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NETT

Es hatte keinen Sinn mehr. Nach unzähligen vergeblichen Versuchen, dem Schmerz durch immer neue Stellungen auszuweichen, gab er das Herumwälzen auf, krümmte sich stöhnend hoch und stieg – vorsichtig – aus seinem Bett, in dem er auf ein wenig Schlaf gehofft hatte. Die Kaffeemaschine bereitete ihm nach gewohntem Programm ein Hellwachgetränk zu, denn was nützte ihm die bleischwere Müdigkeit, wenn sie ihn doch nicht in die ersehnten weichen Wolken einer nächtlichen Bewusstlosigkeit sinken ließ?
Stockdunkel war es noch draußen, aber die ersten Vögel hatten bereits mit dem Morgengesang begonnen. Schnell wurden die Stimmen zahlreicher. Das frische Grün der Bäume und Büsche, aus dem der helle Gesang kam, sah jetzt, vor Sonnenaufgang, noch schwarz aus. Wie alles ringsum. Schwarz wie der Kaffe, den er gerade zu schlürfen begann. Er fand die über der Natur lastende Dunkelheit passend, empfand ihr allmorgendliches Ende als täglich wiederkehrenden Betrug. Das Dunkel war die Wahrheit. Letztlich für jeden. Für ihn selbst von Anfang an. Und jetzt, am Ende seines kläglich misslungenen Lebens auch noch der Knochenkrebs! Er machte eine unwillige Bewegung und stieß sich den Arm an der Tischkante. Der Schmerz schoss glühend wie flüssiger Stahl hoch bis in die Schulter. Er verfluchte Gott, an den er nicht glaubte.
Der Arzt hatte ihm dringend davon abgeraten, mehr von den Schmerztabletten zu nehmen. Wegen der Suchtgefahr! Er musste lachen. Konnte das ein schlechter Tag sein? Ein Tag mit Gelächter schon am Morgen?!
Das Vogelkonzert erreichte seine volle Lautstärke. Er übersetzte es in Gedanken. „Schnallst du nicht, dass die Weiber dein jämmerliches Gepiepse nicht hören wollen? Mich wollen die hören! Nur mich! Und ich sag’ dir: Bevor’s wieder dunkel wird hab ich sie alle im Nest! Und du keine! Kapiert?!“.
Als wäre er gemeint, so wie er von anderen Männern in seinem Leben nur zu oft in diesem Sinne gemeint gewesen war, flüsterte er: „Ja, kapiert.“ und wischte sich mit dem Handrücken einen nassen Streifen von der Wange. Vorsichtig, wegen der Schmerzen. Aber die Schmerzen in den Knochen waren jetzt nicht die schlimmsten.
„Kapiert. Ja. Schon lange.“
Er quälte sich vom Küchenstuhl hoch, goss angewidert den kalt gewordenen Rest Kaffee in die Spüle und schlug mit vor Schmerz und Wut verzerrtem Gesicht das Fenster zu.
„Ruuuhääää!“, brüllte es aus der Nachbarwohnung.
„Ruhe?“, brummte er, „Kannst du haben! Brauchst nur auch mal kurz zu stolpern im Treppenhaus! Wärst nicht der erste genickbrüchige Widerling!“

Draußen war es mittlerweile hell geworden. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Ein schöner Tag! Für Millionen Menschen. „And the loser is…!“ „Buuuuh!“, schrie ein imaginäres Publikum. Dieses „Buuuuh!“, das ihm in seinem Leben so viele zugebrüllt hatten. Oft ganz leise. Ja, man kann auch leise brüllen. Ohrenbetäubend, herzbetäubend leise. Vielleicht sogar ein mitleidiges Lächeln eines wunderschönen Gesichts dazu: „Schau – du bist wirklich nett…“. Verfluchtes Wort! Verfluchtes Wort, dem immer das andere verfluchte Wort folgte, das „aber“!

Zehn Uhr. Zeit für den kurzen Spaziergang im Park gegenüber. Tag für Tag sah er dort glückliche Menschen, konnte sie aus der Nähe hassen, ihnen den Krebs in die Knochen wünschen, der jetzt in seinen eigenen wütete und fraß.
Ob das gerecht wäre? Was scherte ihn dieses Wort, das ohnehin niemand zu erklären vermochte?! Und wenn es doch einen Gott gab? Dann musste es einer sein, der wahllos Menschen begünstigte und erhob oder erniedrigte und in Verzweiflung stürzte. Just for fun! Er reckte spontan den Mittelfinger gen Himmel.
Dann raffte er sich auf, quälte sich in den Mantel und verließ seine Wohnung, in der es nach Krankheit und Tod stank, um den Menschen dort draußen ein wenig von der unverschämt verheißungsvollen Frühlingsluft wegzuatmen.

