Morgen wie dieser

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Es war ein stürmischer Maitag. Die Sonne wärmte ordentlich durch das geschlossene Fenster, aber im schattigen Haus war es empfindlich kühl. Sie rührte in ihrem Tee und sah zu den Bäumen hinauf. Die Kronen schwankten bedächtig, waren ausladend, noch astig, mit einem spärlichen Grün besetzt. Eine Krähe flog heran, setzte sich auf einen Zweig und schüttelte ihr Gefieder. Sie hüpfte ein paar Mal hin und her, beruhigte sich schließlich und sah mit geheimnisvoll glänzenden Augen zur Küche hinein. Sie legte den Kopf zur Seite, als wollte sie die Frau hinter der Scheibe etwas fragen, überlegte aber noch, wie sie es wohl am besten aussprach.
Die Frau in der Küche führte ihre Tasse zum Mund. Sie nahm mehrere kleine Schlucke und fuhr sich zwischendurch mit der Zunge über die Lippen. Der Tee dampfte heiß und schmeckte bitter. Die Frau verzog ein klein wenig das Gesicht. Sie stellte die Tasse ab und stützte ihren Kopf in die Hände. Das Haus lag still. Die Kinder waren in der Schule, der Mann auf dem Weg zur Arbeit. Sie saß an ihrem Tisch und wartete darauf, dass der Tag begann.
Die Küchenuhr nahm rasselnd Anlauf und gab einen einzigen heiseren Ton von sich: Acht Uhr. Noch eine Stunde.
Sie begann den Tag nie vor neun. Das war eins ihrer Prinzipien, an gewohnten Dingen festzuhalten. Früher hatte sie um Punkt neun Uhr an ihrem Schreibtisch gesessen. Alles war noch am Vorabend vorbereitet worden, so dass sie ohne Verzögerung ihr Tagwerk beginnen konnte. Sie war fleißig, eifrig, eine nette Kollegin, still, aber zuverlässig. Man mochte sie. Die erste Kündigungswelle erfasste sie trotzdem. Sie packte ihre Sachen, schaute nicht zurück, auch nicht auf die Hände, die man ihr reichte, und erst recht nicht in die Augen, die vor Mitleid und Scham zur Seite glitten. Man war ja nicht betroffen, gottseidank, aber konnte man dafür?

Morgen wie dieser konnten so unerträglich sein. Besonders, wenn die Müdigkeit noch in den Gliedern steckte. Die Dunkelheit einer Maiennacht war alles andere als beruhigend, weil die Gedanken hin- und herstoben, weil die Katzen schrieen, das Gebälk knarrte und der Wind pfiff. Weil der Kopf schmerzte und der Körper bleischwer in die Matratze drückte. Weil das Bettzeug kratzte und die Heizung gluckerte. Weil sich in der Schublade die Rechnungen drängelten, weil die Kinder pubertierten, weil die Bügelwäsche nie ein Ende nahm, weil die Mutter am Telefon gemault hatte, sie fühlte sich vernachlässigt, weil der Mann breit neben ihr lag und sicher gut träumte.
Er träumte immer schöne Sachen. Morgens, beim Frühstück, erzählte er ihr dann von seinen Reisen, von seinen Abenteuern, manchmal auch von bizarren Begegnungen. Von Frauen träumte er nie. Jedenfalls hatte er noch keine erwähnt und sie fragte ihn nicht danach. Sie fürchtete, er würde ihr nicht die Wahrheit sagen und sie würde sie doch in seinen Augen lesen können.
Sie, dagegen, träumte von Männern. Ziemlich häufig sogar. Es waren Figuren ohne Gesichter, und doch wusste sie, dass sie männlichen Geschlechts waren. Sie fühlte es irgendwie. An ihren Bewegungen, an dem gurrenden Timbre ihrer Stimmen, an den großen Händen, die sie zuweilen hielten. Nicht, dass sie ihrem Mann ein einziges Mal untreu gewesen wäre, weder in ihrer Traumwelt, noch sonst in ihrem Leben. Bisweilen sehnte sie sich danach, doch es mangelte ihr an Courage und – was viel schlimmer war – an Gelegenheiten. Zudem dachte sie gelegentlich darüber nach, dass sie mit einem flüchtigen Augenblick so vieles aufs Spiel setzen würde. Sofort fragte sie sich: Was?

