Oben auf dem Hügel, Teil 2

achill

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4.

Von der Pubertät ist mir nicht viel in Erinnerung geblieben.
Alles begann mit einem Pickel. Wie ein Komet am Nachthimmel, der von kommendem Unheil kündete, so leuchtete der erste Pickel in meinem Gesicht und kündete vom Desaster, das das Durcheinanderwirbeln der Hormone mit sich brachte.
Die Pickel und meine Zahnspange, die ich, der festen Überzeugung war ich noch heute, aufgrund einer Verschwörung zwischen meinem Zahnarzt und einem Kieferorthopäden verpasst bekam, wirkten sich enorm auf mein noch junges und undefiniertes Selbstwertgefühl aus. Hatte ich mir früher nie Gedanken um mein Aussehen gemacht, hatte ich mit dreizehn plötzlich das Gefühl, den Nichtpickeligen und Nichtspangenträgern gegenüber im Nachteil zu sein. Die anderen schienen unbelastet, ich hingegen schien mit vielen kleinen Markeln versehen, die ich auf anderen Wegen auszugleichen suchte.
Ich verlieh offenherzig Geld, spendierte Eis und Cola und verdoppelte meine Anstrengungen beim Fussballspiel. Ich versuchte, meine Haut mit Clerasil im Griff zu behalten, was so hoffnungslos war wie die Versuche der deutschen Flugabwehr im zweiten Weltkrieg, alliierte Flieger von den Reichsstädten fernzuhalten. Die Zahl der Krater nahm immer mehr zu und veränderten das Aussehen der Welt und mein Lebensgefühl. Mir war so, als balancierte ich auf einem Drahtseil und mußte jeden Tag darum kämpfen, nicht abzustürzen. Es brannten Ängste, und ich hielt zum Löschen nicht mehr in der Hand als einen halbvolles Fläschchen Hautreiniger.
Die zweite äusserliche Veränderung nach den Pickeln und der Zahnspange waren meine schlechten Noten, die ich regelmäßig nach Hause brachte. Ich hatte immer weniger Lust auf Schule. Mein Versagen beruhte auf einer einfachen Erkenntnis: Wozu sollte ich lernen, wenn ich früher oder später sowieso tot sein würde? Lohnte es sich da überhaupt noch, irgendetwas zu tun? Oder war es nicht das beste, sich gleich ins Bett zu legen und auf das Ende zu warten? Alles roch nach Vergänglichkeit.
Es zog mich ganz allmählich hin zu düsteren Grübeleien über mein Dasein und meine Rolle, die ich einzunehmen hatte. Ich stand geistesabwesend am Spielrand des Sportplatzes, um einen Zweig in meinen Händen zu kleinen Hölzchen zu zerbrechen und mich dabei ernsthaft zu fragen, ob ich von zu Hause abhauen sollte. Oder sonst ein paar verrückte Dinge anstellen sollte, an die ich mich nicht mehr genau erinnerte.
Es war eine Zeit der Fragen und der Verwirrungen, der Enttäuschungen und Frustrationen, von denen ich mich im Grunde nie wirklich erholte. Auch fünfzehn Jahre danach knabberte ich noch an Fragen, die mir zum ersten Mal während der Pubertät in den Sinn gekommen waren.
Warum gab es Waffen? Wohin kam der Müll? Wohin führte all die Gewalt, die Abend für Abend in den Nachrichten gezeigt wurde? Und welches Ziel konnte das rechtfertigen? Warum waren fünf Sechstel der Menschheit arm? Wenn es einen Himmel gab, wieso war der nicht nachweisbar? Wo war Gott? Wer hatte recht, die Bibel oder die Wissenschaften? Und schliesslich: Gab es die Liebe?
Schnell bemerkte ich, dass sich die Welt der Erwachsenen bei genauerem Hinsehen als ein Platz entpuppte, in dem es mehr Fragen zu geben schien als Antworten. Die Welt der Erwachsenen schien voller Risse und fauler Löcher. Umweltverschmutzung, Atomkrieg, politische Korruption, Welthunger, Tierversuche und so weiter und so weiter. Lügen und Betrug, wo man nur hinschaute. Wie sollte ich den Erwachsenen vertrauen, wenn sie selbst nicht in der Lage waren, ihre eigenen Dinge anständig in den Griff zu kriegen?
Ohne eine Antwort auf diese Fragen waren die Lehrer in meinen Augen nichts als autoritäre Witzfiguren, die uns in Schach halten sollten, damit wir nicht den ganzen Tag auf der Strasse herumlungerten. Oder damit begannen, den Erwachsenen die richtigen Fragen zu stellen und ihnen die Blöße zu geben.
Der Einfluss der Autoritäten, denen ich mein bisheriges Leben lang blind gefolgt war, schwand ganz rapide. Ich begann an der Aufrichtigkeit der Erwachsenen zu zweifeln und unterzog zum ersten Mal den Sinn und Zweck ihres Tuns einer kritischen Prüfung. Sie schienen alles falsch zu machen, und doch hatten sie die Macht. Sie sassen am längeren Hebel. Und anstatt ihre Fehler zu korrigieren, wollten mich zu einem von ihnen machen.
Wir wehrten uns dagegen, so gut wir konnten. Eltern waren plötzlich nur dazu da, damit man sich mit ihnen stritt. Sie schienen nur noch aus einem Bündel von Vorschriften und Ermahnungen zu bestehen. Räum dein Zimmer auf. Willst du vielleicht den ganzen Tag nur im Bett herumliegen? Du könntest auch mal was im Haushalt tun. Was soll eigentlich aus dir werden, wenn du in der Schule nicht bald besser wirst? Jedes Wort meiner Eltern löste einen heftigen Wutanfall in mir aus. Ich knallte Türen, hörte laute Musik und geriet mit meinem Vater immer öfter in einen handfesten Krach.
Die Schule war neben dem Elternhaus der zweite Ort, an dem wir unsere Kämpfe gegen die Welt der Erwachsenen austrugen. Entweder wir tauchten zu spät zum Unterricht auf oder gar nicht. Ermahnungen wurden mit gelassener Kühle ertragen. Uli kam sogar mal mit einer Whiskyfahne in den Unterricht und wurde zum Rektor geschickt. Daraufhin stieg er in meiner persönlichen Heldenliste auf Platz zwei. Auf Platz eins stand immer noch mein bester Freund Tommy. Er schien immer zu wissen, wo es langging. Er schaffte es, seine Meinung zu sagen und seine Verachtung für die Lehrer deutlich zu machen, ohne dass er jemals wirklichen Ärger dafür bekommen hätte. Fast war es so, als akzeptierten die Lehrer Tommys Respektlosigkeiten als konstruktive Kritik.
Es gab weitere Veränderungen körperlicher Natur. Mein Körper schoss in die Höhe, und meine Hosen und Hemden wurden mir nicht nur zu klein, sondern auch zu kindisch. Während mich früher Kleidung nie interessiert hatte, besorgte ich mir von nun an meine Klamotten selbst.
Ich ging zum ersten Mal in meinem Leben allein zum Friseur, um dann meinen neuen Haarschnitt im Spiegel kritisch zu würdigen und zur Not mit Haargel selbst ein paar Veränderungen vorzunehmen. Das Geld wurde knapp, und ich begann, in den Kaufhäusern die eine oder andere Sache mitgehen zu lassen.
Der einzige Ort, an dem ich mich wirklich wohlfühlte, war die Gruppe der Jungs, wenn während der großen Pause die Zigarette herumging, die wir uns von einem der älteren Schüler geschnorrt hatten. Aber manche Veränderungen geschahen auch nachts. Wenn man allein war. Allein mit sich und den tausenden Jahren menschlicher Evolutionsgeschichte.
Mit dem ersten Samenerguss kam die große Ratlosigkeit, und die die Zeit des unbeschwerten Schaukelhockens und Eisessens war vorbei. An jeder Ecke lauerten Herausforderungen, die wir bestehen wollten. Plötzlich war uns unser eigener Körper zu klein geworden. Wir wußten nicht, wohin mit unserer Ungeduld. Es mußte sich etwas verändern. Aber was? Die Ratlosigkeit stand uns in den jugendlichen Gesichtern geschrieben.
Wir hielten weiterhin an den alten Ritualen der Kindheit fest, weil wir noch keine Neuen hatten. Wir trafen uns nachmittags nach der Schule auf dem Sportplatz. Uli brachte seinen Ball mit und wir kickten ein bißchen über den Rasen. Aber anstatt dass wir die ganze Zeit Fussball spielten so wie noch wenige Wochen zuvor, setzten wir uns an den Spielrand, rauchten Zigaretten und überlegten, ob wir in die nahegelegene Stadt fahren sollten, um uns in den Kaufhäusern die Taschen vollzustopfen oder andere Jungs zu treffen und noch mehr Zigaretten zu rauchen. Eigentlich sassen wir nur herum und taten gar nichts. Zumindest schien das so. In Wirklichkeit häuteten wir uns. Wir legten unseren kindlichen Spieltrieb ab und konzentrierten uns auf eine andere Sache, die uns bis zum Ende unserer Tage nicht mehr loslassen würde: die Mädchen.
Über Nacht schienen sie uns der Schlüssel zur Welt geworden zu sein. Wir waren uns selbst nicht mehr genug, und das erzeugte eine ungeheure Unruhe. Wir ahnten, dass diese Sache mit dem Samenerguss irgendetwas zu bedeuten hatte, denn schließlich mußte das Zeug ja irgendwo hin. Natürlich wußten wir, dass das in die Mädchen mußte. Aber mit unseren bisherigen, von Mädchen weitgehend isolierten Spielchen war das nicht zu schaffen.