Im Park blühten die Osterglocken. Ihr Name erinnerte ihn an das Märchen von der Auferstehung eines gewissen Herrn Jesus. Immerhin war es die Auferstehungszeit der Natur. Aber er wollte ab in die Erde und nie wieder an deren Oberfläche! Nie wieder auf die Bühne, auf der er die Rolle des Deppen, des ewigen Verlierers hatte spielen müssen. Nicht einmal groß und tragisch in der endlosen Reihe seiner Niederlagen. Einfach nur lächerlich!
Paare schlenderten Hand in Hand an ihm vorüber, tauschten verliebte Blicke.
Ja, flüstert nur zärtlich vom Leben. Der Tod geht neben euch und schickt euch seinen Pesthauch zwischen eure Küsse!

Er suchte eine freie Bank. Es gab keine. Aber auf einer saß nur eine einzelne Frau. Er würde ihr den Tag verderben, indem er neben ihr Platz nahm.
Der Frau waren Papiere zu Boden gefallen, aber sie machte keine Anstalten, sie aufzuheben. Dachte sie vielleicht, er würde es tun?! Er würde einfach auf die Papiere zeigen und sagen: „Sie haben etwas verloren!“.
Das Gesicht der Frau war leichenblass. Als er näher kam, erkannte er sie. Oder täuschte er sich? Nein, es war Beate!
Er hatte es sich vor langer Zeit abgewöhnt, um den heißen Brei herumzureden. Diesmal machte er es besonders kurz: „Hallo, Beate, welch zweifelhaftes Vergnügen, dich nach all den Jahren doch noch mal sehen zu müssen! Hätte dich um ein Haar aus deinem schütteren Schopf nicht wiedererkannt!“
Aber die Frau schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben.
Er hatte sich so nahe neben sie gesetzt, dass sein schlechter Atem durch die langen tiefen Schluchten des grauen Faltengebirges fegte, das sich dort erhob, wo früher das makellos schöne Gesicht der Frau gewesen war. Sein durch leidvolle Erfahrung bei der Betrachtung des eigenen Körpers geschultes Auge brauchte nicht lange, um die Zeichen der Krankheit auch an ihr zu entdecken. Die Bestätigung fand er in den Papieren, nach denen er jetzt doch, aus purer Neugier, ein paar Mal mit reisigdürren Fingern gefischt hatte, bevor er das ärztliche Gutachten erwischt und aufgehoben hatte. Metastasierender Leberkrebs!
Fast wäre er bei seinem Bemühen vornüber von der Bank gefallen. Das letzte Mal, dass er vor Beate zu Boden gegangen war, lag über vierzig Jahre zurück und war die Folge eines hammerschlagartigen Fausthiebs ihres Liebhabers gewesen, der ihm den Kiefer zerschmettert hatte.
Mitten in seinen Erinnerungen wurden ihm plötzlich die Unterlagen von einer fast schon bis auf die Knochen abgemagerten aber trotzdem noch erstaunlich kräftigen Hand entrissen. „Was fällt Ihnen ein?!“
„Lass gut sein, Beate.“, sagte er nur. Und noch einmal, mit unendlich matter Stimme, „Lass gut sein.“
Er hatte sich ihr langsam wieder zugewandt und sah in ihre gelbtrüben, von riesigen schwarzen Ringen umgebenen Augen, die am Grunde dieser Schwärze lagen wie in tiefen Gräbern und deren Blick gerade erst widerwillig aus der endlosen Leere zurückgekehrt war, um zu sehen, wer da vom Rande der Totengruft zu ihnen hinabschaute.
„Heinz!?“, flüsterte sie schließlich. Und selbst aus diesem Flüstern war noch deutlich die Hoffnung herauszuhören, ihr Gegenüber möge jetzt den Kopf schütteln.
Doch dieses Gegenüber wählte für die Bewegung seines von eigener Krankheit gezeichneten Hauptes unmissdeutbar die Vertikale.
Musste das Schicksal so grausam sein? Ausgerechnet ihr verschmähter und verachteter Möchtegernliebhaber von einst wurde Zeuge ihrer Verzweiflung!
„Darf ich vorstellen: Knochenkrebs!“, Heinz deutete eine Verbeugung an, „Ging übrigens vom Unterkiefer aus.“
„Tatsächlich?“. Sie versuchte, so gleichgültig wie möglich zu wirken, konnte aber in Wahrheit einen gehässigen Freudenschrei kaum unterdrücken. Sie wusste, was es hieß, an Krebs zu sterben. Nur: Sie hatte dieses Schicksal nicht verdient. Er allemal! Genau diese Strafe war die einzig angemessene für die Ungeheuerlichkeit seiner romantischen Liebeserklärung von damals! Und wenn er sich jetzt auch gelassen gab, ja mit seiner Verbeugung eben sogar Witze über die Krankheit machte, so kannte sie ihn doch viel zu gut, um nicht zu wissen, dass er in Wahrheit ein sensibler, also ein schwacher Mensch war. Ein aus sicher schließlich doch noch gewonnener Selbsterkenntnis zu Recht mutloser Versager, der, im Gegensatz zu ihr, nicht die Kraft hatte, aus einsamem Entschluss seinem Elend ein Ende zu setzen.
