Nur verlaufen

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Nur verlaufen

Georg wusste nicht mehr, wie er in die Strasse hinein gekommen war. Er wusste vor allem nicht, wie er wieder hinaus kommen sollte. Schon seit Stunden suchte er sein Hotel, wo er losgegangen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen.
„Nur eine kleine Erkundung der näheren Umgebung“, hatte er zu seiner Frau gesagt. „In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
‚Das war vor – wie lange laufe ich jetzt schon hier rum’, fragte sich Georg Natwisch. ‚Drei Stunden? Vier?’ Die Sonne war in den engen Häuserschluchten kaum zu sehen. Seine Uhr hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Eine Neue zu kaufen, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Von wegen, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Oder auch, ohne Uhr bin ich ein freier Mensch und brauche mich nicht um die Hetze der anderen Leute kümmern. Insgeheim wusste er natürlich, dass es reine Bequemlichkeit war.
Ein abschätzender Blick zum Himmel, sagte ihm folgendes: Da er gegen Mittag losgegangen war und es jetzt zwischen den Häusern schon arg dunkel wurde, musste es schon später Nachmittag sein. Also war er mindestens fünf Stunden unterwegs.
„Na, klasse“, murmelte er vor sich hin. „Mariechen wird begeistert sein. Der erste Urlaubstag und schon ist der Alte weg.“ Er lächelte leise, als er an seine Frau dachte. Sie würde wieder einen fürchterlichen Aufstand machen und schließlich fragen, wo er gewesen war. Wie üblich. „Georg, Georg!“ äffte er seine Frau Marie nach. „Du bist schlimmer als ein kleines Kind.“
„Hä! Was hast du gesagt?“
Erschrocken drehte er sich um und versuchte zu ergründen, wo die Stimme hergekommen war. In einer dunklen Ecke bewegte sich etwas. Undefinierbare Geräusche ließen Georg ein paar Schritte zurück weichen.
„Wer ist da?“ Er kam sich ziemlich blöd vor, bei dieser Frage. Ein grausiges Ächzen, bei dem ihm Gänsehaut die Arme aufraute. Dann ein lautes Scheppern von umkippenden Flaschen. „Wohl nur ein Penner“, brummte Georg erleichtert und ging rasch weiter.
‚Ich muss jemanden fragen, sonst laufe ich hier nächste Woche noch herum’, überlegte er. ‚Wenn es hier nur nicht so einsam wäre. Man könnte meinen, die Stadt macht einen Betriebsausflug.’
Die auflockernde Wirkung seines privaten Scherzes blieb aus, denn jetzt kamen zwei Gestalten auf ihn zu, denen er noch nicht einmal in einer belebten Einkaufsstrasse begegnen wollte. In schwarzem Leder gekleidet, mit Ringen durch Mund und Nase und einer Frisur, die Georg in seinen kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, kamen zwei Jugendliche die Straße herunter. Blitzartig zogen alle Verteidigungsmechanismen durch sein Hirn, die ihm zur Verfügung standen.
‚Weglaufen?’ Das widersprach seinem Stolz. Außerdem war er nie ein guter Läufer gewesen. ‚Gelassenheit vortäuschen?’ Das war kaum möglich, denn er spürte schon jetzt, wie sein Blutdruck die Schädeldecke anheben wollte. ‚Angreifen? Verdammt!’ Mit seinen 45 Jahren hatte er sich eigentlich immer noch fit gefühlt, doch jetzt schienen plötzlich alle Muskeln steif zu sein.
Georg Natwisch tat nichts von alledem. Stumm verharrte er in einer Ecke und wartete, was passieren würde. Die beiden Jugendlichen schlurften heran und wollten schon vorbei gehen, als einer stoppte und sich nach Georg umdrehte. Dessen Herz setzte einen Augenblick aus.
„He, du da! Haste mal Feuer?“
‚Schon tausendmal im Fernsehen gesehen, du Penner’, dachte Georg. ‚Erst nach Feuer fragen und dann zuschlagen. Aber komm du nur.’
„Ich… ich glaube schon.“
„Na, dann lass mal rüber wachsen.“
„Moment.“ Georg suchte mit zittrigen Fingern nach dem Streichholzblättchen, das ihm der Hotelportier gegeben hatte. „Hier, können Sie behalten.“
„Ah, ein netter Mensch“, grinste der Bursche und zeigte angefaulte Zähne. „Hast du die geschenkt gekriegt?“
„Äh… ja.“
„Dann tut es dir ja nicht weh, oder?“
„Nein.“ Georg spürte, wie sein Magen sich in eine aufgeplatzte Zitrone verwandelte. „Ich muss jetzt weiter.“
Er drehte sich um und setzte staksig einen Schritt vor den anderen. Jeden Moment erwartete er einen Schlag auf den Kopf oder ein Messer in seinem Rücken.
„Warte mal!“
