Neun Tage im Winter

Cafard

Mitglied
Die Tage verstrichen ereignislos, allmählich keimte ein unbestimmter Wunsch auf, der Wunsch nach einer Neuigkeit, die an meinen Gefühlen rüttelt.

Sicher, es passiert immer mehr als genug, was an den Gefühlen rütteln könnte, und dennoch, ich wartete auf einen Umschwung, auf eine Wendung, die alles in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Es geschah nichts dergleichen, keinerlei Blitze aus heiterem Himmel, ich begrüßte all die liebgewonnenen Bekannten des Alltags, die Arbeit, den Feierabend, das warme Essen, ein Glas Wein, eine Sendung im Fernsehen, das gute, das gesicherte Leben, ich musste nicht traurig sein, und dennoch...

Wenn man wirklich so empfinden würde, könnte man seinen Wunsch in einen Film hineintragen, jene Sendung war ein Film, er spielte in der Bretagne: Ein ziemlich finster dreinblickender Mann hatte seine Heimat verlassen, es zog ihn aus der Kleinstadt in das große, das ganz große Paris.

Dort, in Paris, saugt er seine Herkunft aus, es gelingt ihm, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, er saugt alles aus, was die Menschen in Saint-Lunaire ihm einst an Stoff geboten hatten. Bis etwas geschieht, seine Eltern sterben bei einem Autounfall, und sechs Monate später soll das Haus, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden.

Er reist in die Bretagne, er begegnet dort den Menschen in seinen Büchern, die alte Mado heizt ihm gehörig ein: „Drei Bücher lang hast du auf deine Familie gespuckt! Und doch bist du genau wie dein Vater, unfähig, eine Entscheidung zu treffen! Ihr habt keine Eier, ihr Delamares!“

Das lässt ihn nicht kalt, er beginnt, seine Gewissheiten, sein ganzes Leben zu überdenken, er bleibt länger als geplant in seinem Elternhaus, ein wunderschönes Haus, direkt am Strand gelegen, er verweilt dort: Neun Tage im Winter, wie der Titel des Films lautet.

Weiter verrate ich nichts, der Film läuft am Donnerstag um 13.45 Uhr auf Arte, (oder vorher aus der Mediathek ziehen), ich verrate nur, wie sehr ich mich in dieses Haus verguckt habe, wie ich hin- und hergerissen war, ob ich aus Paris abhauen soll beziehungsweise fort aus Düsseldorf, um am Meer zu leben, entzückt von dieser bretonischen Sommerfrische, die Winter einfach mal weggedacht.

Es klingelte unverhofft, ein Bote kam die drei Treppen hoch, der Bote überreichte mir ein Telegramm, ich öffnete den Umschlag, zuerst blickte ich auf das ernste Schmuckblatt, dann sah ich die kurze Nachricht:

Madame Baudard ist verstorben, Sie hat Ihnen ein Steinhaus am Meer vermacht.

Ich brauchte einen ehrlichen Schnaps, um die kleine Scham runterzuspülen, wieder einmal hatte ich eine bisher unbekannte Großtante draufgehen lassen, weil ich sonst nicht weiß, wie ich an eine solche Wendung meines Lebens herankommen soll.

Bereits ein Friedhof voller Großtanten.
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Cafard,

Ein Tagtraum. Der Ich-Prot. fühlt sich in der Ereignislosigkeit seines Lebens gefangen, der er gerne entfliehen möchte und er hofft, dass irgendetwas passieren möge, was sein Leben, natürlich in positiver Weise, verändert. Eine plötzliche Erbschaft, ein Lottogewinn … damit sprichst du 95% aller Menschen aus der Seele.
Solche Ereignisse kommen dann doch irgendwann, ganz unvermittelt und können einschlagen, wie eine Bombe, im Guten, genauso wie im Schlechten. Ich kenne beide Varianten und sollte die Zweite eintreten, wünscht man sich sein altes, langweiliges Leben zurück.
Ein schöner Text, in dem sich wohl jeder wiederfindet, die Friedhöfe sind regelrecht überfüllt mit solchen Groß-(Erb)-Tanten.

Grüße, Thomas
 

Cafard

Mitglied
Vielen Dank, Thomas,

stoßen wir auf das langweilige Leben an, ein Prosit auf die Mittelmäßigkeit!

Dein Kommentar hat mich sehr gefreut.

Cafard
 



 
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