Das Fussballspielen und das Ralleyfahren mit dem BMX- Rad würde uns nicht weiterbringen bei der Frage, wie der Samen, der uns zwischen den Beinen brannte, zu den Mädchen gelangen konnte. Es war eine Zeit der Rätsel, in der sich noch kindliche Dinge wie das Zelten im Sommer plötzlich mit stundenlangen Gesprächen über die Figur der einen oder das Gesicht der anderen verbanden.
Die Mädchen begannen sich zu unterscheiden. Es gab solche, die waren hübsch und begehrenswert und es gab solche, die wir nicht mit unserem Sperma in Verbindung bringen wollten.
Solche Gespräche waren der Grundstein für etwas, das mich bis zum heutigen Tage begleitete: Die Parallele von Sex und Romantik. Einerseits waren da die Gedanken an Brüste und der unstillbare Wunsch, sie zu berühren. Andererseits waren da die Phantasien von verliebter Zweisamkeit mit einem Mädchen. Wir beide auf der Sommerwiese liegend, die Sommersonne scheint vom tiefblauen Himmel herab. Manchmal variierte es leicht. Aus dem Sommerhimmel wurde mal eine laue Sommernacht, und manchmal lagen wir in einer Hängematte. Aber das waren Spielarten, die sich nur unwesentlich voneinander unterschieden.
Im Kern ging es immer um dasselbe, nämlich um Nähe und Vertrautheit in einer Umgebung, die auf nichts anderes gerichtet zu sein schien als zwei Menschen zusammenzubringen. Seitdem mir dieses Bild von der Hängematte im Sonnenuntergang zum ersten Mal vor Augen stand, war das mein Gleichnis vom absoluten Glück auf Erden. Und deshalb war ich auch, seitdem ich denken konnte, in Mädchen verliebt. Dahinter stand die Hoffnung auf die Verwirklichung dieses Sommertraums. Über die Jahre hinweg mussten es zig gewesen sein, denen ich freimütig mein Herz geschenkt habe.
Damals verliebte ich mich jeden Monat in eine andere. Mal war es Anika aus unserer Klasse, eine hochgewachsene, schmallippige Italienerin mit Zahnspange. Etliche Schulstunden verbrachte ich mit romantischen Träumereien über einen gemeinsamen Besuch im Kino und einen scheuen Kuss vor ihrer Haustür. Aber dann stellte sich heraus, dass sie mit Karsten zusammen war, einem grobschrötigen Kerl aus der Parallelklasse, der zwei Köpfe größer war als ich und ein Motorrad fuhr. Nach ein paar Tagen der melancholischen Grübelei über das Ende der Welt und die Sinnlosigkeit des Lebens verliebte ich mich in ein Mädchen, deren Namen ich nicht kannte, die mir aber öfters in der grossen Pausenhalle begegnete.
So ging das an einer Tour. Nach einer Weile fragte ich mich, wo das noch enden sollte. Jedesmal wurde das Verliebtsein heftiger und die Verzweiflung größer. Irgendwie mußte es doch möglich sein, die Träume in die Realität umzusetzten. Ich schrieb Gedichte, um wenigstens ein wenig greifbare Realität aus meinen Träumen zu schaffen. Ich träumte davon, dass eines Tages eine schöne Frau sie finden und nur aufgrund der Gedichte eine glühende, ewigliche Liebe zu mir entfachen würde. Oder dass sie wenigstens in einer Mädchenzeitschrift veröffentlicht wurden, nachdem ich vor lauter Liebeskummer von der Klippe gesprungen war.
Ich sprang nicht und schrieb stattdessen mehr Gedichte. Aber das konnte doch nicht alles gewesen sein, oder? Da musste es doch mehr geben ausser Gedichten.
Tommy war wieder einmal der erste, der sich nach vorn tastete. Er war derjenige, der voranging und uns durch das Dunkel einer Jugend führte, in der die Tage voll waren mit romantischem Kribbeln im Bauch und die Nächte beherrscht wurden von feuchten Träumen über Frauen in superknappen Bikinis.
Auch die Mädchen des Solid- Gold- Tanzballetts schlichen sich von Zeit zu Zeit in meine Träume. Jeden Samstag nachmittag traten sie in engen Kostümchen in einer Musikshow im ZDF auf, die von Tommy Ohrner moderiert wurde. Unserem Tim Taler. Unserem Manni, dem Libero. Fast war es so, als würden zwei Tommys uns durch diese dunkle Zeit führen. Tommy Ohrner mit seinem Tanzballett und unser Tommy, der eines Nachmittags ein paar Pornohefte auf den Spielplatz mitbrachte, damit auch der letzte von uns eine Vorstellung vom Geschlechtsverkehr bekam.
Es herrschte helle Aufregung, und unter viel Gekicher und Gelächter blätterten wir uns durch die Seiten, meist zu dritt oder zu viert über ein Heft gebeugt. Das Herz klopfte uns bis zum Hals. Eine Wache wurde aufgestellt, um uns zu warnen, falls ein Erwachsener, etwa eine Mutter mit Kind, um die Ecke gebogen kam und uns die Entdeckung drohte.
Nachdem wir uns also wochenlang mit der Theorie beschäftigt und uns ein klares Bild darüber verschafft hatten, was wo zu finden war und wozu was gut sein sollte und nachdem wir uns auch sicher waren, dass uns das mehr interessierte als irgendetwas anderes (ein paar von Tommys Heften waren regelmäßig unauffindbar, wenn er sie wieder einsammeln wollte, und er regte sich jedesmal fürchterlich darüber auf), waren wir fest entschlossen, zur Tat zu schreiten. Aber was tun? Wir brauchten einen Anführer, jemanden, der uns zeigte, wo es langging.
Tommy schritt zur Tat. In der Nähe unseres Dorfes fand sonntags nachmittags eine Disco statt, und Tommy drängte darauf, dass wir dort hinfuhren. Eines Tages setzte sich also eine kleine Gruppe, eine Art Vorhut, bestehend aus Tommy, Uli und mir, auf die Fahrräder und fuhr los. Wir fühlten uns wie eine Expeditionsgruppe, die neues Land erkundete. Später verglich ich es mit Kolumbus, der die Idee eines neuen Handelsweges hatte und sich, getrieben von seinen Erwartungen und Hoffnungen, auf den Weg ins Unbekannte machte. Wir verliessen den Spielplatz und zogen zum ersten Mal hinaus in die Welt. Doch uns trieb nicht die Gier nach Gold, sondern die Gier nach weiblicher Bekanntschaft. Noch heute erschien mir das als etwas viel natürlicheres und fundamentaleres.
Es war eine vollkommen neue Welt, auf die wir trafen. Der erste Unterschied war schon einmal der, dass man Eintritt bezahlen mußte. Aber damit erwarben wir uns die Erlaubnis, tun und lassen zu können was wir wollten. Im Gegensatz zum Spielplatz konnte uns von hier niemand verscheuchen. Keine alte Frau von gegenüber, die mit der Polizei drohte und kein Platzwart, der uns vom Feld verwies, weil er den Rasen sprengen wollte. Hier war kein Erwachserer außer der Garderobenfrau und dem Typen hinter der Theke, die für den ordnungsgemäßen Betrieb sorgten. Die sich darum kümmerten, dass es einen Ort gab nur für uns und unsere Planspielchen, die sich ausschliesslich um Mädchen und Verliebtsein drehten.
Der erste Eindruck war enttäuschend. Die Räumlichkeiten waren düster und machten einen eher kahlen und leeren Eindruck. Ein paar Strahler schossen ihr buntes Licht durch den Raum, gerade ausreichend, um die Gesichter erkennen zu können. Auf der Tanzfläche hüpften ein paar Gestalten zur Musik herum.
Auf den zweiten Blick erkannten wir, dass eine ganze Menge Mädchen da waren. Sie liefen überall herum, sie standen an jeder Ecke, in Massen, genau wie in der Schule. Aber sie waren anders angezogen, als wir das bisher kannten. Aufreizender. Sie hatten sich extra zurechtgemacht.
Ich beobachtete, wie sie sich unterhielten, lachten, rauchten, sich was zum Trinken holten, tanzten, aufs Klo gingen und Händchen haltend ihre Runden um die Tanzflächen drehten.
Aber trotz all ihrer Aktivität schienen sie auf irgendetwas zu warten. Ich wußte nur nicht genau, auf was. Damals konnte ich mir keinen Reim darauf machen.
Und noch eine Sache irritierte mich. Obwohl uns kein Erwachsener unmittelbar kontrollierte, stürzten wir nicht wie die Wilden übereinander her. Es schien gar nicht viel zu passieren, und ich wußte zunächst gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Irgendwelche Regeln schienen uns in Schach zu halten. Irgendetwas jenseits der Welt der Erwachsenen wachte darüber, dass alles in einer stabilen Ordnung blieb. Zunächst schien mir diese Ordnung unüberwindbar. Ich verstand nicht, woher sie kam. Wenn ich die Ordnung meiner Eltern überwinden wollte, nahm ich meine Jacke und ging nach draußen. Wenn die Lehrer nicht hinguckten, borgten wir uns eine Zigarette und verzogen uns aufs Klo.
Doch wie überwand ich diese Ordnung, die ich nicht verstand und deren Quelle und Sinn ich nicht erkennen konnte? Ich hatte die Welt der Erwachsenen verlassen, nur um festzustellen, dass es Regeln zu geben schien, die auch jenseits der Autorität von Eltern und Lehrern ihre Gültigkeit nicht verloren. Im Gegenteil, sie schienen stärker zu sein als je zuvor. Als ob mit dem Wegfall der einen Autorität die andere Autorität als Ausgleich noch mehr Geltung beanspruchte. Es war eine Autorität, die nicht von der Anwesenheit Erwachsener abhängig zu sein schien. Sie war einfach da.