Die Worte brannten sich augenblicklich in seiner Seele fest. Noch immer verwarf er die gewaltsame Auseinandersetzung, doch einfach sollten es die beiden Knaben nicht haben. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück.
„Was!“ Georg legte alles, was von seiner Courage übrig war, in die Stimme, wohl wissend, dass die beiden Herumtreiber sich kaum davon beirren lassen würden.
„Du bist weit weg von deinem Hotel.“
Die aufgeplatzte Zitrone in seinem Inneren blähte sich auf, doch Georg riss sich zusammen.
„Na und?“
„Hast dich wohl verlaufen, wie?“
„Ich schau mich nur um.“
Der zweite Jugendliche kam jetzt näher und lachte Georg frech ins Gesicht.
„Du schaust dich in einer Gegend um, wo du besser nicht so genau hinsiehst. Nimm dir lieber ein Taxi, Alter. – Komm schon Nätti, lass den Kerl. Ich will noch ins Stargate.“
Nätti sah Georg mit zusammen gekniffenen Augen an, zuckte mit den Schultern und trottete schließlich mit seinem Kumpel weiter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Georg stand noch Minuten später da und wartete darauf, dass sein wilder Herzschlag sich beruhigte und der Blutdruck auf normale Werte zurückging.
Inzwischen war es völlig dunkel. Georg sah sich argwöhnisch um. Die nur vereinzelnd funktionierenden Straßenlaternen schafften es kaum, sich selbst zu beleuchten. Noch viel weniger gelang es ihnen, die Straße halbwegs sichtbar zu machen. Aus einem Haus drangen laute Stimmen. Eine Frau schimpfte mit einem betrunkenen Mann. Fasziniert hörte er dem Streit zu und versuchte heraus zu bekommen, ob hier ein Ehepaar stritt oder nur Nachbarn aneinander gerieten. Plötzlich, ein Geräusch direkt neben ihm. Seine gerade erst wieder gewonnene Fassung verschwand ins Nichts. Schwerfällig drehte er den Kopf zur Seite und versuchte die Quelle des Raschelns zu ergründen. Ein glühendes Augenpaar versetzte ihn für einen Moment zurück in die Kindheit.
Der immer wiederkehrende Alptraum. Riesige, gelbgrün rotierende Augen schwebten auf ihn zu, wurden größer, kamen näher und näher. Bis die Welt schließlich nur noch aus verwischten Farben bestand, die ihn zu ersticken drohten. Schreiend war er damals immer aufgewacht.
Etwas sprang jetzt zur Seite und kippte dabei einige Dosen und Flaschen um. Georg unterdrückte einen Schrei.
„Verflucht!“ Erleichtert stieß er die Luft aus. „Nur eine Katze. – Mensch, reiß dich zusammen“, schalt er sich. „Ich muss hier weg!“ brabbelte er weiter vor sich hin. „Nur weg.“
Stolpernd stakste er weiter, wobei er über Dosen taumelte und fast gestürzt wäre. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Von Ferne drang Sirenengeheul an seine Ohren. Für einen Moment rückte das Geräusch seinen vernebelten Verstand wieder zurecht. Er begriff, dass seine Angst ihn verrückt machte. Er begriff ebenfalls, dass er dagegen ankämpfen musste, um nicht völlig auszurasten.
Georg blieb stehen und holte tief Luft. Dabei beobachtete er die Umgebung. ‚Ganz ruhig bleiben.’ Aus dunklen Fenster- und Türnischen glotzten tausend Augen. Beobachteten jede seiner Bewegungen. ‚Locker bleiben! Hier ist nichts.’ Widerliche Gerüche tränkten die Luft und legten seine Geruchsnerven fast lahm, schienen sogar sichtbar zu werden. Von allen Seiten drängten sie heran und schmiegten sich um seine Beine. ‚Es ist nur Nebel. Einfacher, verdammter Nebel.’
Ein Kind schrie. Laut und durchdringend. Das Geräusch zerfetzte Georgs Nerven und seine Beine rasten los, ohne einen Befehl des Gehirns abzuwarten. ‚Es war nur die Katze! Kein Kind schreit hier.’ Doch alle Besonnenheit half nicht. Einmal in Bewegung, verfiel sein ganzer Körper in Panik. Mühsam zusammen gehaltene Vernunft zerbröselte wie Asche. Nebelschwaden wurden zu geifernden Ungeheuern, die seinen Brustkorb zusammen drückten und ihm das Atmen schwer machten. Noch immer versuchte der klägliche Rest seines klaren Verstandes die drohende Katastrophe aufzuhalten, doch mit zunehmender Erschöpfung gewann die Panik Überhand.
Georg rannte. Er rannte, obwohl sein Herz warnende Aussetzer auslöste, die Beine schmerzten und die Lunge protestierend fauchte. Er rannte noch, als die Beine schon nachgaben und sein Körper schwer auf die feuchte Straße schlug. Zitternde Hände suchten nach Halt und kratzten über Teer. Fingernägel brachen.
Das Letzte, was Georg Natwisch durch den Kopf ging, war: ‚Du brauchst nicht rennen, da ist nichts. Nichts!’
 

