Melanie: Zwei Zauberwörter

2,00 Stern(e) 1 Stimme
Meine Eltern erachten es als ihren größten Erziehungserfolg, dass ich „Bitte“ oder „Danke“ sage, wenn es erforderlich ist. Als ich einem geäußerten Wunsch zum allerersten Male das Wörtchen „Bitte“ voranstellte, waren sie außer sich vor Freude. Meine Mutter eilte glücksstrahlend in den Tante-Emma-Laden, das einzige funktionierende Geschäft unseres Dorfes, und teilte den anwesenden Klatschweibern diese vier Buchstaben mit. Ich war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre jung. Mein Vater verhielt sich zurückhaltender; er verinnerlichte seine Freude und leerte einige Flaschen Bier. Als seine Frau heimkehrte, lallte er, dass das Leben auch schöne Seiten habe.
Von diesem Glückstaumel erfuhr ich aus Mamas Mund, als ich geistig reifer war.
Meine Großeltern schenkten mir einen Puppenwagen mit inliegender Barbiepuppe. Als ich dafür „Danke“ sagte, fiel Oma in Ohnmacht und Opa goss sich zwei Schnäpse hinter den Knorpel.
Man mag es kaum glauben, aber diese beiden Wörter revolutionierten das Erziehungswesen unseres Dorfes. Die Familien wetteiferten miteinander, welches eigene Kind die beiden Zauberworte ebenfalls in den Sprachgebrauch übernimmt. Die Knaben zeigten sich beim Erfassen schwerfälliger als die Mädchen. Eine typische Erscheinung, die bis ins Mannesalter reicht.
Der Wetteifer nahm allerdings unerfreuliche Züge an. Einige Eltern zeigten sich in der Hervorhebung ihres Kindes so verbissen, dass es nebensächlich wurde, ob es tatsächlich die Wörter „Bitte“ oder „Danke“ beherrschte. Es kam zu Streitigkeiten, die in einigen Fällen mit Fäusten ausgetragen wurden. Die kinderreiche Familie Popp behauptete sogar, drei ihrer zwölf Kinder hätten schlagartig das Wortmaterial zu ihrem Umgangston gemacht. Eines der drei Genannten war erst ein Jahr alt. Weil die Popps wegen ihres Kinderreichtums staatlichen Schutz genossen und ihr Weiterpoppen durch Gewalteinwirkung nicht beeinträchtigt werden durfte, schluckte man deren Falschbehauptung zähneknirschend.
Bald war es soweit gekommen, dass sich die Kinder des Dorfes mit „Bitte“ und „Danke“ vernünftiger zeigten als die Eltern. Die lagen sich nicht nur in den Haaren, sondern riefen sich auch unflätige Worte zu, verwüsteten gegenseitig die Vorgärten und vergifteten in drei Fällen einen Hund und zwei Katzen.
Als diese Ausschreitungen das polizeilich genehmigte Höchstmaß überschritten, sah sich der Ortsbürgermeister gezwungen, eine öffentliche Einwohnerversammlung einzuberufen. In der kam es, wie nicht anders zu erwarten, zu hitzigen Debatten. Die gerieten schließlich so aus dem Ruder, dass nicht mehr festgestellt werden konnte, weshalb man sich hier stritt.
Einige übereifrige Ehefrauen warfen sich vor, den Ehemann verführt und zur Untreue gezwungen zu haben. Als die Fensterscheiben des Versammlungsraumes zu Bruch gingen und einige geworfene Blumentöpfe die Köpfe der Anwesenden beschädigten, forderte der Bürgermeister per Notruf die Polizei an. Die rückte mit zehn bis an die Zähne bewaffneten Bullen an, die die erschrocken innehaltenden Versammlungsteilnehmer mit schussbereiter Maschinenpistole umzingelten.
Da ein Polizeieinsatz der übergeordneten Dienststelle als Erfolg gemeldet werden muss, knüppelte ein Bobby den betrunkenen Adolf Hiller nieder, der laut gelallt hatte: „Heil – hupp – ihr – hick – Nazischergen!“
Wäre dieser demokratiefeindliche Ausruf gütig hingenommen worden, wäre der ganze Tumult recht bald vergessen gewesen und die Bürger unseres Dorfes wären wieder die geworden, die sie mal waren.
Ein hinterhältiges Subjekt hatte den Aufruhr aber an die große Glocke gehängt. Wie sich erst später herausstellte, war der Verräter ein ehemaliger Informant der Staatssicherheit der DDR.
Kaum also war des Volkes Aufbegehren über die Grenzen unseres Dorfes hinaus bekannt geworden, erschien ein Journalist der Bild-Zeitung und befragte einige Senioren, die geistesabwesend auf der Bank unter der alten Dorflinde saßen. Am nächsten Tag prangte auf dem Titelblatt der Bild in großen schwarzen Lettern die Überschrift Mord und Totschlag in Trottelsdorf!
Trottelsdorf ist der Ort, in dem ich lebe. Es lässt sich denken, dass sofort auch die anderen Medien auf uns aufmerksam wurden. In Scharen drangen sie in unser Dorf, interviewten und filmten jeden und jedes mit der Absicht, die Bild-Zeitung an Übertreibung zu übertreffen. Dass die Auslöser dieses Spektakels zwei kleine deutsche Höflichkeitswörter waren, blieb ungenannt, da unbekannt.
Erst nach Wochen hatten sich die Wogen geglättet und still ruhte wieder der See.
Auch die Bundeskanzlerin nahm das mit Erleichterung auf, als sie davon erfuhr.
 



 
Oben Unten