Die Mädchen und Jungs standen oder sassen herum, einige bewegten sich auf der Tanzfläche zur lauten Musik und wieder andere spielten Billard oder standen vor den Spieleautomaten. Mit dem erstaunten Gesicht von Konquestadoren, die gerade an einem unbekannten Strand gelandet waren und nun auf die ersten Einheimischen trafen, betraten wir unsere neue Welt und versuchten, uns so unauffällig wie möglich mit ihren Riten und Eigenarten vertraut zu machen. Wir liefen herum und suchten nach einer Beschäftigung.
Schliesslich wurden wir fündig. Unsere neue Welt hielt für jeden etwas bereit. Es gab zwei Billardtische, ein paar Spielautomaten mit Computerspielen, zwei Bars, eine Tanzfläche, aus den Boxen dröhnten die Hits der späten Achtziger und überall waren dunkle Ecken, in denen sich kleine Grüppchen niedergelassen hatten.
Weil ich nichts besseres mit mir anzufangen wußte, spielte ich mit Uli ein paar Runden Billard und setzte mich dann den Rest des Nachmittags vor einen Spielautomaten. Zwei Stunden lang tat ich nichts anderes als ein kleines Flugzeug durch einen feindlichen Luftraum zu steuern, zig gegnerische Flugzeuge vom Himmel zu holen und mich in der High- Score Liste nach oben zu arbeiten. Irgendwann machte ich mich auf die Suche nach Uli und Tommy.
Ich mußte ein paar Runden um die Tanzfläche drehen und dachte schon, es sei ihnen zu langweilig geworden und sie wären wieder nach Hause geradelt, als ich sie schließlich am Rande der Tanzfläche sitzten sah. Sie waren nicht allein. Sie unterhielten sich mit zwei Mädchen. Ich setzte mich dazu, wurde kurz vorgestellt, schüttelte zwei zarte Mädchenhände, blickte in zwei scheue Gesichter und rauchte danach eine Zigarette nach der anderen.
Auf der Heimfahrt waren Uli und Tommy Feuer und Flamme und unterhielten sich über ihre Chancen, die zwei Mädchen wiederzusehen. Sie wollten auf jeden Fall nächsten Sonntag wieder hingehen.
Am nächsten Sonntag verbesserte ich meinen Rang in der High-Score-Liste. Ich war jetzt schon unter den ersten fünf. Tommy und Uli hingen wieder mit den zwei Mädchen herum. Diesmal küßten sie sich schon zum Abschied. Es schien so, als hätten die beiden jetzt feste Freundinnen. Ich hatte das Gefühl, die neue Zeit verpasst zu haben. Uli und Tommy hatten irgendeinen Weg gefunden, die Chancen zu nutzen, die ihnen die neue Umgebung bot. Ich hingegen kämpfte regelmäßig gegen die Langeweile und wünschte mich mehr als einmal nach Hause vor den Fernseher. Ich begann schon, mir auszurechnen wieviele Kaugummis und Sammelbilder ich mir für das Eintrittsgeld hätte kaufen können.
Nach ein paar Wochen war aus unserem sonntäglichen Besuch in der Disco ein festes Ritual geworden. Uli war schnell wieder solo, und so vertrieben wir uns gemeinsam die Zeit mit Billard und dem Spielen am Automaten. Außerdem hatten wir uns schon ein paar Male auf die Tanzfläche gewagt.
Eines Tages kam Tommy mit einem Typen namens Mike an, der schon achtzehn war und einen Führerschein hatte. Mit einem Schlag erweiterte sich unser Aktionsradius gewaltig.
Adieu Fahrrad. Von nun an waren wir in Mikes Auto unterwegs. Von da an waren wir auch samstag abends auf Tour und klapperten die Discos und Partys im Umland ab.
Kurz darauf machten wir eine Entdeckung, wie wir uns in Zukunft außer mit Billardspielen und Spieleautomaten die Zeit vertreiben konnten: wir entdeckten den Alkohol.
Meistens hatten wir schon eine halbe Flasche Wodka und/ oder ein paar Dosen Bier geleert, wenn wir auf einer Party aufkreuzten. Mit dem Alkohol bekamen die Abende einen ganz besonderen Reiz. Es machte mir überhaupt nichts mehr aus, wildfremde Mädchen anzuquatschen. Der Alkohol schien jene rätselhafte Autorität zu vertreiben, die darüber wachte, dass Jungs und Mädchen sich nicht zu nahe kamen, selbst wenn kein Erwachsener in der Nähe war. Ich machte mir keine Sorgen mehr um meine Frisur, meine Klamotten, meine schmächtige Figur oder unreine Haut. Alles war in Ordnung, wenn man besoffen war.
Sobald wir auf einer Party waren, sorgten wir dafür, dass wir schnell etwas zu trinken bekamen, damit unser Pegel nicht sank und die euphorische Stimmung nicht nachliess. So geschah es auch auf jener Party, die in einem Dorfgemeindehaus abgehalten wurde, als ich zum ersten Mal ein Mädchen küsste.
Ihren Namen hatte ich schon damals schnell wieder vergessen. Ich erinnere mich auch kaum mehr daran, wie sie aussah. Es war dunkel, wie üblich liefen eine Menge Leute herum und außerdem hatte ich eine ganze Menge getrunken. Ich weiss nur noch, dass sie zu einer Gruppe von Mädchen gehörte, die sich zu uns gesellten, nachdem Tommy eine von ihnen angesprochen hatte. Irgendwann legte sie wie selbstverständlich ihren Arm um mich, und ich tat dasselbe. Es war eher ein Reflex als ein geplanter Schritt, mich ihr zu nähern. So wie man fast automatisch zurückwinkt, wenn jemand einem zuwinkt.
Ich weiss noch, dass die anderen sich einen Weg quer durch die Menge bahnten und wir beide aus irgendeinem Grunde zurückblieben. Ich weiss noch, dass sie mich mit großer Bestimmtheit in eine Ecke führte, mich gegen die Wand drückte und dann ihre Lippen gegen meine presste. Erst stockte mir der Atem. Sekunden darauf bekam ich ihre Zunge zu spüren. Sie war so nass wie ein Waschlappen. Im Gegenzug fuhr ich ihr mit meiner Zunge über die Lippen und versuchte, gleichzeitig Luft zu holen. Ich dachte, dass Küssen und Schwimmen viel gemeinsam hatte. Man wurde nass und hatte Schwierigkeiten, regelmässig zu atmen. Wir hatten zuvor so gut wie kein Wort gewechselt. Wie seltsam das war, fiel mir erst viel später auf. Ich hatte keine Ahnung, wer mir da eigentlich am Mund klebte.
Allmählich bekam ich das gleichzeitige Küssen und Atmen in den Griff. Wie lange wir dort standen, vermochte ich schon damals nicht zu sagen. Ich war von ihrer Zunge viel zu sehr fasziniert, um an solche Dinge wie Zeit zu denken und wollte meine Zunge gar nicht mehr aus ihrem Mund nehmen. Mir war schwindelig und mein Magen drehte eine Runde nach der anderen um meine Eingeweide, aber ich würde mich nicht übergeben müssen, so viel war sicher.
Ich stellte fest, dass Mädchenzungen gar nicht so schlecht schmeckten. Nach wenigen Augenblicken schien es mir das normalste auf der Welt, dass wir unseren Speichel austauschten, und bald kam es mir so vor, als hätte ich nie etwas anderes getan als Mädchen zu küssen.
Meine Hände fuhren ihren Rücken rauf und runter, und einmal schob ich sogar ganz verwegen die Hand unter ihre Bluse und spürte die Knorpel ihres Rückgrades. Wenn ich die Augen kurz mal öffnete, was ich die ganze Zeit über eher selten tat, blickte ich auf ihre geschlossenen Augenlieder nur wenige Millimeter vor mir. Bis dahin war es das Aufregendste, was mir jemals passiert war. Es war mit nichts zu vergleichen, höchstens mit dem Glücksgefühl, wenn man ein Tor geschossen hatte und die Mannschaftskameraden voller Freude auf einen zustürmten.
Irgendwann bemerkte ich, wie die Schatten ihrer Freundinnen neben uns auftauchten. Sie liessen uns noch eine Weile gewähren. Dann tippte eine von ihnen meiner Herzdame auf die Schulter, und wir liessen voneinander ab. Fast hatte ich so etwas wie einen Plopp erwartet, als unsere Lippen sich trennten. Schliesslich war alles vorbei. Meine Lippen pochten. Mein ganzer Körper war erhitzt. Ich war total durchgeschwitzt. Wir standen noch eine Weile Hand in Hand da, tauschten die notwendigsten Informationen wie Namen, Alter, Wohnort und Stammdisco aus und beteuerten uns gegenseitig, uns wiedersehen zu wollen. Am Ende gab sie mir noch einen Abschiedskuss und verschwand mit ihren Freundinnen in Richtung Ausgang.
Ich blieb noch eine Weile stehen, um den Triumph auszukosten. Mein Mund erinnerte sich noch ganz genau an das Gefühl, an ihrer Zunge zu lutschen. Ich torkelte durch die Menge, ergatterte noch von irgendwoher ein Bier und fand die anderen schließlich vor den Klos wieder. Uli hatte sich übergeben und sah leichenblass aus. Tommy rauchte eine Zigarette und hielt es für das beste, nach Hause zu fahren. Vorausgesetzt, wir würden unseren Fahrer wiederfinden. Ich grinste nur durch die Gegend und nickte vor mich hin. Die ganze Welt schien von nun an unter meinem Kommando zu stehen. Ich war sechzehn Jahre alt und hatte gerade meinen ersten Kuss hinter mich gebracht. Ich fühlte mich gut. Trotzdem hätte ich nicht sagen können, wie zum Teufel ich es angestellt hatte, ein Mädchen zum Knutschen zu ergattern.