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Georg wusste nicht mehr, wie er in die Strasse hinein gekommen war. Er wusste vor allem nicht, wie er wieder hinaus kommen sollte. Schon seit Stunden suchte er sein Hotel, wo er losgegangen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen.
„Nur eine kleine Erkundung der näheren Umgebung“, hatte er zu seiner Frau gesagt. „In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
‚Das war vor – wie lange laufe ich jetzt schon hier rum’, fragte sich Georg Natwisch. ‚Drei Stunden? Vier?’ Die Sonne war in den engen Häuserschluchten kaum zu sehen. Seine Uhr hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Eine Neue zu kaufen, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Von wegen, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Oder auch, ohne Uhr bin ich ein freier Mensch und brauche mich nicht um die Hetze der anderen Leute kümmern. Insgeheim wusste er natürlich, dass es reine Bequemlichkeit war.
Ein abschätzender Blick zum Himmel, sagte ihm folgendes: Da er gegen Mittag losgegangen war und es jetzt zwischen den Häusern schon arg dunkel wurde, musste es schon später Nachmittag sein. Also war er mindestens fünf Stunden unterwegs.
„Na, klasse“, murmelte er vor sich hin. „Mariechen wird begeistert sein. Der erste Urlaubstag und schon ist der Alte weg.“ Er lächelte leise, als er an seine Frau dachte. Sie würde wieder einen fürchterlichen Aufstand machen und schließlich fragen, wo er gewesen war. Wie üblich. „Georg, Georg!“ äffte er seine Frau Marie nach. „Du bist schlimmer als ein kleines Kind.“
„Hä! Was hast du gesagt?“
Erschrocken drehte er sich um und versuchte zu ergründen, wo die Stimme hergekommen war. In einer dunklen Ecke bewegte sich etwas. Undefinierbare Geräusche ließen Georg ein paar Schritte zurück weichen.
„Wer ist da?“ Er kam sich ziemlich blöd vor, bei dieser Frage. Ein grausiges Ächzen, bei dem ihm Gänsehaut die Arme aufraute. Dann ein lautes Scheppern von umkippenden Flaschen. „Wohl nur ein Penner“, brummte Georg erleichtert und ging rasch weiter.
‚Ich muss jemanden fragen, sonst laufe ich hier nächste Woche noch herum’, überlegte er. ‚Wenn es hier nur nicht so einsam wäre. Man könnte meinen, die Stadt macht einen Betriebsausflug.’
Die auflockernde Wirkung seines privaten Scherzes blieb aus, denn jetzt kamen zwei Gestalten auf ihn zu, denen er noch nicht einmal in einer belebten Einkaufsstrasse begegnen wollte. In schwarzem Leder gekleidet, mit Ringen durch Mund und Nase und einer Frisur, die Georg in seinen kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, kamen zwei Jugendliche die Straße herunter. Blitzartig zogen alle Verteidigungsmechanismen durch sein Hirn, die ihm zur Verfügung standen.
‚Weglaufen?’ Das widersprach seinem Stolz. Außerdem war er nie ein guter Läufer gewesen. ‚Gelassenheit vortäuschen?’ Das war kaum möglich, denn er spürte schon jetzt, wie sein Blutdruck die Schädeldecke anheben wollte. ‚Angreifen? Verdammt!’ Mit seinen 45 Jahren hatte er sich eigentlich immer noch fit gefühlt, doch jetzt schienen plötzlich alle Muskeln steif zu sein.
Georg Natwisch tat nichts von alledem. Stumm verharrte er in einer Ecke und wartete, was passieren würde. Die beiden Jugendlichen schlurften heran und wollten schon vorbei gehen, als einer stoppte und sich nach Georg umdrehte. Dessen Herz setzte einen Augenblick aus.
„He, du da! Haste mal Feuer?“
‚Schon tausendmal im Fernsehen gesehen, du Penner’, dachte Georg. ‚Erst nach Feuer fragen und dann zuschlagen. Aber komm du nur.’
„Ich… ich glaube schon.“
„Na, dann lass mal rüber wachsen.“
„Moment.“ Georg suchte mit zittrigen Fingern nach dem Streichholzblättchen, das ihm der Hotelportier gegeben hatte. „Hier, können Sie behalten.“
„Ah, ein netter Mensch“, grinste der Bursche und zeigte angefaulte Zähne. „Hast du die geschenkt gekriegt?“
„Äh… ja.“
„Dann tut es dir ja nicht weh, oder?“
„Nein.“ Georg spürte, wie sein Magen sich in eine aufgeplatzte Zitrone verwandelte. „Ich muss jetzt weiter.“
Er drehte sich um und setzte staksig einen Schritt vor den anderen. Jeden Moment erwartete er einen Schlag auf den Kopf oder ein Messer in seinem Rücken.
„Warte mal!“
Die Worte brannten sich augenblicklich in seiner Seele fest. Noch immer verwarf er die gewaltsame Auseinandersetzung, doch einfach sollten es die beiden Knaben nicht haben. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück.
„Was!“ Georg legte alles, was von seiner Courage übrig war, in die Stimme, wohl wissend, dass die beiden Herumtreiber sich kaum davon beirren lassen würden.
„Du bist weit weg von deinem Hotel.“
Die aufgeplatzte Zitrone in seinem Inneren blähte sich auf, doch Georg riss sich zusammen.
„Na und?“
„Hast dich wohl verlaufen, wie?“
„Ich schau mich nur um.“
Der zweite Jugendliche kam jetzt näher und lachte Georg frech ins Gesicht.
„Du schaust dich in einer Gegend um, wo du besser nicht so genau hinsiehst. Nimm dir lieber ein Taxi, Alter. – Komm schon Nätti, lass den Kerl. Ich will noch ins Stargate.“
Nätti sah Georg mit zusammen gekniffenen Augen an, zuckte mit den Schultern und trottete schließlich mit seinem Kumpel weiter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Georg stand noch Minuten später da und wartete darauf, dass sein wilder Herzschlag sich beruhigte und der Blutdruck auf normale Werte zurückging.
Inzwischen war es völlig dunkel. Georg sah sich argwöhnisch um. Die nur vereinzelnd funktionierenden Straßenlaternen schafften es kaum, sich selbst zu beleuchten. Noch viel weniger gelang es ihnen, die Straße halbwegs sichtbar zu machen. Aus einem Haus drangen laute Stimmen. Eine Frau schimpfte mit einem betrunkenen Mann. Fasziniert hörte er dem Streit zu und versuchte heraus zu bekommen, ob hier ein Ehepaar stritt oder nur Nachbarn aneinander gerieten. Plötzlich, ein Geräusch direkt neben ihm. Seine gerade erst wieder gewonnene Fassung verschwand ins Nichts. Schwerfällig drehte er den Kopf zur Seite und versuchte die Quelle des Raschelns zu ergründen. Ein glühendes Augenpaar versetzte ihn für einen Moment zurück in die Kindheit.
Der immer wiederkehrende Alptraum. Riesige, gelbgrün rotierende Augen schwebten auf ihn zu, wurden größer, kamen näher und näher. Bis die Welt schließlich nur noch aus verwischten Farben bestand, die ihn zu ersticken drohten. Schreiend war er damals immer aufgewacht.
Etwas sprang jetzt zur Seite und kippte dabei einige Dosen und Flaschen um. Georg unterdrückte einen Schrei.
„Verflucht!“ Erleichtert stieß er die Luft aus. „Nur eine Katze. – Mensch, reiß dich zusammen“, schalt er sich. „Ich muss hier weg!“ brabbelte er weiter vor sich hin. „Nur weg.“
Stolpernd stakste er weiter, wobei er über Dosen taumelte und fast gestürzt wäre. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Von Ferne drang Sirenengeheul an seine Ohren. Für einen Moment rückte das Geräusch seinen vernebelten Verstand wieder zurecht. Er begriff, dass seine Angst ihn verrückt machte. Er begriff ebenfalls, dass er dagegen ankämpfen musste, um nicht völlig auszurasten.
Georg blieb stehen und holte tief Luft. Dabei beobachtete er die Umgebung. ‚Ganz ruhig bleiben.’ Aus dunklen Fenster- und Türnischen glotzten tausend Augen. Beobachteten jede seiner Bewegungen. ‚Locker bleiben! Hier ist nichts.’ Widerliche Gerüche tränkten die Luft und legten seine Geruchsnerven fast lahm, schienen sogar sichtbar zu werden. Von allen Seiten drängten sie heran und schmiegten sich um seine Beine. ‚Es ist nur Nebel. Einfacher, verdammter Nebel.’
Ein Kind schrie. Laut und durchdringend. Das Geräusch zerfetzte Georgs Nerven und seine Beine rasten los, ohne einen Befehl des Gehirns abzuwarten. ‚Es war nur die Katze! Kein Kind schreit hier.’ Doch alle Besonnenheit half nicht. Einmal in Bewegung, verfiel sein ganzer Körper in Panik. Mühsam zusammen gehaltene Vernunft zerbröselte wie Asche. Nebelschwaden wurden zu geifernden Ungeheuern, die seinen Brustkorb zusammen drückten und ihm das Atmen schwer machten. Noch immer versuchte der klägliche Rest seines klaren Verstandes die drohende Katastrophe aufzuhalten, doch mit zunehmender Erschöpfung gewann die Panik Überhand.
Georg rannte. Er rannte, obwohl sein Herz warnende Aussetzer auslöste, die Beine schmerzten und die Lunge protestierend fauchte. Er rannte noch, als die Beine schon nachgaben und sein Körper schwer auf die feuchte Straße schlug. Zitternde Hände suchten nach Halt und kratzten über Teer. Fingernägel brachen.
Das Letzte, was Georg Natwisch durch den Kopf ging, war: ‚Du brauchst nicht rennen, da ist nichts. Nichts!’
 

