Narben

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Chrisch

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Narben

Ich fühle mich so leer als wenn es mich früher gar nicht gegeben hätte. Früher? Ich habe Angst die Augen zu schließen; denn auch im Schlaf verfolgen mich Bilder, die ich nicht deuten kann. In letzter Zeit wurde es schlimmer. Jede Nacht wache ich schweißgebadet auf und weiß nicht warum. Egal was ich esse, mir wird schlecht und ich würge alles wieder raus, dabei habe ich solchen Hunger. Irgend jemand sagt mir, dass ich furchtbar aussehe und ich müsse unbedingt zum Arzt gehen.
Gründlich lasse ich mich untersuchen, aber auch der Neurologe findet nichts. Es scheint psychische Ursachen zu haben, sagt er. Ich wehre mich dagegen, schlucke Schlaftabletten, zu viele, wie sich herausstellt als ich, eines Tages, im Krankenhaus aufwache. Alle fragen mich, warum ich das getan habe. Verwirrung. Was getan?
Langsam dämmert es mir, dass sie meinen, ich hätte mich umbringen wollen. Daran gedacht habe ich schon oft, aber ich will noch nicht.
Ein netter Mann im weißen Kittel gibt mir eine Adresse. Es sei höchste Eisenbahn, fünf vor Zwölf, sozusagen. Wenn ich nichts dagegen unternehme, werde ich bald nicht mehr unter den Lebenden weilen, meint er eindringlich und ich verspreche ihm hin zu gehen.
Nun bin ich hier, mit offenen Augen auf der Liege und soll erzählen. Wovon? Ich fühle mich leer und elend. Er fragt mich nach meiner Kindheit, mir wird schlecht, Panik überfällt mich. Warum? Wir kommen nicht weiter, bis er mir Hypnose vorschlägt. Zögernd überlasse ich mich dem Fachmann.

Dann, ein erster schwacher Lichtblitz, der mich zu tiefst erschreckt. Ich höre mich schreien und dann schluchzen. Ich sitze in dem dunklen Schrank, in den sie mich ständig einsperrt. Angstvoll höre ich mein Herz laut pochen und es raschelt in der Ecke. Da wird die Tür aufgerissen. Sie packt mich, kreischt mich an, ich solle endlich mit der Heulerei aufhören. Das sei nicht zum Aushalten. Sie hat das nasse Handtuch wieder in der Hand. Das tut so weh. Nackt steckt sie mich wieder in den dunkeln Schrank. Mama, ich will doch wieder artig sein. Bitte lass mich raus. Ich höre wie die Haustür geschlossen wird und dann ist lange nichts. Mama, ich hab so hunger.
Irgendwann denke ich, jetzt muss ich sterben, wie schön! Und der Hunger ist auch vorbei. Zusammengerollt träume ich als sie mich finden und in saubere Tücher wickeln.
Die Schwester im Krankenhaus hebt mich hoch, ich schreie wieder vor Angst, aber da kommt kaum was aus meiner Kehle und als sie mich an ihre Brust drückt, weine ich nur noch still. Sie tut mir nichts. Erleichtert genieße ich die Wärme ihrer Nähe. Mit meinen fünf Jahren, ist es das erste Mal, dass ich mich geborgen fühle. Das weiße Bett ist mollig, die Schwestern sind so lieb zu mir und ich werde dicker und kann wieder laufen. Meine neue Mama holt mich ab und ich vergesse den dunklen Schrank, das nasse Handtuch und meine Schreie.

Jetzt nach zwanzig Jahren kommt alles wieder. Ich erinnerte mich, als ich sie sah, nicht wirklich. Sie stand da, eine Verkäuferin im mittleren Alter in der Möbelabteilung. Wir suchten Schlafzimmereinrichtungen. Sie demonstrierte uns die Zweckmäßigkeit des Bettes, der Kommode und dann öffnete sie den Schrank. Mir wurde plötzlich übel. Damals wusste ich nicht warum. Ich erkannte meine Mutter, die Verkäuferin, nicht, aber jetzt, hier auf der Couch, als ich aus der Hypnose erwache, ist es mir klar. Ich spüre die überwältigende Übelkeit und rieche den Urin im Schrank, sehe sie mich schütteln und das nasse Handtuch. Ich krümme mich zusammen. Wird denn das nie aufhören?
Langsam dämmert es mir, dass das schon lange her ist. Der Therapeut ist ein Engel. Er bringt mich in langen Sitzungen zurück in die Wirklichkeit, macht mir Mut, zeigt, was aus mir geworden ist und hilft mir damit zu leben. Irgendwann brauche ich keine Schlaftabletten mehr und ich wiege auch wieder normal, etwas zu wenig, aber ich darf zufrieden sein. Ich kann in den Schrank schauen, ohne dass das Grauen und der Fekalgeruch mich erschlägt, aber meist mache ich ihn schnell wieder zu.
Warum, denke ich. Warum hat sie mir das angetan? Was hat sie dazu getrieben? Eine Zeit lang wollte ich sie tot sehen, so tot wie ich meine ersten Jahre gemacht habe, als wären sie niemals dagewesen, aber nun? Ich muss herausfinden, was es ist, was sie so grausam gegen dieses kleine Wesen sein ließ, dass sich doch so sehr nach Liebe sehnte, seit es mit Schreien auf die Welt gekommen war und im Schluchzen fast gestorben wäre.
Ich habe Angst, Angst davor, vielleicht dieses Namenlose geerbt zu haben, Angst davor selbst ein Kind zu haben.
 

Honey

Mitglied
Hallo Chrisch...

ich hoffe mal für dich das dies keine eigenen Erinnerungen sind. Solche Narben (treffender Titel) heilen wohl nie... sondern werden nur verdrängt. Und leider ist diese Unmenschlichkeit nur allzuoft Generationenübergreifend. Aber der Mensch in deinem Text lässt sich ja helfen. Ich denke mal er würde es besser machen mit eigenen Kindern.

Sehr ergreifende, einfühlsame Geschichte.

lg Honey
 

Chrisch

Mitglied
Hallo Honey,

zum Glück habe ich selbst eine sehr schöne Kindheit mit liebenden Eltern gehabt.
Der Gedanke, wenn nicht, hat mich aber hier stark beschäftigt.
Schön, dass du gesagt hast "der Mensch", weil ich vermieden habe, das Geschlecht anzugeben; denn Kinder sind die Opfer und vielleicht werden sie wieder zu Tätern an ihren eigenen Kindern.
Außerdem weiß ich, dass es viele gute Psychologen gibt, die den Traumatisierten wirklich helfen können.

LG Chrisch
 
S

suzah

Gast
hallo chrisch,

du kannst dich gut in solche schicksale hineinversetzen, überzeugend geschildert.

aber der therapeut ist ein "engel", glaube ich, sagt man nicht so, oder?

grüße suzah
 

Chrisch

Mitglied
"Ich" bin gerettet worden von diesem Therapeuten.
Erleichtert und erlöst wie durch einen Engel ins Leben zurückgeholt.

LG Chrisch
 



 
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