5.

Obwohl Anna und Lars schon seit fünf Jahren ein Paar waren, waren sie erst vor wenigen Monaten zusammengezogen. Nun waren ein Winter und ein Frühling vergangen, und währenddessen hatten sie sich ihr kleines Nest eingerichtet, mit sündhaft teuren Elektogeräten, einem Fernsehtischchen, einem schönen rotem Sofa, auf dem ich gerade sass, einer mit rustikalen Möbeln bestücken Wohnküche, kleinen Fotogalerien von Verwandten, lebendigen, aber auch toten, was mich irgendwie an den Ahnenkult der Römer erinnerte, und natürlich viel Grün vor den Fenstern, um zu betonen, dass hier das Leben herrschte. Und wo Leben war, war Hoffnung. Dazwischen lockerte allerlei Schnickschnack die Spannung und sorgte für genügend Abstand zur spießbürgerlichen Ordnung. Aber um den Biedermeier waren sie nicht ganz herum gekommen. Es war schick und gemütlich. Ein perfektes Nest. Sobald sie sich ein paar Monate beschnuppert hatten, würde hier der Nachwuchs mit seinen kleinen Patschehändchen den Staub vom Linoleumboden wischen.
Nirgendwo stand mehr eine Umzugskiste im Weg herum, die noch darauf wartete, ausgeräumt zu werden. Keine blanke Wand, die noch mit Marc-Chagall-Farbdrucken oder grossformatigen Schwarz-Weiss-Aufnahmen von auf den Trägern eines Wolkenkratzers herumlungernden Bauarbeitern behängt werden musste. Alles hatte seinen festen Platz gefunden. Und wo noch eine Lücke im Regal war, wurde die allmählich mit Ikea- Nippes aufgefüllt.
In ihrer schlichten Ordnung dokumentierte die Wohnung, dass Lars und Anna irgendwo angekommen waren. Mit der Gründung eines gemeinsamen Hausstandes hatte die Suche der beiden nach dem passenden Partner ein Ende gefunden. Eine neue Phase ihres Lebens hatte begonnen: Die Nestbauphase. Und damit verlor die Behausung der beiden auch ihren provisorischen Charakter. Sie hatte nichts von der hoffnungsvollen Aufbruchstimmung und dem ewig Provisorischen einer Single- Wohnung. Vom ewig provisorischen Charakter meiner Single- Wohnung zum Beispiel.
Single- Wohnungen waren so etwas wie eine Zwischenstation, eine Art Wartehalle am Bahnhof des Lebens, wobei die meisten, die man in der Halle traf, sich sicher waren, dass ihr Zug bald einfahren, sprich, dass ihr Single- Dasein bald vorbei sein würde. Trotz der lautstarken Bekentnisse zur Individualität und zur Freiheit suchte doch jeder den Weg unter einen weiblichen Rock oder in die starken Arme eines verständnisvollen Mannes. Und zwar auf Dauer. Die Eschatologie eines Single bezog sich auf den festen Glauben an das kommende Heil in trauter Zweisamkeit.
Deshalb sah es in den meisten Single- Wohnungen so aus, als lebe der Bewohner ständig auf gepackten Koffern. Hier ein Karton, der noch nicht ausgepackt war und dort eine Ecke, in der eigentlich irgendein Möbelstück stehen müßte, die aber als Symbol für das Provisorische des Single- Zustands leer blieb.
Diese Wohnung hingegen war keine Wartehalle, kein vorübergehendes Domizil und keine Notunterkunft, sondern eine Keimzelle auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft als Familie mit Kindern. Fast sah man die kleinen Bälger schon in die Ecke pinkeln oder quer über den Teppich fallen. Anna und Lars hatte sich aller Ecken und Räume angenommen, und es gab keinen Grund, das den Besuchern nicht zu demonstrieren.
Bis es mit den Kinder soweit war, hielten sie sich zwei kleine Katzen namens Mokassin und Lewis. Das gab ihnen die Möglichkeit, das Dasein als fürsorgliche Eltern zu simulieren. Eine Art Trockenübung am Beckenrand, bevor man sich ins kalte Wasser einer Familiengründung wagte.
Der Besuch einer Pärchenwohnung konnte für einen Single äußerst gefährlich werden. Meistens gingen meine Besuche ohne weitere Zwischenfälle über die Bühne. Wir quatschten und tranken Wein oder Kaffee oder schauten ein oder zwei DVD an. Ich kannte die beiden so lange, da vergass ich fast, dass sie ein Paar waren.
Manchmal aber wurde ich ein wenig melancholisch und beneidete sie. Lars und Anna waren so viel weiter als ich. Manchmal befiel mich sogar so etwas wie eine leichte Rührseligkeit bei dem Gedanken, dass mir so etwas vielleicht auch einmal bevorstand. Der Einzug in die Trautes-Heim-Glück-Allein-Pärchen-Wohnung.
Die plötzliche Erkenntis der Trostlosigkeit seines eigenen Daseins konnte angesichts solcher organisierter Zweisamkeit einen heftigen Schock auslösen. Beim Anblick dieser geballten Sinnhaftigkeit wurde der Single plötzlich mit der Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz konfrontiert, die nicht so schnell zu beantworten war. Es fehlte der Partner, auf den verwiesen werden konnte. Pärchen schienen es irgendwie geschafft zu haben, sich in die ewige Kreisbewegung der Natur aus Werden und Vergehen harmonisch einzuordnen und zogen daraus ihre Daseinsberechtigung, während die Lebenslinie der Singles in ewig gradliniger Richtung ins Nichts gerichtet schien. Aber wozu? In solchen Augenblicken konnte ich kaum dem Drang widerstehen, mich übereilt zu verabschieden und aus der Wohnung zu stürzen, um nach Hause zu fliehen.
Ich lebte in einer Wohnung, die keinerlei weibliche Handschrift trug. Ausser vielleicht ein paar langen Haaren, die im Abfluss zurückblieben, wenn sich eine weibliche Besucherin einmal duschte.
Von meinen Bekanntschaften blieb keine lange genug, um mein Zimmer umzugestalten oder auch nur herumzunörgeln, dass sich das Geschirr stapelte oder dass ich mal Vorhänge vor das Schlafzimmerfenster montieren sollte.
Wenn ein Mädchen damit anfing, die Wohnung umzuplanen, dann war es ein sicheres Zeichen dafür, dass sie dich mochte. Dass sie sich um dich kümmerte. Dass du ihr etwas bedeutetest. Denn wenn sie anfing, deine Wohnung umzuräumen, hatte sie die Absicht, dich zu verändern. Und wenn ein Mädchen dich verändern wollte, dann war das ein sicheres Zeichen der Zuneigung. Sie investierte etwas. Und das machte eine Frau nur, wenn sie wirklich verschossen war und mit dir zusammensein wollte. Bei genauerer Überlegung war es nicht so, dass sie deine Wohnung umplante sondern dass sie damit begann, mit dem Gedanken zu spielen, ob sie nicht bei dir einziehen sollte. In Wahrheit begann sie also damit, ihre neue Wohnung zu planen. Das machte das ganze so unheimlich. In dem Satz "Eigentlich könnte man den Schrank auch dahin stellen" steckte eine enorme Sprengkraft.