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Georg wusste nicht mehr, wie er in die Strasse hinein gekommen war. Er wusste vor allem nicht, wie er wieder hinaus kommen sollte. Schon seit Stunden suchte er sein Hotel, wo er losgegangen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen.
„Nur eine kleine Erkundung der näheren Umgebung“, hatte er zu seiner Frau gesagt. „In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
‚Das war vor – wie lange laufe ich jetzt schon hier rum’, fragte sich Georg Natwisch. ‚Drei Stunden? Vier?’ Die Sonne war in den engen Häuserschluchten kaum zu sehen. Seine Uhr hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Eine Neue zu kaufen, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Von wegen, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Oder auch, ohne Uhr bin ich ein freier Mensch und brauche mich nicht um die Hetze der anderen Leute kümmern. Insgeheim wusste er natürlich, dass es reine Bequemlichkeit war.
Ein abschätzender Blick zum Himmel, sagte ihm folgendes: Da er gegen Mittag losgegangen war und es jetzt zwischen den Häusern schon arg dunkel wurde, musste es schon später Nachmittag sein. Also war er mindestens fünf Stunden unterwegs.
„Na, klasse“, murmelte er vor sich hin. „Mariechen wird begeistert sein. Der erste Urlaubstag und schon ist der Alte weg.“ Er lächelte leise, als er an seine Frau dachte. Sie würde wieder einen fürchterlichen Aufstand machen und schließlich fragen, wo er gewesen war. Wie üblich. „Georg, Georg!“ äffte er seine Frau Marie nach. „Du bist schlimmer als ein kleines Kind.“
„Hä! Was hast du gesagt?“
Erschrocken drehte er sich um und versuchte zu ergründen, wo die Stimme hergekommen war. In einer dunklen Ecke bewegte sich etwas. Undefinierbare Geräusche ließen Georg ein paar Schritte zurück weichen.
„Wer ist da?“ Er kam sich ziemlich blöd vor, bei dieser Frage. Ein grausiges Ächzen, bei dem ihm Gänsehaut die Arme aufraute. Dann ein lautes Scheppern von umkippenden Flaschen. „Wohl nur ein Penner“, brummte Georg erleichtert und ging rasch weiter.
‚Ich muss jemanden fragen, sonst laufe ich hier nächste Woche noch herum’, überlegte er. ‚Wenn es hier nur nicht so einsam wäre. Man könnte meinen, die Stadt macht einen Betriebsausflug.’
Die auflockernde Wirkung seines privaten Scherzes blieb aus, denn jetzt kamen zwei Gestalten auf ihn zu, denen er noch nicht einmal in einer belebten Einkaufsstrasse begegnen wollte. In schwarzem Leder gekleidet, mit Ringen durch Mund und Nase und einer Frisur, die Georg in seinen kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, kamen zwei Jugendliche die Straße herunter. Blitzartig zogen alle Verteidigungsmechanismen durch sein Hirn, die ihm zur Verfügung standen.
‚Weglaufen?’ Das widersprach seinem Stolz. Außerdem war er nie ein guter Läufer gewesen. ‚Gelassenheit vortäuschen?’ Das war kaum möglich, denn er spürte schon jetzt, wie sein Blutdruck die Schädeldecke anheben wollte. ‚Angreifen? Verdammt!’ Mit seinen 45 Jahren hatte er sich eigentlich immer noch fit gefühlt, doch jetzt schienen plötzlich alle Muskeln steif zu sein.
Georg Natwisch tat nichts von alledem. Stumm verharrte er in einer Ecke und wartete, was passieren würde. Die beiden Jugendlichen schlurften heran und wollten schon vorbei gehen, als einer stoppte und sich nach Georg umdrehte. Dessen Herz setzte einen Augenblick aus.
„He, du da! Haste mal Feuer?“
‚Schon tausendmal im Fernsehen gesehen, du Penner’, dachte Georg. ‚Erst nach Feuer fragen und dann zuschlagen. Aber komm du nur.’
„Ich… ich glaube schon.“
„Na, dann lass mal rüber wachsen.“
„Moment.“ Georg suchte mit zittrigen Fingern nach dem Streichholzblättchen, das ihm der Hotelportier gegeben hatte. „Hier, können Sie behalten.“
„Ah, ein netter Mensch“, grinste der Bursche und zeigte angefaulte Zähne. „Hast du die geschenkt gekriegt?“
„Äh… ja.“
„Dann tut es dir ja nicht weh, oder?“
„Nein.“ Georg spürte, wie sein Magen sich in eine aufgeplatzte Zitrone verwandelte. „Ich muss jetzt weiter.“
Er drehte sich um und setzte staksig einen Schritt vor den anderen. Jeden Moment erwartete er einen Schlag auf den Kopf oder ein Messer in seinem Rücken.
„Warte mal!“
Die Worte brannten sich augenblicklich in seiner Seele fest. Noch immer verwarf er die gewaltsame Auseinandersetzung, doch einfach sollten es die beiden Knaben nicht haben. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück.
„Was!“ Georg legte alles, was von seiner Courage übrig war, in die Stimme, wohl wissend, dass die beiden Herumtreiber sich kaum davon beirren lassen würden.
„Du bist weit weg von deinem Hotel.“
Die aufgeplatzte Zitrone in seinem Inneren blähte sich auf, doch Georg riss sich zusammen.
„Na und?“
„Hast dich wohl verlaufen, wie?“
„Ich schau mich nur um.“
Der zweite Jugendliche kam jetzt näher und lachte Georg frech ins Gesicht.
„Du schaust dich in einer Gegend um, wo du besser nicht so genau hinsiehst. Nimm dir lieber ein Taxi, Alter. – Komm schon Nätti, lass den Kerl. Ich will noch ins Stargate.“
Nätti sah Georg mit zusammen gekniffenen Augen an, zuckte mit den Schultern und trottete schließlich mit seinem Kumpel weiter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Georg stand noch Minuten später da und wartete darauf, dass sein wilder Herzschlag sich beruhigte und der Blutdruck auf normale Werte zurückging.
Inzwischen war es völlig dunkel. Georg sah sich argwöhnisch um. Die nur vereinzelnd funktionierenden Straßenlaternen schafften es kaum, sich selbst zu beleuchten. Noch viel weniger gelang es ihnen, die Straße halbwegs sichtbar zu machen. Aus einem Haus drangen laute Stimmen. Eine Frau schimpfte mit einem betrunkenen Mann. Fasziniert hörte er dem Streit zu und versuchte heraus zu bekommen, ob hier ein Ehepaar stritt oder nur Nachbarn aneinander gerieten. Plötzlich, ein Geräusch direkt neben ihm. Seine gerade erst wieder gewonnene Fassung verschwand ins Nichts. Schwerfällig drehte er den Kopf zur Seite und versuchte die Quelle des Raschelns zu ergründen. Ein glühendes Augenpaar versetzte ihn für einen Moment zurück in die Kindheit.
Der immer wiederkehrende Alptraum. Riesige, gelbgrün rotierende Augen schwebten auf ihn zu, wurden größer, kamen näher und näher. Bis die Welt schließlich nur noch aus verwischten Farben bestand, die ihn zu ersticken drohten. Schreiend war er damals immer aufgewacht.
Etwas sprang jetzt zur Seite und kippte dabei einige Dosen und Flaschen um. Georg unterdrückte einen Schrei.
„Verflucht!“ Erleichtert stieß er die Luft aus. „Nur eine Katze. – Mensch, reiß dich zusammen“, schalt er sich. „Ich muss hier weg!“ brabbelte er weiter vor sich hin. „Nur weg.“
Stolpernd stakste er weiter, wobei er über Dosen taumelte und fast gestürzt wäre. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Von Ferne drang Sirenengeheul an seine Ohren. Für einen Moment rückte das Geräusch seinen vernebelten Verstand wieder zurecht. Er begriff, dass seine Angst ihn verrückt machte. Er begriff ebenfalls, dass er dagegen ankämpfen musste, um nicht völlig auszurasten.
Georg blieb stehen und holte tief Luft. Dabei beobachtete er die Umgebung. ‚Ganz ruhig bleiben.’ Aus dunklen Fenster- und Türnischen glotzten tausend Augen. Beobachteten jede seiner Bewegungen. ‚Locker bleiben! Hier ist nichts.’ Widerliche Gerüche tränkten die Luft und legten seine Geruchsnerven fast lahm, schienen sogar sichtbar zu werden. Von allen Seiten drängten sie heran und schmiegten sich um seine Beine. ‚Es ist nur Nebel. Einfacher, verdammter Nebel.’
Ein Kind schrie. Laut und durchdringend. Das Geräusch zerfetzte Georgs Nerven und seine Beine rasten los, ohne einen Befehl des Gehirns abzuwarten. ‚Es war nur die Katze! Kein Kind schreit hier.’ Doch alle Besonnenheit half nicht. Einmal in Bewegung, verfiel sein ganzer Körper in Panik. Mühsam zusammen gehaltene Vernunft zerbröselte wie Asche. Nebelschwaden wurden zu geifernden Ungeheuern, die seinen Brustkorb zusammen drückten und ihm das Atmen schwer machten. Noch immer versuchte der klägliche Rest seines klaren Verstandes die drohende Katastrophe aufzuhalten, doch mit zunehmender Erschöpfung gewann die Panik Überhand.
Georg rannte. Er rannte, obwohl sein Herz warnende Aussetzer auslöste, die Beine schmerzten und die Lunge protestierend fauchte. Er rannte noch, als die Beine schon nachgaben und sein Körper schwer auf die feuchte Straße schlug. Zitternde Hände suchten nach Halt und kratzten über Teer. Fingernägel brachen.
Das Letzte, was Georg Natwisch durch den Kopf ging, war: ‚Du brauchst nicht rennen, da ist nichts. Nichts!’
 

