Notgedrungen

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Theodore

Mitglied
Ich war sehr gut gelaunt, als mein Vater bewusstlos in der Notaufnahme eintraf. Meine größte Befürchtung war es, dass er noch hätte reden können. Einer seiner Arbeitskollegen benachrichtigte mich umgehend, denn er war an jenem Tag auf einem Betriebsausflug, so dass ich noch vor dem Rettungsdienst eintreffen konnte. Meine Kanzlei lag nur 700 Meter vom Krankenhaus entfernt.
In einem Szenario des koordinierten Chaos schob der Erste von drei Rettungssanitätern die Trage mit einem Fahrgestell, der Zweite hielt den Beatmungsschlauch, welcher am Mund meines Vaters fixiert war und bis in die Luftröhre reichte, der Dritte wiederum hielt das Oxylog, mit dem regelmäßig Sauerstoff aus einer Gasflasche in den Beatmungsschlauch gepresst wurde. Der Beißkeil im Mundwinkel verhinderte das Abdrücken durch die Zähne, eine Kochsalzlösung hing an dem seitlichen Ständer der Rettungsliege, aus der die farblose Flüssigkeit durch einen feinen Schlauch floss, direkt in die Vene seiner rechten Armbeuge, die mit einer Verweilkanüle durchstochenen war. Der Notarzt musste noch am Unfallort eine Punktion der Rippenmuskulatur durchführen, weil sich feine Sauerstoffbläschen im rechtsseitigen Spaltraum der Lunge sammelten, die mit jedem Atemzug akkumulierten, bis die angestaute Luftblase so groß war, dass der Lungenflügel keinen Platz mehr zum einatmen hatte. Der Notarzt zeigte mir das dünne Metallrohr, welches in den Rippenzwischenraum gestochen wird und dann ein zischendes Geräusch verursacht, weil die angesammelte Luft nach außen entweichen kann. Es ist interessant, dachte ich, dass sich derart viel Luft in den Zwischenräumen der Lunge befinden kann, so viel, bis sie in sich kollabiert. Was ein Leben lang die Existenz sichert, kann durch ein zufälliges Ereignis den Tod herbeiführen.
Mein Vater hatte immer ein schwieriges Verhältnis zu mir, was vielleicht an der Art und Weise lag, wie der Herr Anwalt sein Verhalten mir gegenüber auslebte. Er konnte sehr herrisch auftreten und gebot Folgsamkeit, Strenge und Disziplin. Meine Mutter starb früh und so wurden wir für unser beider Leben verantwortlich. Der legale Aspekt erschien geradezu überwichtig für unsere Beziehung. Ich studierte Jura und mein Vater war bereits mit ganzem Herzen Anwalt, eine Koryphae auf dem Gebiet der Patientenverfügungen. Vorträge, Seminare, Präsentationen, Lehrveranstaltungen, es gab nichts was mein Vater auf diesem Gebiet ausließ um vehement seine Meinung zu verkünden. Es war ein gutes Geschäft. Ich selber habe, mehr überredet als überzeugt, eine derartige Verfügung durch ihn schreiben und beurkunden lassen. Dort steht, >>dass mein Leben nur so lange lebenswert ist, wie sich mein Körper aus eigener Macht heraus selbst erhalten kann. Sollte mein Körper nicht eigenständig Leben können, akzeptiere ich den Tod als unumgängliches Ereignis meines Lebens. In dieser Überzeugung, das höchste Gut des Lebens in der autonomen Entscheidung zu finden, habe ich die Patientenverfügung verfasst, um Entscheidungen treffen zu können, wenn ich meinen Willen nicht mehr verständlich äußern kann.<< Dazu gehört unter anderem und insbesondere genau jene Situation, in der sich mein Vater befunden hatte. Der Wortlaut der Patientenverfügung ist eindeutig: >>Ich wünsche die Einstellung künstlicher Flüssigkeitszufuhr, künstlicher Ernährung und ganz besonders die Einstellung künstlicher Beatmung.<< Wie gesagt, ich war sehr gut gelaunt meinen Vater zu sehen, als er in die Notaufnahme kam. Ich kann die damalige Entscheidung verteidigen, denn ich bin sein nächster Angehöriger und verantwortlich für die Umsetzung seines Willens.
Zu der Frage, was beim Unfall meines Vaters passiert sei, sagte der Notarzt, dass er mit dem Fahrrad hinter einem LKW herfuhr, der Metallstäbe bei offener Ladefläche transportierte. Nach einem ruckartigen Anfahren lösten sich mehrere Stäbe und schnellten von der Ladefläche gegen den Brustkorb meines Vaters. Als die Rettungskräfte eintrafen war er bereits blau angelaufen - cyanotisch hieße das - und bewusstlos, er konnte seinen Willen nicht mehr frei äußern. Mit diesem Wissen im Hinterkopf fragten mich die aufnehmenden Ärzte der Notaufnahme, wie mit dem Leben meines Vaters umgegangen werden soll. Ich grinste innerlich, erinnerte mich diabolisch an den Ort, wo mein Vater seine Patientenverfügung heimlich aufbewahrte und an die rechtliche Situation, die für mich jetzt eindeutig war. Mich würde keine Schuld treffen. Ich sagte den Ärzten, dass mein Vater wohl keine Patientenverfügung besitze und sie deshalb alles unternehmen sollen, um an seinem Leben festzuhalten.
 

Ilona B

Mitglied
Hallo Theodore,
willkommen bei der Leselupe. :)
Ich bin selber noch nicht so lange dabei und deswegen etwas vorsichtiger mit meinen Bewertungen.
Ich gehe mal davon aus, dass Du beruflich etwas mit Medizin zu tun hast. Diese ausführliche Beschreibung der Notfallmaßnahmen,die Beschreibung des Unfalls und der Passagen der Patientenverfügung lassen darauf schließen. Für meinen Geschmack viel zu lang. Was mich interessiert: Warum haßt die Hauptperson ihren Vater so sehr?
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Fleißig ER geguckt? :)

Im Zeitalter der (christlichen) Patientenverfügungen und Nachlassregelungen ist das für mich eher eine bitterböse Satire über den Wunsch eines Menschen, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen erhalten möchte. Genau die erhält er dann doch. Das heißt, Satire trifft es nicht, das ist eher menschenverachtend, was hier rüber kommt.
Genau wie Ilona frage ich mich, was der Grund für einen derartigen Hass auf den Vater ist.

LG Doc
 

Paloma

Mitglied
Guten Morgen Theodore,

herzlich willkommen in der LeLu.
Deine erste Kurzgeschichte gefällt mir recht gut. Sie ist flüssig zu lesen, an manchen Stellen eventuell ein wenig langatmig. Es braucht vielleicht nicht die ausführliche Patientenverfügung …
Mir würde es auch reichen, wenn der Prot. gut gelaunt oder zufrieden wäre, sehr gut gelaunt ist mMn ein bisschen arg übertrieben.

Das offene Ende lässt Spielraum für die eigenen Gedanken.

Ein paar Tippfehler haben sich eingeschlichen, die findest du sicher beim Drüberschauen.

Gerne gelesen.

Liebe Grüße
Paloma
 
U

USch

Gast
Hallo Theodore,
mir hat die Geschichte sehr gefallen und ist bis auf kleine Fehler, wie Paloma das schon erwähnt hat (meld dich, wenn du sie nicht findest), gut geschrieben. Besonders die medizinische war sehr lehrreich in ihrer Präzision. Und dann das diabolische Ende, da hilft denn auch die beste Juristerei nicht :)
Weiter so hier in der LL und LG
USch
 



 
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