Aber manchmal konnte ein Besuch in einer Pärchenwohnung auch zum Vorteil des Singles verlaufen. So zum Beispiel, wenn Anna Lars vorwarf, dass er nie seine getragene Unterwäsche in den Wäschebeutel räumen konnte und Lars das mit einem müden Lächeln herunterschluckte, obwohl er vor Wut kochte, weil er siebzig Stunden die Woche im Büro verbrachte und Anna nur vierzig, womit seiner Ansicht nach die Frage der Haushaltsführung ein für allemal beantwortet war. Ich konnte seine Mühe, sich zu beherrschen, an seinem Blick sehen und daran, dass er sich mit der flachen Hand ständig die Haare glatt strich. Das tat er immer wenn er entweder nervös oder total sauer war.
Anstatt sich darüber aufzuregen und zurückzuschreien, murmelte er in meine Richtung, dass Anna nie den Klodeckel herunterklappen konnte, wenn sie auf der Toilette war. Dann nickte ich verständnisvoll, piddelte verlegen am Etikett meiner Bierflasche herum und war innerlich erleichtert darüber, meine Wohnung und überhaupt mein ganzes Leben für mich alleine zu haben. Niemand räumte hinter mir her, ich konnte alles überall stehen und liegen lassen und musste dabei nur darauf achten, dass ich wenigstens einen Mindeststandart an Reinlichkeit einhielt, damit das ganze System Wohnung nicht in sich zusammenbrach oder ich vom vielen Staub einen Hautausschlag bekam. Und wenn ich nach Hause kam, konnte ich sicher sein, dass noch alles an seinem alten Platz stand. Bei solchen Gelegenheiten ging ich als Punktsieger nach Hause.
Heute allerdings war ich weit davon entfernt, irgendeinen Sieg zu erringen. Ich verlor an Boden, und von Minute zu Minute wurde meine Lage unerträglicher.
Beim Essen sass Jasmin links von mir, aber bis jetzt waren wir kaum dazu gekommen, ein Wort zu wechseln. Sie unterhielt sich mit Anna über irgendwelche Kollegen von der Arbeit.
Ich hatte mir nie etwas besonderes unter ihrer Arbeit im Reisebüro vorstellen können, außer dass sie in Katalogen blätterte, auf den Webseiten von Fluglinien nach Ticketpreisen suchte oder im Pausenraum eine Zigarette nach der anderen rauchte. Naja, ich schätze, das wars zum größten Teil wirklich schon gewesen. Und Jasmin tat seit etwa zwei Wochen das gleiche. Worüber konnte man sich da unterhalten? Über einen umwerfend preisgünstigen Trip nach Kuba oder die beste Taktik, um ein Pauschalprogramm an den Mann zu bringen? Wohl doch eher darüber, welche Kollegin wahrscheinlich schwanger war und wer mit wem eine heimliche Affaire hatte. Heimliche Affaire. In einem Reisebüro. Wenn ich die zwei tuscheln sah glaubte ich, dass vor ihnen nichts geheim zu halten war.
Anna hielt sich bisher weitgehend zurück mit ihren Verkuppelungsversuchen. War gespannt, wie sie das anstellen wollte.
"Jan ist Systemanalytiker bei einer Bank", meinte Anna plötzlich ganz unvermittelt und lächelte in meine Richung, als habe sie gerade verkündet, sie sei im dritten Monat schwanger.
"Ach, echt?" Jasmin drehte sich zu mir um.
Da hatten wirs. Annas Versuch, mich interessant zu machen. Der auch glatt fehlging. Weil mir außer einem unflätigen Lächeln nichts einfiel, was ich darauf hätte erwidern können. Also behielt ich einfach mein dümmliches Lächeln bei in der Hoffnung, dass irgendetwas passieren würde.
"Was macht ein Systemanalytiker?"
Von allen Fragen, die bei dem Wort Systemanalytiker auftauchten, lag diese mit 95 Prozent klar an der Spitze. Die zweithäufigste Frage, mit etwa 5 Prozent auf den zweiten Platz verwiesen, war überhaupt nur einmal gestellt worden, und zwar von einem Typen im Fussballstadion, der ungefähr fünfzig Kilo Übergewicht und einer üblen Alkoholfahne mit sich herumtrug. Er fragte, ob das nicht gefährlich war, ständig mit Chemiekalien zu experimentieren, was mich dazu brachte, ihm zu offenbaren, dass das nicht das geringste mit Chemikalien zu tun hatte, was er mit einem Achselzucken quittierte. Bei Jasmin konnte ich also auf meine Standartantwort zurückgreifen. Die lautete ungefähr so:
"Ich schreibe Computerprogramme, mit denen man dann Simulationen und Berechnungen anstellen kann. Sowas brauchen vor allem grosse Unternehmen, um etwa ihren Export und Import planen zu können. Ich übersetze zum Beispiel verschiedene wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten in eine Computersprache und kann dann das Wachstum oder den besten Preis für ein bestimmtes Produkt oder auch den besten Ausgabekurs für eine Aktie berechnen. Oder auf das Steueraufkommen für das nächste halbe Jahr."
Jasmin schaute mich immer noch ein wenig verwirrt an. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich die Frage, ob sie so tun sollte, als ob sie verstünde oder ob sie zugeben sollte, dass sie noch nicht genau verstand, wovon ich redete. Also erlöste ich sie von ihrer Not und fasste alles zu einer einfachen, leicht verständlichen Formel zusammen.
"Ich versuche, wirtschaftliche Vorgänge zu prognostizieren."
Ihr Gesicht erhellte sich.
"Du bist also sowas wie ein Wahrsager?"
"Ja, so ungefähr. Auf wirtschaftlicher Ebene."
"Hast Du dafür studiert."
"Betriebswirtschaft und Informatik."
"Was? Gleich zwei Sachen?"
"Gleich zwei Sachen", bestätigte ich mit einem leichten Triumph in der Stimme, wohl wissend, dass ich damit den ersten und letzten Jocker gezogen hatte, der mir zur Verfügung stand. Attraktiver als in diesem Augenblick würde ich niemals sein. Ich hatte kein schickes Auto und keine italienischen Vorfahren, ich sah nicht auffallend gut aus und ich hatte auch keine umwerfenden Hobbies oder Zukunftspläne. Ich war Systemanalytiker. Ich las Bücher über Mathematik, Programmierung und europäische Geschichte. Ich schaute mir gern Sportberichte, Dokus und die Harald- Schmidt- Show an. Meine Lieblingsband war immer noch Nirvana. Ich konnte Nudelauflauf kochen. Ab und an bewegte ich mich hinaus zum Joggen. Das war´s. Interessanter als in dieser Sekunde würde ich niemals werden.
Wenn sie also jetzt nicht anbiss...
Jasmin drehte sich wieder in die andere Richtung und unterhielt sich weiter mit Anna. Ich sagte doch, heute hätte ich nicht einmal einen Blumentopf gewonnen.
Ich nahm einen Schluck von meinem Bier, wandte mich an Lars und begann, über die Fussball- Weltmeisterschaft zu reden, die gerade begonnen hatte.
"Spanien 1982 war die erste WM, die ich mit einigermassen wachem Verstand mitbekommen hab. Wieso konnte man damals alle Vorrundenspiele sehen und heute nicht mehr? Für mich ein klarer Beweis dafür, dass die Zeiten schlechter werden und nicht besser. Zumindest was das Fernsehen angeht", meinte ich und schob mir ein paar Nudeln in den Mund.
Lars gab mir recht.
"Und der Typ, der alle Rechte aufgekauft hat und dafür verantwortlich ist, wird vom Land Bayern auch noch dafür subventioniert, damit wir die Spiele nicht sehen können", erregte er sich. "Für sein blödes Bezahlfernsehen."
"Mit dem er jetzt pleite gegangen ist", ergänzte ich.