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Georg wusste nicht mehr, wie er in die Strasse hinein gekommen war. Er wusste vor allem nicht, wie er wieder hinaus kommen sollte. Schon seit Stunden suchte er sein Hotel, wo er losgegangen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen.
„Nur eine kleine Erkundung der näheren Umgebung“, hatte er zu seiner Frau gesagt. „In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
‚Das war vor – wie lange laufe ich jetzt schon hier rum’, fragte sich Georg Natwisch. ‚Drei Stunden? Vier?’ Die Sonne war in den engen Häuserschluchten kaum zu sehen. Seine Uhr hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Eine Neue zu kaufen, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Von wegen, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Oder auch, ohne Uhr bin ich ein freier Mensch und brauche mich nicht um die Hetze der anderen Leute kümmern. Insgeheim wusste er natürlich, dass es reine Bequemlichkeit war.
Ein abschätzender Blick zum Himmel, sagte ihm folgendes: Da er gegen Mittag losgegangen war und es jetzt zwischen den Häusern schon arg dunkel wurde, musste es schon später Nachmittag sein. Also war er mindestens fünf Stunden unterwegs.
„Na, klasse“, murmelte er vor sich hin. „Mariechen wird begeistert sein. Der erste Urlaubstag und schon ist der Alte weg.“ Er lächelte leise, als er an seine Frau dachte. Sie würde wieder einen fürchterlichen Aufstand machen und schließlich fragen, wo er gewesen war. Wie üblich. „Georg, Georg!“ äffte er seine Frau Marie nach. „Du bist schlimmer als ein kleines Kind.“
„Hä! Was hast du gesagt?“
Erschrocken drehte er sich um und versuchte zu ergründen, wo die Stimme hergekommen war. In einer dunklen Ecke bewegte sich etwas. Undefinierbare Geräusche ließen Georg ein paar Schritte zurück weichen.
„Wer ist da?“ Er kam sich ziemlich blöd vor, bei dieser Frage. Ein grausiges Ächzen, bei dem ihm Gänsehaut die Arme aufraute. Dann ein lautes Scheppern von umkippenden Flaschen. „Wohl nur ein Penner“, brummte Georg erleichtert und ging rasch weiter.
‚Ich muss jemanden fragen, sonst laufe ich hier nächste Woche noch herum’, überlegte er. ‚Wenn es hier nur nicht so einsam wäre. Man könnte meinen, die Stadt macht einen Betriebsausflug.’
Die auflockernde Wirkung seines privaten Scherzes blieb aus, denn jetzt kamen zwei Gestalten auf ihn zu, denen er noch nicht einmal in einer belebten Einkaufsstrasse begegnen wollte. In schwarzem Leder gekleidet, mit Ringen durch Mund und Nase und einer Frisur, die Georg in seinen kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, kamen zwei Jugendliche die Straße herunter. Blitzartig zogen alle Verteidigungsmechanismen durch sein Hirn, die ihm zur Verfügung standen.
‚Weglaufen?’ Das widersprach seinem Stolz. Außerdem war er nie ein guter Läufer gewesen. ‚Gelassenheit vortäuschen?’ Das war kaum möglich, denn er spürte schon jetzt, wie sein Blutdruck die Schädeldecke anheben wollte. ‚Angreifen? Verdammt!’ Mit seinen 45 Jahren hatte er sich eigentlich immer noch fit gefühlt, doch jetzt schienen plötzlich alle Muskeln steif zu sein.
Georg Natwisch tat nichts von alledem. Stumm verharrte er in einer Ecke und wartete, was passieren würde. Die beiden Jugendlichen schlurften heran und wollten schon vorbei gehen, als einer stoppte und sich nach Georg umdrehte. Dessen Herz setzte einen Augenblick aus.
„He, du da! Haste mal Feuer?“
‚Schon tausendmal im Fernsehen gesehen, du Penner’, dachte Georg. ‚Erst nach Feuer fragen und dann zuschlagen. Aber komm du nur.’
„Ich… ich glaube schon.“
„Na, dann lass mal rüber wachsen.“
„Moment.“ Georg suchte mit zittrigen Fingern nach dem Streichholzblättchen, das ihm der Hotelportier gegeben hatte. „Hier, können Sie behalten.“
„Ah, ein netter Mensch“, grinste der Bursche und zeigte angefaulte Zähne. „Hast du die geschenkt gekriegt?“
„Äh… ja.“
„Dann tut es dir ja nicht weh, oder?“
„Nein.“ Georg spürte, wie sein Magen sich in eine aufgeplatzte Zitrone verwandelte. „Ich muss jetzt weiter.“
Er drehte sich um und setzte staksig einen Schritt vor den anderen. Jeden Moment erwartete er einen Schlag auf den Kopf oder ein Messer in seinem Rücken.
„Warte mal!“