Die Krähe guckte aufgeregt nach rechts und links. Dann beugte sie plötzlich ihren Körper vor und öffnete den Schnabel. Die Frau hinter der Scheibe nahm einen Schluck Tee. Er war schon abgekühlt. Sie trank weiter, ohne abzusetzen, in kräftigen Zügen, hastig, wie ein durstiges Kind. Dann war die Tasse leer. Sie stellte sie auf den Tisch zurück und starrte auf die Krähe.
„Nun sag’s schon“, zischte die Frau und machte ganz kleine Augen. Ihre kurzen Haare standen ihr unordentlich vom Kopf ab.
Die Krähe schoss mit einem kräftigen Schrei aus dem Baum heraus. Ihr Klagen drang durch die ungeputzten Fensterscheiben. Mit heftigem Flügelschlag fuchtelte sie sich durch die Sturmböen. Die Frau sah ihr nach, bis der Vogel in einem weiten Bogen auf dem fernen Ackerland zu Boden ging.
Sie stand auf und brühte sich eine zweite Tasse Tee.

Gestern war wieder so eine Nacht gewesen. Dabei war sie sorgsam vorbereitet ins Bett gestiegen, duftete nach einer teuren Körpercreme, die seit ihrem letzten Geburtstag darauf wartete, einem Mann wenigsten den Geruchssinn zu rauben. Irgendeinem. Die Kinder hatten wohl gemeint, es sei an der Zeit, ihre Mutter mit ein paar Hilfsmitteln auszustatten? Nein, sie hatten diese Lotion vermutlich nur aus einer Laune heraus erstanden oder aus Mangel an Fantasie oder weil sie sich eine ebensolche Mutter wünschten, wie sie aus den perfekt arrangierten Hochglanzfotos lächelten oder sie hatten einfach nur gedankenlos irgend etwas eingekauft.
Sie erinnerte sich nicht allzu gerne an jenen Tag: Es war ihr zweiundvierzigster Geburtstag gewesen. Auf der Tortestand eine 43. Sie sagte nichts und niemandem fiel es auf. Erst viel später, mitten in der Nacht, die Familie schlief schon, war sie aus dem Bett aufgestanden und in die Küche geschlichen. Kaum jemand hatte die Torte angerührt; sie bestand nur aus gelber Creme und steinharten Marzipanröschen. Die 43 grinste höhnisch in der Dunkelheit. Sie pulte die 3 vom Kuchen und weil sie nicht wusste, wohin damit, schob sie sie zwischen ihre Zähne und zerkaute sie krachend. Mit dem Finger zeichnete sie eine große 2 in die weiche Oberfläche und weil es ihr nicht genügte, trat sie an den Schrank und holte die Kaffeedose hervor. Sie ließ das braune Pulver die mit dem Finger gezogene Mulde ausfüllen und trat kritisch ein paar Schritte zurück. Dann ging sie erschöpft zu Bett.
Am nächsten Morgen war die Torte fortgeräumt. Der Frühstückstisch blieb leer; man verabschiedete sich hastig in einen anstrengenden Tag. Sie saß beim Tee und grübelte, wo man wohl die Torte vor ihr versteckt hielt.

Das Wasser war heiß. Sie sah den Teebeutel sich sprudelnd aufbäumen.