"Man muss sich das mal vorstellen: Er hat sich Rechte gekauft von Geld, das ihm gar nicht gehört sondern dem Steuerzahler, um dem anschliessend die Hälfte der Spiele zu klauen...", schimpfte Lars.
"...wir haben praktisch dafür bezahlt, um etwas weggenommen zu bekommen...", stachelte ich Lars an.
"...und seine Masche durchzudrücken. Und jetzt ist er damit pleite gegangen. Und wir können nur die Hälfte der Spiele sehen. Ist das noch normal? Ich hätte gute Lust, dem Typen die Gurgel umzudrehen."
Ich hatte von Lars noch nie eine Drohung gegen irgendjemanden gehört. Er war der friedlichste Typ, den man sich überhaupt vorstellen konnte. Wenn er mal wütend war, dann führte das höchstens zu einer hochgezogenen Augenbraue oder einem mißmutigen Seufzer. Oder zum Haarezurückstreichen. Anna schaute ihn ein wenig befremdet an und lud sich noch eine Portion Nudeln auf den Teller. Ich blieb beim Thema.
"Ich sag dir, er hat einen Fehler gemacht mit seinem Bezahlfernsehen. Die Idee war ja, dass der Sender sich über die Abbonements statt über Werbung finanziert. Das ganze hat aber einen riesigen Denkfehler. Die Leute wollen nämlich Werbung sehen..."
Während des Essens war es zwischen Jasmin und mir zu ein paar flüchtigen, unabsichtlichen Berührungen gekommen. Nichts Großes, und doch war ich immer wieder dabei zusammengezuckt. Wenn ein attraktives Mädchen mich zufällig berührte, dann bildete ich mir gern ein, dass es irgendetwas zu bedeuten hatte. Dass eine klitzekleine Absicht dahinter stand. Eigentlich war es sowas wie eine Wunschvorstellung und hatte viel mit männlichem Optimismus zu tun. In solchen Angelegenheiten herrschte bei Männern ein Überschuss an Optimismus. Das war wissenschaftlich erwiesen.
"Warum wollen die Leute Werbung sehen?", fragte Jasmin plötzlich. Sie hielt die Salatschüssel in der Hand und ich hatte eigentlich erwartet, dass sie in ihre Unterhaltung mit Anna vertieft war. Fußball war sicherlich überhaupt nicht ihr Ding (Stichwort gemeinsame Interessen). Stattdessen schnappte sie meinen letzten Satz auf und schaltete sich unversehens in die Diskussion ein.
Ich war überrascht und stockte eine Sekunde. Ihr Ton hatte sich ein bißchen gereizt angehört. Fast feindselig. Als ob sie es auf eine hitzige Diskussion anlegte. Ich überlegte den Bruchteil einer Sekunde, ob ich die Herausforderung annehmen sollte und beschloss dann, die Zurückhaltung aufzugeben. Sie war vielleicht hübscher als alle Mädchen im Umkreis von zwanzig Kilometern oder mehr, aber ich wollte sehen, was sie so an Diskussionsfreude zu bieten hatte. Das war eine Ebene, auf der ich mich gern mit ihr traf. Hier fühlte ich mich sicher.
"Weil die Werbung den Leuten erzählt, was gerade in ist und was out. Sie können sich daran orientieren. Bei einem Kanal ohne Werbung fühlen sie sich vom Mainstream abgeschnitten. Ohne Information darüber, welche Produkte angesagt sind. Das macht sie unsicher."
"Aha. Glaubst du nicht, dass die Leute selbst darüber entscheiden können, was für sie wichtig ist und was nicht?"
Ich lächelte. Ich wollte ihr sagen, dass ich das ein bißchen naiv fand, bemerkte aber, wie Anna nervös an ihren Händen herumknetete und Lars schweigend eine Zigarette im Mundwinkel hielt, ohne sie sich anzuzünden. Also verkniff ich mir die offensive Vorgehensweise und schlug einen defensiven Weg ein.
"Ich will ja niemandem seinen freien Willen abschwätzen. Aber mit zu viel Freiheit können die Leute auch nichts anfangen. Jeder braucht Orientierung. Irgendetwas, das ihm Impulse gibt. Eine Richtung. Nur die allerwenigsten sind in der Lage, aus sich selbst heraus zu schöpfen." Ich sprach im versöhnlichen, ruhigen Ton eines toleranten Menschen, der durchaus noch eine andere Meinung neben sich vertragen konnte.
"Und du bist so jemand, der das kann." Anstatt auf eine sanftere Schiene einzuschwenken, goss sie einfach noch Öl ins Feuer. Warum sollte ich jetzt nachgeben, wenn sie mich gar nicht verstehen wollte?
"Das hab ich doch gar nicht gesagt. Ich hab doch nur gesagt, dass zu viel Freiheit auch nicht gut ist. Die meisten sind mit der Freiheit, die ihnen zur Verfügung steht, schlichtweg überfordert. Sie müssen sich ihren Job suchen, ihren Partner, ihre Wohnungseinrichtung, ihre Konsumartikel, ihre Moral, ja selbst ihre Religion. Was glaubst du, warum es so einen Haufen verschiedener Glaubensrichtungen gibt? In der westlichen Welt strickt sich jeder seinen eigenen Glauben zusammen. Eine Prise Wiedergeburt gepaart mit ein paar christlichen Versatzstücken wie der Sintflut oder der Dreifaltigkeit. Eine gemeinsame Kultur muss ein Mindestmaß an Vorgaben stellen, sonst wäre sie ja nicht gemeinsam. Im Westen wird aber immer nur die Freiheit und Individualität betont, ohne zu sagen, was man damit anfangen soll. Das reicht eben nicht."
"Du findest also, dass die meisten mit ihrer Freiheit nichts anfangen können."
"Wenn du so willst. Ich glaube, dass sich eine Menge Leute unwohl fühlen und nach einer Führung suchen. Oder zumindest nach gesellschaftlichen Vorgaben."
"Hört sich ein bißchen faschistisch an", meinte Jasmin und funkelte mich an. Lars hustete. Anna seufzte. Es war ihr anzusehen, dass sie sich langsam von ihrem Plan verabschiedete, Jasmin und mich zu verkuppeln.
"Was hat das denn mit Faschismus zu tun? Das ist wieder mal typisch deutsch. Kaum rede ich von gesellschaftlichen Vorgaben, wird das Fass "Faschismus" aufgemacht. Ich sage doch nur, dass Freiheit allein es auch nicht bringt."
"Und ich finde, dass man gar nicht genug Freiheit haben kann", meinte Jasmin, und ihre Stimme zitterte dabei ein wenig.
"Jede Form von Kontrolle ist die Ausübung von Macht, um Leute zu manipulieren, und das ist schlichtweg faschistisch. Die Werbung ist dazu da, um Leute zu manipulieren und davon abzulenken, was wirklich wichtig ist. Und wozu? Nur damit sie ihre eigenen Produkte verkaufen können. Das sind keine Vorgaben, das ist die Erschaffung von Abhängigkeiten. Gedankenwäsche. Faschismus."
Wow. Ich hatte anscheinend die Gesprächsthemen während der Mittagspause in einem Reisebüro total unterschätzt. Ich war tief beeindruckt. Sie war nicht nur umwerfend hübsch sondern auch noch hinreißend streitbar. Ich gab mir noch etwa fünf Minuten, bis ich mich in sie verknallte.
"Totaler Quatsch", mumelte ich, "jetzt übertreibst du aber echt."
Lars zündete sich mißmutig seine Zigarette an. Auch Jasmin liess sich von Lars eine Zigarette geben. Anna setzte ein verlegenes Lächeln auf, klatschte in die Hände und fragte: "Wollen wir was spielen? Wie wär´s mit Kniffel?"
Ich nickte, obwohl ich mir sicher war, dass ich auch beim Kniffeln verlieren würde.
 