Die Worte brannten sich augenblicklich in seiner Seele fest. Noch immer verwarf er die gewaltsame Auseinandersetzung, doch einfach sollten es die beiden Knaben nicht haben. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück.
„Was!“ Georg legte alles, was von seiner Courage übrig war, in die Stimme, wohl wissend, dass die beiden Herumtreiber sich kaum davon beirren lassen würden.
„Du bist weit weg von deinem Hotel.“
Die aufgeplatzte Zitrone in seinem Inneren blähte sich auf, doch Georg riss sich zusammen.
„Na und?“
„Hast dich wohl verlaufen, wie?“
„Ich schau mich nur um.“
Der zweite Jugendliche kam jetzt näher und lachte Georg frech ins Gesicht.
„Du schaust dich in einer Gegend um, wo du besser nicht so genau hinsiehst. Nimm dir lieber ein Taxi, Alter. – Komm schon Nätti, lass den Kerl. Ich will noch ins Stargate.“
Nätti sah Georg mit zusammen gekniffenen Augen an, zuckte mit den Schultern und trottete schließlich mit seinem Kumpel weiter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Georg stand noch Minuten später da und wartete darauf, dass sein wilder Herzschlag sich beruhigte und der Blutdruck auf normale Werte zurückging.
Inzwischen war es völlig dunkel. Georg sah sich argwöhnisch um. Die nur vereinzelnd funktionierenden Straßenlaternen schafften es kaum, sich selbst zu beleuchten. Noch viel weniger gelang es ihnen, die Straße halbwegs sichtbar zu machen. Aus einem Haus drangen laute Stimmen. Eine Frau schimpfte mit einem betrunkenen Mann. Fasziniert hörte er dem Streit zu und versuchte heraus zu bekommen, ob hier ein Ehepaar stritt oder nur Nachbarn aneinander gerieten. Plötzlich, ein Geräusch direkt neben ihm. Seine gerade erst wieder gewonnene Fassung verschwand ins Nichts. Schwerfällig drehte er den Kopf zur Seite und versuchte die Quelle des Raschelns zu ergründen. Ein glühendes Augenpaar versetzte ihn für einen Moment zurück in die Kindheit.
Der immer wiederkehrende Alptraum. Riesige, gelbgrün rotierende Augen schwebten auf ihn zu, wurden größer, kamen näher und näher. Bis die Welt schließlich nur noch aus verwischten Farben bestand, die ihn zu ersticken drohten. Schreiend war er damals immer aufgewacht.
Etwas sprang jetzt zur Seite und kippte dabei einige Dosen und Flaschen um. Georg unterdrückte einen Schrei.
„Verflucht!“ Erleichtert stieß er die Luft aus. „Nur eine Katze. – Mensch, reiß dich zusammen“, schalt er sich. „Ich muss hier weg!“ brabbelte er weiter vor sich hin. „Nur weg.“
Stolpernd stakste er weiter, wobei er über Dosen taumelte und fast gestürzt wäre. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Von Ferne drang Sirenengeheul an seine Ohren. Für einen Moment rückte das Geräusch seinen vernebelten Verstand wieder zurecht. Er begriff, dass seine Angst ihn verrückt machte. Er begriff ebenfalls, dass er dagegen ankämpfen musste, um nicht völlig auszurasten.
Georg blieb stehen und holte tief Luft. Dabei beobachtete er die Umgebung. ‚Ganz ruhig bleiben.’ Aus dunklen Fenster- und Türnischen glotzten tausend Augen. Beobachteten jede seiner Bewegungen. ‚Locker bleiben! Hier ist nichts.’ Widerliche Gerüche tränkten die Luft und legten seine Geruchsnerven fast lahm, schienen sogar sichtbar zu werden. Von allen Seiten drängten sie heran und schmiegten sich um seine Beine. ‚Es ist nur Nebel. Einfacher, verdammter Nebel.’
Ein Kind schrie. Laut und durchdringend. Das Geräusch zerfetzte Georgs Nerven und seine Beine rasten los, ohne einen Befehl des Gehirns abzuwarten. ‚Es war nur die Katze! Kein Kind schreit hier.’ Doch alle Besonnenheit half nicht. Einmal in Bewegung, verfiel sein ganzer Körper in Panik. Mühsam zusammen gehaltene Vernunft zerbröselte wie Asche. Nebelschwaden wurden zu geifernden Ungeheuern, die seinen Brustkorb zusammen drückten und ihm das Atmen schwer machten. Noch immer versuchte der klägliche Rest seines klaren Verstandes die drohende Katastrophe aufzuhalten, doch mit zunehmender Erschöpfung gewann die Panik Überhand.
Georg rannte. Er rannte, obwohl sein Herz warnende Aussetzer auslöste, die Beine schmerzten und die Lunge protestierend fauchte. Er rannte noch, als die Beine schon nachgaben und sein Körper schwer auf die feuchte Straße schlug. Zitternde Hände suchten nach Halt und kratzten über Teer. Fingernägel brachen.
Das Letzte, was Georg Natwisch durch den Kopf ging, war: ‚Du brauchst nicht rennen, da ist nichts. Nichts!’
 

