Millionen roter Rosen

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Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es schlug so hart, dass er Angst hatte, es würde jeden Moment zerspringen. Blut rauschte in seinen Ohren als er in die Hocke ging, um mit zittrigen Händen eine einzelne Blume aus der Vase zu ziehen die angefüllt war mit frischen, roten Rosen. Die purpurfarbenen Blüten sahen im schwächer werdenden Mondlicht beinahe schwarz aus. Schwarz, dachte er und atmete tief ein. Die kühle Morgenluft füllte sein Lungen und er schaute nach Osten. Am Horizont bildete sich langsam ein rosiger Faden der den Sonnenaufgang ankündigte. Nervös sah er auf die Uhr. Es war fünf. „Noch dreißig Minuten“ dachte er. Prüfend ging sein Blick durch den Garten. Ja, es war genau so wie er es sich vorgestellt hatte. Jeder Quadratzentimeter war mit roten Rosen bedeckt. Einige waren in Eimern, Vasen und Schalen zu Sträußen gebunden, einige bedeckten - gleich einem roten Teppich - die Wiese und einige, gebunden zu Kränzen, hingen an Bäumen und am Zaun wo sie von einer kühlen Brise hin- und her geschaukelt wurden. Ganz vorsichtig, ohne die auf dem Boden liegenden Blüten zu zertreten, schlich er zum Zaun, hinter dem die Blumenpracht nicht aufhörte. So weit das Auge reichen konnte, glich der Feldweg einem roten Fluss. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Wieder sah er auf die Uhr. Viertel nach fünf. Wie langsam die Zeit doch dahin sickert, wenn man warten muss, dachte er.

Während er, einem Schatten gleich, am Zaun ihres Hauses stand und der aufgehenden Sonne entgegensah, dachte er nicht an das faszinierende Farbenspiels des Augenblicks, auch nicht an die Farbenpracht zahllosen Sonnenaufgänge die er einst in seinen eigenen Bildern festhielt. Er dachte weder an den Verkauf der kleinen Holzhütte in der er gewohnt, noch an den viel zu niedrigen Preis den er für seine geliebten Bilder bekommen hatte. Er dachte nicht an den alten, geflickten Koffer, der versteckt hinterm Haus stand und dessen Inhalt nun seinen ganzen Besitz darstellte und auch nicht an die großen Augen des Blumenhändlers, den er um eine riesige Lieferung roter Rosen bat. Er spürte kein Bedauern, keine Reue. Das einzige, woran er dachte, war sie. Das einzige, was er fühlte, war Liebe. Handelte er unbedacht? Vielleicht. Verlor er seinen Verstand? Möglich. Setzte er seine Existens aufs Spiel? Ja. Doch in diesem Moment hatte nichts davon eine Bedeutung.

Plötzlich war er von einem Lichtkegel umgeben. Er duckte sich instinktiv und sah erschrocken zum Haus hinüber. In einem der Zimmer brannte Licht. Es war ihr Zimmer. Er sah auf die Uhr. Es war sechs. Blitzschnell und auf die Blüten achtend, schlich er sich zu der großen Eiche in der Mitte des Gartens. Er huschte in ihren Schatten und beobachtete das Fenster. Jeden Augenblick würde es aufgehen, so wie jeden Morgen um diese Zeit. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, als auch schon eine zierliche Frauengestalt ans Fenster trat, es öffnete und mit geschlossenen Augen die frische Morgenluft einatmete. Einen Augenblick lang hielt sie inne. Atmete aus. Öffnete die Augen. Stutzte. Blinzelte. Öffnete den Mund als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich doch anders. Sie schaute sich um, konnte niemanden entdecken und starrte vollkommen hin- und hergerissen zwischen Entzückung und Ungläubigkeit auf die rote Decke die sich über Nacht auf den Garten und den Feldweg gelegt hatten. Sie schien eine Ewigkeit da zu stehen und er, noch immer die eine Rose in den Händen haltend, sah hinauf und wünschte dieser Augenblick würde nie vergehen. Er verfolgte jeder Gesichtsregung jeder noch so kleinen Bewegung, als wolle er ihr Bild für immer in seiner Erinnerung festhalten.

Auf einmal drehte sie den Kopf und sah zu ihm hinunter. Er war sich sicher, dass sie nicht mehr als einen Schatten erkannt haben konnte und doch erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie drehte sich um und verschwand. Sein Herz schlug wieder schneller. Jetzt würde sie kommen. Zu ihm. Aufgeregt schaute er sich um, als suche er nach etwas, dann fiel sein Blick auf die Rose in seiner Hand und er lächelte über seine kindliche Nervosität. In diesem Augenblick tauchte ihre Silhouette in der Eingangstür auf. Die ersten Sonnenstrahlen kündigten den neuen Tag an und ließen jede Blüte samtig schimmern. Sie lief ein paar Schritte in den Garten auf den dicken Stamm der Eiche zu. Blieb etwas unsicher stehen, als warte sie darauf, dass er sich zeigt. Er hingegen kratzte seinen ganzen Mut zusammen atmete tief ein und setzte zum ersten Schritt an, als er ihre Stimme leise flüstern hörte: „James?“ und dieses eine Wort ließ ihn erstarren. Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Was sollte er jetzt tun? James? Hatte sie wirklich eben James gesagt? Seine Gedanken schlugen Purtzelbäume. Während er, immer noch jeden Muskel im Körper angespannt, das rechte Bein zum Schritt erhoben und die Rose in der Hand haltend dastand, wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Alle Romantik, alle Hoffnung, alle Schönheit des Augenblicks wurden mit diesem einen Namen weggewischt und machten einer Enttäuschung, einer Verzweiflung Platz, die nicht in Worte zu fassen war. Er spürte, dass ihm jeder Muskel im Körper schmerzte und versuchte sich zu entspannen, senkte den Fuß und die Hand mit der Rose. Irgendwo tief in seinem Inneren spürte er einen Schmerz.

„James? Bist du das?“, hörte er wieder. Er hatte keine Wahl. Langsam kam er hinter dem Baum hervor. Gerade noch konnte er ihr freudig strahlendes Gesicht, ihre funkelnen Augen sehen. Doch nur eine halbe Sekunde lang. So lange, wie sie brauchte, um zu erkennen, dass er nicht James war. Das Lächeln verschwand. Die Augen weiteten sich und der Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. „Aber...“ mehr konnte sie nicht sagen. Und er wollte es nicht. Langsam ging er auf sie zu. Streckte seine Hand aus, die immer noch die Rose fest umschlossen hielt. Doch sie sah die Rose nicht. Sie starrte ihn nur an und Fassungslosigkeit sprach aus ihrem Gesicht. Er ging einen weiteren Schritt auf sie zu, nahm ihre Hand und legte die Rose hinein. Dann sah er hoch, ihre Blicke trafen sich und einen Augenblick lang, kurz bevor sie ihren Blick senkte und auf die Blume in ihrer Hand sah als sähe sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Rose, hatte er das Gefühl, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Doch sie ließ ihren Blick gesenkt und schwieg. Sie schwieg auch noch als er sich umdrehte und ging.

Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf. Und während er den mit Rosen bedeckten Feldweg entlang ging, fielen lange dunkle Schatten auf die Blüten und ließen sie dunkel rot, fast schwarz erscheinen.
 



 
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