axel

Mitglied
Hallo Holger.
Natürlich habe ich die eingeforderte Fortsetzung deiner Hügelgeschichte sogleich gelesen.
Meine erste Reaktion (vor allem auf das Kapitel Nummer 4) lautet: Wo ist der (Sprach-)witz geblieben?
Wenn ich dieses vierte mit dem zweiten Kapitel vergleiche, dann werden die Unterschiede ganz besonders deutlich: In beiden Texten geht es um Erfahrungen, die wahrscheinlich jeder so oder ähnlich mal gemacht hat. In Kapitel zwei hast du einen Einzelfall beschrieben, und dafür eine durchaus plastische Sprache gefunden. Diesen Teil konnte man mit einem leichten Schmunzeln lesen, und vor allem: Man (oder genauer gesagt: ich) hatte Lust dazu, dies zu tun.
In diesem vierten Kapitel reihst du nur irgendwelche mehr oder weniger allgemeinen Weisheiten aneinander, ohne damit wirklich etwas zu erzählen.
Es ist schon komisch, wenn ein so langes Kapitel mit dem Satz beginnt, dass dir nicht viel in Erinnerung geblieben ist. Danach folgt eine bloße Aneinanderreihung von Sätzen, die nicht einmal sonderlich gut gestaltet sind. Mir ging es beim Lesen so, dass ich nach einigen Abschnitten ahnte, wie es weitergehen würde, dass ich mich nach einigen weiteren Abschnitten bestätigt fühlte, und mich anschließend zwingen musste, den Text überhaupt noch ganz zu lesen, und nicht bloß zu überfliegen.
Mein Vorschlag: Lege dir mal das zweite und das vierte Kapitel nebeneinander auf den Tisch und lese beides parallel. Versuche dabei, dir vorzustellen, wie das zweite Kapitel lauten würde, wenn du es ähnlich formuliert hättest wie das vierte. Ins Blaue hinein:
„Wenn man auf einmal erfuhr, dass das beliebteste Mädchen der Klasse sich ausgerechnet für einen selbst interessierte, dann konnte man schon ahnen, dass das nicht gutgehen konnte. Man wurde gar nicht gefragt, ob und was man selber wollte, stattdessen musste man tatenlos zusehen, wie Freunde und Geschwister einem die Organisation und Vorbereitung des ersten Treffens einfach aus den Händen rissen.“
So oder ähnlich stelle ich es mir vor. Grausam, nicht wahr?
Wenn dir der Unterschied auffällt, dann kannst du bei einem Vergleich beider Texte vielleicht auch erkennen, wie du das vierte Kapitel als Rohstoff benutzen könntest, um daraus eine echte Erzählung zu machen.