sternsucher

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Georg wusste nicht mehr, wie er in die Strasse hinein gekommen war. Er wusste vor allem nicht, wie er wieder hinaus kommen sollte. Schon seit Stunden suchte er sein Hotel, wo er losgegangen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen.
„Nur eine kleine Erkundung der näheren Umgebung“, hatte er zu seiner Frau gesagt. „In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück.“
‚Das war vor – wie lange laufe ich jetzt schon hier rum’, fragte sich Georg Natwisch. ‚Drei Stunden? Vier?’ Die Sonne war in den engen Häuserschluchten kaum zu sehen. Seine Uhr hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Eine Neue zu kaufen, war ihm bisher nicht in den Sinn gekommen. Von wegen, dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Oder auch, ohne Uhr bin ich ein freier Mensch und brauche mich nicht um die Hetze der anderen Leute kümmern. Insgeheim wusste er natürlich, dass es reine Bequemlichkeit war.
Ein abschätzender Blick zum Himmel, sagte ihm folgendes: Da er gegen Mittag losgegangen war und es jetzt zwischen den Häusern schon arg dunkel wurde, musste es schon später Nachmittag sein. Also war er mindestens fünf Stunden unterwegs.
„Na, klasse“, murmelte er vor sich hin. „Mariechen wird begeistert sein. Der erste Urlaubstag und schon ist der Alte weg.“ Er lächelte leise, als er an seine Frau dachte. Sie würde wieder einen fürchterlichen Aufstand machen und schließlich fragen, wo er gewesen war. Wie üblich. „Georg, Georg!“ äffte er seine Frau Marie nach. „Du bist schlimmer als ein kleines Kind.“
„Hä! Was hast du gesagt?“
Erschrocken drehte er sich um und versuchte zu ergründen, wo die Stimme hergekommen war. In einer dunklen Ecke bewegte sich etwas. Undefinierbare Geräusche ließen Georg ein paar Schritte zurück weichen.
„Wer ist da?“ Er kam sich ziemlich blöd vor, bei dieser Frage. Ein grausiges Ächzen, bei dem ihm Gänsehaut die Arme aufraute. Dann ein lautes Scheppern von umkippenden Flaschen. „Wohl nur ein Penner“, brummte Georg erleichtert und ging rasch weiter.
‚Ich muss jemanden fragen, sonst laufe ich hier nächste Woche noch herum’, überlegte er. ‚Wenn es hier nur nicht so einsam wäre. Man könnte meinen, die Stadt macht einen Betriebsausflug.’
Die auflockernde Wirkung seines privaten Scherzes blieb aus, denn jetzt kamen zwei Gestalten auf ihn zu, denen er noch nicht einmal in einer belebten Einkaufsstrasse begegnen wollte. In schwarzem Leder gekleidet, mit Ringen durch Mund und Nase und einer Frisur, die Georg in seinen kühnsten Träumen nicht eingefallen wäre, kamen zwei Jugendliche die Straße herunter. Blitzartig zogen alle Verteidigungsmechanismen durch sein Hirn, die ihm zur Verfügung standen.
‚Weglaufen?’ Das widersprach seinem Stolz. Außerdem war er nie ein guter Läufer gewesen. ‚Gelassenheit vortäuschen?’ Das war kaum möglich, denn er spürte schon jetzt, wie sein Blutdruck die Schädeldecke anheben wollte. ‚Angreifen? Verdammt!’ Mit seinen 45 Jahren hatte er sich eigentlich immer noch fit gefühlt, doch jetzt schienen plötzlich alle Muskeln steif zu sein.
Georg Natwisch tat nichts von alledem. Stumm verharrte er in einer Ecke und wartete, was passieren würde. Die beiden Jugendlichen schlurften heran und wollten schon vorbei gehen, als einer stoppte und sich nach Georg umdrehte. Dessen Herz setzte einen Augenblick aus.
„He, du da! Haste mal Feuer?“
‚Schon tausendmal im Fernsehen gesehen, du Penner’, dachte Georg. ‚Erst nach Feuer fragen und dann zuschlagen. Aber komm du nur.’
„Ich… ich glaube schon.“
„Na, dann lass mal rüber wachsen.“
„Moment.“ Georg suchte mit zittrigen Fingern nach dem Streichholzblättchen, das ihm der Hotelportier gegeben hatte. „Hier, können Sie behalten.“
„Ah, ein netter Mensch“, grinste der Bursche und zeigte angefaulte Zähne. „Hast du die geschenkt gekriegt?“
„Äh… ja.“
„Dann tut es dir ja nicht weh, oder?“
„Nein.“ Georg spürte, wie sein Magen sich in eine aufgeplatzte Zitrone verwandelte. „Ich muss jetzt weiter.“
Er drehte sich um und setzte staksig einen Schritt vor den anderen. Jeden Moment erwartete er einen Schlag auf den Kopf oder ein Messer in seinem Rücken.
„Warte mal!“
Die Worte brannten sich augenblicklich in seiner Seele fest. Noch immer verwarf er die gewaltsame Auseinandersetzung, doch einfach sollten es die beiden Knaben nicht haben. Er blieb stehen und sah über die Schulter zurück.
„Was!“ Georg legte alles, was von seiner Courage übrig war, in die Stimme, wohl wissend, dass die beiden Herumtreiber sich kaum davon beirren lassen würden.
„Du bist weit weg von deinem Hotel.“
Die aufgeplatzte Zitrone in seinem Inneren blähte sich auf, doch Georg riss sich zusammen.
„Na und?“
„Hast dich wohl verlaufen, wie?“
„Ich schau mich nur um.“
Der zweite Jugendliche kam jetzt näher und lachte Georg frech ins Gesicht.
„Du schaust dich in einer Gegend um, wo du besser nicht so genau hinsiehst. Nimm dir lieber ein Taxi, Alter. – Komm schon Nätti, lass den Kerl. Ich will noch ins Stargate.“
Nätti sah Georg mit zusammen gekniffenen Augen an, zuckte mit den Schultern und trottete schließlich mit seinem Kumpel weiter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Georg stand noch Minuten später da und wartete darauf, dass sein wilder Herzschlag sich beruhigte und der Blutdruck auf normale Werte zurückging.
Inzwischen war es völlig dunkel. Georg sah sich argwöhnisch um. Die nur vereinzelnd funktionierenden Straßenlaternen schafften es kaum, sich selbst zu beleuchten. Noch viel weniger gelang es ihnen, die Straße halbwegs sichtbar zu machen. Aus einem Haus drangen laute Stimmen. Eine Frau schimpfte mit einem betrunkenen Mann. Fasziniert hörte er dem Streit zu und versuchte heraus zu bekommen, ob hier ein Ehepaar stritt oder nur Nachbarn aneinander gerieten. Plötzlich, ein Geräusch direkt neben ihm. Seine gerade erst wieder gewonnene Fassung verschwand ins Nichts. Schwerfällig drehte er den Kopf zur Seite und versuchte die Quelle des Raschelns zu ergründen. Ein glühendes Augenpaar versetzte ihn für einen Moment zurück in die Kindheit.
Der immer wiederkehrende Alptraum. Riesige, gelbgrün rotierende Augen schwebten auf ihn zu, wurden größer, kamen näher und näher. Bis die Welt schließlich nur noch aus verwischten Farben bestand, die ihn zu ersticken drohten. Schreiend war er damals immer aufgewacht.
Etwas sprang jetzt zur Seite und kippte dabei einige Dosen und Flaschen um. Georg unterdrückte einen Schrei.
„Verflucht!“ Erleichtert stieß er die Luft aus. „Nur eine Katze. – Mensch, reiß dich zusammen“, schalt er sich. „Ich muss hier weg!“ brabbelte er weiter vor sich hin. „Nur weg.“
Stolpernd stakste er weiter, wobei er über Dosen taumelte und fast gestürzt wäre. Schweiß brach ihm aus allen Poren. Von ferne drang Sirenengeheul an seine Ohren. Für einen Moment rückte das Geräusch seinen vernebelten Verstand wieder zurecht. Er begriff, dass seine Angst ihn verrückt machte. Er begriff ebenfalls, dass er dagegen ankämpfen musste, um nicht völlig auszurasten.
Georg blieb stehen und holte tief Luft. Dabei beobachtete er die Umgebung. ‚Ganz ruhig bleiben.’ Aus dunklen Fenster- und Türnischen glotzten tausend Augen. Beobachteten jede seiner Bewegungen. ‚Locker bleiben! Hier ist nichts.’ Widerliche stinkende Dunstschwaden drängten heran und legten seine Geruchsnerven lahm. ‚Es ist nur Nebel. Einfacher, verdammter Nebel.’
Ein durchdringender Schrei zerfetzte Georgs Nerven und seine Beine liefen los, ohne einen Befehl des Gehirns abzuwarten. ‚Es war nur die Katze. Nur die die Katze!’ Doch alle Besonnenheit half nicht. Seine mühsam zusammen gehaltene Vernunft zerbröselte wie Asche. Nebelfetzen wurden lebendig, drückten seinen Brustkorb zusammen und machten ihm das Atmen schwer. Noch immer versuchte der klägliche Rest seines klaren Verstandes die drohende Katastrophe aufzuhalten, doch mit zunehmender Erschöpfung gewann die Panik Überhand.
Georg rannte. Er rannte, obwohl sein Herz warnende Aussetzer auslöste, die Beine schmerzten und die Lunge protestierend fauchte. Er rannte noch, als die Beine schon nachgaben und sein Körper schwer auf die feuchte Straße schlug. Zitternde Hände suchten nach Halt und kratzten über Teer. Fingernägel brachen.
Das Letzte, was Georg Natwisch durch den Kopf ging, war: ‚Du brauchst nicht rennen, da ist nichts. Nichts!’
 