Sie würde das schon sehr bald tun. Alles war vorbereitet. Ein schöner Sterbehelfer, Doktor Robert Knuttsch, würde ihr die Hand halten, wenn es soweit war. Dackelblick kostete extra. Aber sie hätte sogar Tränen und Liebesschwüre über das Grab hinaus bestellen können nach ihrem Lottogewinn im vorigen Monat. A bisserl spät, lieber Gott, gelle?! Aber solchen Unsinn wollte sie gar nicht. Nur den schönen Knuttsch anschauen. Das sollte ihr letzter Blick auf diese Welt sein. Ein Blick auf Schönheit.
In ihren Gedanken an Knuttsch konnte sie nachher weiterschwelgen. Jetzt erst einmal zu Heinz, den ihr der Teufel als Vorgeschmack auf die Hölle geschickt haben musste. An Satan konnte sie sich kaum rächen. An Menschen dagegen konnte man es. Vor allem an den Heinzen dieser Welt! Also fasste Beate einen bitterbösen Plan. Sie erzählte Heinz von ihrer Absicht, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen und schilderte ihm mit überzeugenden Worten, wie viel ruhiger sie sich dadurch fühle. Natürlich erwähnte sie Knuttsch mit keiner Silbe. Denn sie musste es schaffen, Heinz, der von sich aus nie den Mut dazu finden würde, zu überreden, auch den Freitod zu wählen, ohne dass er von dem Sterbehelfer wusste. Nur so konnte sie ihm eine Kapsel geben, die sie noch präparieren und ihm bei einem zweiten Treffen – leider musste es dieses geben – mit viel Heimlichtuerei zustecken wollte. Beates fünfter Ehemann war Apotheker gewesen und sie hatte so dies und das beiseite geschafft.
Die Wirkung der Todeskapsel, die sie ihm als rasch und angenehm, ja euphorisierend beschrieb, würde in Wahrheit furchtbar sein! Kein sanftes Entschlummern. Muskelkontraktionen würden Heinz stundenlang vor Schmerzen brüllen lassen, bis die letzte Lebenskraft verbraucht war!
Und es schien zu gelingen. Heinz zeigte Interesse.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war jener, Heinz über all die Zeit selbst nicht bewusst gewesene, Rest von Liebe, den er – trotz allem - für sie empfand. Ja, wenigstens jetzt, wenigstens im Sterben, wollte er mit ihr vereint sein
„Bea!“, sagte er mit warmer Stimme und griff nach ihrer Hand, „Es gibt Dinge, die kann man nicht mit schönen Worten sagen. Und doch stehen andere Dinge dahinter, die unvergänglich und wundervoll sind.“
Sie erschrak. Nein! Das durfte nicht wahr sein! Wollte er ihr etwa mit seinem schwülstigen Gerede sagen… Oh Gott, welch ekelerregende Vision hatte sie da heraufbeschworen! Er wollte mit ihr gemeinsam sterben! Statt des schönen Robert Knuttsch würde der widerliche Heinz bei ihr sein, wenn es zu Ende ging. Sie unterdrückte ein Würgen. Schade, an der Hinrichtung, wie sie ihr vorgeschwebt hatte, würde Heinz vorbeikommen. Aber was half’s? Jetzt musste es schnell gehen! Und sie wusste auch schon sehr genau wie.
Freundlich schaute sie ihn an: Du willst…“, half sie ihm bereitwillig.
„Du hast verstanden, ja?“. Ihn durchflutete eine Welle alter Glut.
„Du willst es mit mir gemeinsam tun, nicht wahr?“, fragte Beate mit zärtlicher leiser Stimme und überwand sich, seine Hand zu streicheln. Die Übelkeit wurde sofort heftiger und würde jeden Augenblick ihr Recht fordern. Sie musste sich also beeilen.
Heinz nickte nur stumm und schaute „seine Bea“ verliebt an. Ihr Körper mochte verwüstet sein, ihre Seele aber war wunderschön.
„Heinz,“, sagte die wunderschöne Seele, und es lag soviel edles Mitgefühl, soviel mildes Verständnis und – Bedauern in ihrem Blick!, „Heinz, du weißt, ich finde dich wirklich sehr nett…“
Das „aber“ hörte er nicht mehr.
 



 
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