Zur Lektüre des fünften Kapitels hatte ich zunächst gar keine Lust mehr, habe erstmal einen Tag verstreichen lassen. Mein Kommentar dazu: Es ist wieder etwas besser als das vierte, allerdings viel zu lang, wobei ich „lang“ durchaus im Sinne von „langatmig“ verstehe.
Die Beschreibung der Wohnungseinrichtung des Pärchens fand ich beinahe komplett überflüssig, der Hinweis auf das „angekommen sein“ im Gegensatz zum Provisorium hätte nach meiner Auffassung bereits gereicht.
Als das Gespräch zwischen Jan und Jasmin beginnt, kommt wieder etwas Pfeffer in die Geschichte (die allerwichtigste Zutat für eine Geschichte wie deine!!), aber auch diesen Teil finde ich noch sehr stark kürzungsbedürftig. Mein Vorschlag für eine Art Schreibaufgabe: Zwischen zwei Dialogsätzen darf allerhöchstens ein (kurzer) erklärender Satz stehen, und auch bei diesem ist dreimal zu überdenken, ob er denn wirklich notwendig ist.
Generell würde ich sagen, dass du deinen Lesern etwas mehr zutrauen solltest: Dass dein Jan eine recht komplizierte Person ist, das kann man durchaus aus seinen Äußerungen und seinem Verhalten schließen, ohne dass es einem jeweils noch bis in die Haarspitzen erklärt wird.
Mit Jan und Jasmin treffen zwei Welten aufeinander, das ist durchaus witzig, und man könnte sicherlich noch einiges mehr daraus machen. Dass dein Protagonist dann irgendwann merkt, dass ihm die ganze Sache entgleitet, dass er doch eigentlich etwas ganz anderes will, aber nicht weiß, wie er das hinbekommen soll, all das sollte nach Möglichkeit aus dem Text hervor gehen, ohne explizit dort zu stehen.
Auch dafür gilt: Traue deinen Lesern mehr zu oder überlege dir, ob es denn schlimm wäre, wenn jemand deine Personen ein klein wenig anders interpretiert, als es dir vorschwebt.
Es ist schon komisch: Wenn ich deine Texte lese, dann erkenne ich, wo meine eigenen noch zuviel Geschwafel enthalten, denn ich beherrsche diese Fähigkeit durchaus auch und erkenne manchmal erst Monate später (oder nach entsprechenden Hinweisen von anderen), dass weniger mehr gewesen wäre.
Schöne Grüße,
Axel
 

achill

Mitglied
Lieber Axel.

Vielen Dank für Deine engagierte Kritik, Tips und Anregungen. Ich habe mir drei Tage Zeit gelassen, um mir die Punkte Deiner Ausführungen in verschiedenen Tagesstimmungen durch den Kopf gehen zu lassen und denke, dass Deine Worte ein fruchtbarer Boden sind, auf dem ich eine ganze Menge wachsen lassen könnte.
Tatsächlich ist das 2. Kapitel darauf ausgerichtet, eine einzige (!) Situation zu inszenieren, die bildhaft stehen soll für die Schwierigkeiten, mit denen man sich auseinanderzusetzen hat, wenn sich ein erster Kontakt zwischen einem Jungen und einem Mädchen anbahnt. Freunde und Bekannte, die sich einmischen, eigene Ängste, Unerfahrenheit, Erwartungen oder schlicht das Gefühl, etwas tun zu müssen, nur weil es andere offenbar von einem erwarten.

Im 4. Kapitel hingegen hatte ich die Vorstellung (was mir auf Deine Kritik hin deutlich klar wurde), dass ich die "Erfahrungslücken" zwischen dem jugendlichen und dem erwachsenen Jan auffüllen und so eine Brücke zwischen beiden Zeiten bilden wollte. Es war daher gar nicht als Szene, sondern nicht- szenisch als zusammenfassende Darstellung konzipiert (auf diese Weise kam auch der erste Satz zustande, der signalisieren sollte, dass die wichtigsten Punkte "abgehandelt" waren). Inzwischen ist mir klar, dass das keine reizvolle Darstellungsweise ist, weder für den Leser noch für den Schreiber.
Auf der anderen Seite ist es ein guter Steinbruch, um sich einzelne Stücke herauszubrechen und (nach dem Vorbild des 2 Kapitels?) zu modellieren. Daraus können witzige, rasante, skurrile Einzelszenen entstehen. Etwa die ersten Erfahrungen mit dem Alkohol oder was es bedeutet, wenn einer aus der Gruppe einen Führerschein hat.

Die szenische "Aufteilung" des 4 Kapitels, um sich ein Thema auszuwählen, das die besten Möglichkeiten für ein interessantes Kapitel bietet, ist wohl der beste Weg, um die angerissenen Ideen und Themen fruchtbar zu machen. Was den "Pfeffer" angeht, auch da hast Du recht, allerdings ist es mit dem literarischen Pfeffer wie mit dem Gewürz des Mittelalters, es ist nur schwer zu bekommen und sehr teuer. Aber dafür kann das Ergebnis umso reizvoller sein.

Nur noch zwei Punkte, die mich (angestossen von Deiner Kritik) beschäftigt haben, bevor ich zum Ende komme.

Erstens: Wie sehr sollte ich einen Charakter gestalten? Was sollte ich offenlassen? Was sollte ich zwar wissen, aber nicht schreiben, sondern verschweigen oder nur andeuten? Ich denke, die Gefahr lauert nicht beim "zu wenig", sondern beim "zu viel". Vielleicht neige ich dazu, Charaktereigenschaften zu sehr "durchzudrücken", ohne auf die Leichtigkeit zu setzen, die ein undefinierter Charakter hat. Schliesslich ist es im richtigen Leben auch so, dass man Menschen nur teilweise kennenlernt und sich den Rest einfach denken muss.Welche Reize dadurch entstehen, dass man Lücken lässt, das muss ich noch ausprobieren.

Zweitens: Ich mag Geschwafel. Ich mag es, mich über Dinge auszulassen. Da fällt es mir immer schwer, mich im Zaum zu halten. Wo ist die kritische Grenze? Kürzen ist da wohl eher eine Gefühlssache, wann die Unterhaltung einer Langeweile weicht. Und es fällt mir schwer, einmal Getipptes in den Mülleimer zu befördern. Aber ich arbeite dran. Wenn der Text durch das Kürzen an Fahrt zunimmt, dann war es wohl das Richtige. Mal schauen, was in Zukunft passiert.

Bis hierhin erstmal, ich will Dir vom Tag noch was lassen (smile). Vielen, vielen Dank. Denkprozesse sind ausgelöst.
Bis zum nächsten Mal.

Grüße von Holger.
 



 
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