Hallo Sternsucher,

Nette Geschichte. Der Anfang ist ein wenig behäbig, sonderlich interessant ist der "Uhrenteil" nicht, den würde ich nochmal überdenken. Die beiden jungen Punks sind ein wenig klischeebeladen, genau wie Georg und Marie, zumindest Georg könnte man ein paar Ecken und Kanten verpassen.
Was mir generell verbesserungswürdig erscheint ist der Spannungsverlauf. Am Ende spitzt sich die Spannungskurve recht willkürlich zu, es findet sich aber kein wirklicher Grund. Mir schien nicht nachvollziehbar, warum er plötzlich so außer sich ist.
Das würde ich an deiner Stelle nochmal rausarbeiten und intensiviern. Wenn es eine Horrorstory sein soll - die es jetzt noch nicht ist - könnte er Schatten sehen, die lebendig werden, etc.

Hoff, meine Anregungen helfen dir, die Geschichte zu verbessern.

Bis bald,
Michael
 

sternsucher

Mitglied
Hallo Michael,

danke für deine Anregungen.
Natürlich wird jede Geschichte von verschieden Lesern verschieden aufgenommen, doch manchmal ist es schon extrem.:)

Mit den klischeebeladenen Punks hast du recht, obwohl ich gestehen muss, dass ein wenig Absicht dahinter steckt. Jeder weiß sofort, warum sich Georg fürchtet.
Aber Ecken und Kanten könnte er gebrauchen, das stimmt.

Das sich kein wirklicher Grund findet, warum sich Georg fürchtet, bzw. die Spannungskurve steil nach oben steigt, ist der eigentliche Hintergrund, den die Geschichte darstellen soll. Der Mensch hat oft unbegründete Ängste, die sich schnell hochschaukeln können.
Scheinbar konnte ich das nicht so rüberbringen.

Wenn es eine Horrorstory sein soll - die es jetzt noch nicht ist - könnte er Schatten sehen, die lebendig werden, etc
Das mit den Schatten ... genau sowas war in meiner ersten Version der Geschichte noch drin, wurde aber in der Luft zerrissen. (Ist aber schon etwas länger her) Hauptsächlich weil die Testleser eher an eine Psychostory, als an eine Horrorgeschichte dachten.
Die ganze Sache war auch viel kürzer, deshalb fehlen auch ein wenig die Ecken von Georg.

Aber deine Kritik hat mir gezeigt, dass ich die Geschichte wohl zu oft umgeschrieben habe und der ursprüngliche Sinn verloren gegangen ist. Ich werde wohl mal eine Grundrenovierung durchführen müssen, statt ständig irgendwelche Löcher zu stopfen. ;)

Danke und schönen Gruß, sternsucher
 



 
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