre ein Partner, vielleicht ein Widerpart, der Freiheit und Eigentum deutlicher werden lässt.
Sollte mein Eremit auf seinen Streifzügen menschliche Fußspuren finden? Sollte er auf einen Insulaner treffen, mit dem er seine Existenz teilt? Richtig, das würde der Handlung Spannung geben. „Freitag“ sollte er heißen, nach dem Wochentag des Aufeinandertreffens.
Die Anmerkungen, die in mein Notizbuch fließen, sind das für mich Neue des heutigen Abends, runden das Bild dieses vierschrötigen Seemanns ab. Mit einem 16-jährigen Milchmädchen war er 1717 nach London durchgebrannt, war aber bald wieder auf See. Ebenso bald wieder an Land, heiratete er in Plymouth eine verwitwete Gastwirtin, und war wieder verschwunden, als er wegen Heiratsschwindels verfolgt wurde.
Das Licht der Öllampe ermüdet. Ich lösche es. Das Bett riecht sauber nach Seife.
Sollte ich diesem schlechten Vorbild ein Denkmal setzen? Nein, mein Held heißt nicht Alexander Selkirk!
Seit Tagen geht mir ein Name durch den Kopf, der für meine zukünftigen Leser die Bedeutung von Abenteuer und Freiheit haben wird, einer Freiheit ohne gesellschaftliche Konventionen, ohne bestickten Rock und ohne Lockenpracht einer Perücke. Ein Name, der nach salziger Seeluft riechen wird, der mir besonders jetzt in der kühlen, dunklen Kammer, in schwarzer Nacht, inmitten fremder Mauern blauen Himmel, wärmende Sonne, nickende Palmen verspricht: Robinson Crusoe.
 



 
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