War sie eigentlich jemals richtig verliebt gewesen? Sie hatte doch drei Kinder! Zeugnisse ihrer Fruchtbarkeit sehr wohl, aber ihrer Liebe?
Wenn sie ihren Kopf abends auf den ausgestreckten Arm ihres Mannes bettete, seinen Leib roch und die Brusthaare sie auf der Wange kitzelten, dann dachte sie zuweilen betrübt: Wir sind ein gutes Gespann. Geduldig, wie zwei Pferde, die man einst vor einen Wagen schirrte und auf eine lange Reise schickte. Und der Kutscher, das Leben selbst, drosch auf sie ein und gewährte ihnen kaum Rast, sich einander kennenzulernen. Sie hätte so gerne mit ihrem Mann auf einer ruhigen Weide ausgeruht, nur sie beide, ganz alleine, mit dem Rücken zur Sonne und vor sich nichts als Wiese und Weite.
Sie mochte die Männer in ihren Träumen nicht, aber sie dachte oft an sie. An ihre fordernden Hände, an ihre Besorgtheit um sie und an die knisternde Stille des Schweigens. Ihr Mann und sie schwiegen auch sehr oft. Es brauchte nicht vieler Worte, den Anderen zu verstehen. Aber dieses Schweigen war freudlos, träge und behäbig. Und es war immer fort mit Arbeit verbunden: Die Butter fehlt! Das Kind muss ins Bett! Wo ist meine Zeitung? Wann gibt’s Essen? -- Mit Gefühlen hatten diese wortlosen Blicke nicht das Geringste gemein; sie wurden ausgetauscht, um die Verständigung auf ein Minimum zu reduzieren, um sie blitzblank zu legen, vom Unwesentlichen befreit. Es wurde eh zu viel dummes Zeug gesprochen auf der Welt....

Der Teebeutel gluckste im Wasserbad. Sein Bauch blähte sich ihr braun entgegen.

Manchmal träumte sie auch davon, noch mehr Kinder zu bekommen. Was hinderte sie daran? Biologisch betrachtet, war die Abstellkammer des Lebens für sie noch nicht aufgegangen. Außerdem, ein Kind, so ein kleines, knuspriges Ding, würde sie ihrem Mann vielleicht wieder etwas näher bringen? Er liebte Kinder, seine ganz besonders. Aber die Ältesten waren groß; bald würden sie eigene Wege gehen und nichts mehr bliebe ihr und ihrem Mann, was sie beide wenigstens hilfsweise miteinander verband. Sie würden ihrer einzigen Grundlage beraubt werden, sich, wenn auch sparsam, mitzuteilen, und, um des anderen stimmlosen Augenseufzen zu entgehen, über die Zeit auch noch erblinden und ertauben.
Also, warum nicht ein letztes Kind?

Sie zog den Teebeutel an seinem Band aus der Tasse und warf ihn in einem kühnen Schwung in den Ausguss.

Weil es ein „letzter Versuch“ wäre, darum eben nicht! Es ist, wie das Ballonfahren, dachte sie bitter. Den letzten Landeplatz sollte man nicht gezielt anfahren, denn wenn man ihn verfehlte, war der Absturz gewiss. Und sie war ja bereits gelandet. Das Feld ihres Lebens war holprig und kahl, aber sicher. Allein die Tatsache, eben nicht darum zu wissen, wann alle Gelegenheiten unwiederbringlich verloren, alle Aussichten endgültig verstellt sein würden, rief in ihr eine tröstende Taubheit hervor. Sie badete ihre strapazierte Seele in der Sicherheit, nicht um das Ende zu wissen. Damit, so glaubte sie, bliebe ihr wenigstens eine der sich immer heftiger schließenden Türen offen. Und irgendwann, vielleicht, würde sie einen Fuß hinein bekommen, und einen zweiten, und den Kopf, und den ganzen Rest, der noch aushielt, was von ihm verlangt wurde. Dann würde sie sich frei machen, ganz bestimmt, schwerelos fliegen, fliegen, fort, fort, getragen vom nimmermüden Wind.

Sie trank ihren Tee in kleinen Schlucken. Er war noch heiß und schmeckte bitter. Die Sonne wärmte ihr Gesicht, doch an den Beinen prickelte die Gänsehaut.
 
Hallo Katrin,

eigentlich eine gute Geschichte, würde mich hier nicht das Zuviel an "Krähe" und Assoziationen wie Wald,Häuschen...stören; ach, ich weiß nicht, wie ich's ausdrücken soll, die Geschichte könnte ich mir gut als Fortsetzungsroman in Frauenzeitschriften oder "Neue Post" und dgl. vorstellen; eigentlich dann aber schade wiederum um die Gedanken der Protagonistin, die doch wohl in andere Richtung gehen?? Denn, fort, wohin - zum Traumprinzen oder zur eigenen Entfaltung?

Gruß aus München

Birgit
 
keine Ahnung!

sie sagt's ja nicht. Aber ich denke: ein Traumprinz ist es nicht, den sie sich wünscht. Vielleicht nur sein Ohr und sein Auge und vielleicht noch ein bisschen Herz. Aber gut, ich denke nach, über deine Kritik. Nun, nach dem zweiten Lesen, bemerke ich es selbst - ein bisschen zu Frauenromanisch das Ganze. Aber was hast du gegen die Neue Post? (Was wurde aus der Alten? Und womit - sapperlott - machst du dich selbständig?) Grüße aus Mecklenburg, Katrin
 
Hallo Katrin,

ich habe gegen die "Neue Post" u.a. Zeitschriften dieses Couleurs mein Argument der Volksverdummung, gegenüber meiner Abneigung für Frauenzeitschriften u.ä., (Brigitte, Freundin u.dgl.) mein Argument der Ausrichtung auf äußere, anstatt innere Werte, und so könnte es fortgehen...Ich bin hier keinesfalls radikal, mir gefällt auch gutgemachte Werbung, aber ich persönlich würde mich eben geehrter fühlen, in einer guten Anthologie anstelle in der Rubrik "Wahre Gefühle" einer Frauenzeitschrift gelesen zu werden, die wahrscheinlich eh auch tiefergehende Texte nicht annehmen würde.

Dies sind meine Argumente - und was deine Frage der Selbstständigkeit angeht, nun, damit kann ich überhaupt nichts anfangen, außer daß hier vielleicht ein Vorurteil deinerseits nach Erklärung verlangt. Aber ob ich nun im Mediabereich, in der Werbung oder in der Immobilienbranche tätig bin, wo ist da der Unterschied? Abzocken kann ich überall, auch in der Kulturszene - ich kann mich aber auch als guten Dienstleister in's Spiel bringen, der nicht Wert auf schnelles Geld legt sondern auf gute Arbeit - zum Beispiel!

Zuerst mal damit schönen Gruß nach Mecklenburg, das ich leider überhaupt nicht kenne

Birgit
 
Hallo Kathrin,

Virginia Woolf hat mich auch einmal sehr fasziniert - inzwischen sehe ich sie etwas mehr "zeitspezifischer" - ich antworte dir noch, bin momentan zu sehr lädiert, muß gleich wieder in's Bett....

Birgit
 

smilla

Mitglied
alles offen

liest sich flüssig und ist nicht langweilig. Thema spricht an und läßt Raum eigene Interpretation für den Inhalt zu finden. Eine Frau die ihren Lebensinhalt in Frage stellt und verborgene Wünsche aufspürt. Was sie damit machen wird ist völlig offen und ungewiß, wie eine Pflanze die gerade aufgeht.
 

gareth

Mitglied
Liebe Katrin Volkmann,

ich sehe, dass ich da jetzt ziemlich spät komme, aber ich wollte doch anmerken, dass mir die Geschichte aus verschiedenen Gründen gut gefällt. Da ist die Episode mit der 43 auf der Torte. Ich glaube, viel besser und eindrücklicher kann man die Betroffenheit der Frau und die Oberflächlichkeit der Familie im Alltag kaum darstellen. Auch die knappe aber lebensnahen Darstellung ihrer Kündigung, ihrer Träume und selbst des Körpercreme-Geschenkes finde ich sehr gelungen. Und auch die Auseinandersetzung mit der Krähe hat mir gefallen.
Da ich noch nie einen Fortsetzungsroman in der Neuen Post gelesen habe, fehlt mir der Vergleich. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Birgit Kachel eigentlich mit ihrer Anmerkung sagen wollte, dass ihr der Text zu oberflächlich ist. Das wäre dann aus meiner Sicht ein ganz unangebrachter Kommentar gewesen.
Das meint jedenfalls gareth
 



 
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