Öfter mal was Neues

Anonym

Gast
Öfter mal was Neues

Markus war gerade dabei sich den Hackbraten vom Vortag aufzuwärmen, als die polyphone Variante von Frozen erklang. Elektropost im Hosentaschenformat.
Er wusste nicht, ob er sich über die Unterbrechung seiner Mahlzeit ärgern oder über das Interesse der Außenwelt an ihm freuen sollte. Sein knurrender Magen schien sich schon entschieden zu haben. Doch Markus gehörte nicht zu den Bauchgefühl-Typen, auch wenn man ihn unter diesen Umständen als hypersensibel eingestuft hätte. Zumindest schleppte er eine Menge Bauch mit sich herum.
Sein erster Gedanke war: Hey, wer ist denn so verzweifelt mir zu simsen?
Der zweite war: Mutti!
Der dritte: Lieber schnell lesen, sonst ruft sie noch an.
Als er die eingegangene Nachricht öffnete, tat Madonnas fiepsendes Gegenstück das, was Helmut Kohl während seiner Amtszeit hätte tun sollen und am Ende doch noch getan hatte: die Klappe halten!
Die Nachricht war sehr kurz.
Komm sofort! Dreh sonst durch! Big L!
Verwundert, enttäuscht und irgendwie doch erleichtert runzelte Markus seine riesige Stirn, kratzte bedächtig an seinem Bauchgefühl herum, was seinen knurrenden Magen zum Bellen veranlasste, und las den Text noch einmal.
Schwachsinn! Big L und durchdrehen? Eher wird der Hund in der Pfanne verrückt, als dass Harald Lebowsky ernstere Probleme zu bewältigen hätte, als das Entziffern einer IKEA-Aufbauanleitung!
Wasn los?, tippte er in sein Motorola. Das T9 machte Vaterlos? draus. Also doch anrufen. Scheiß Technik! Wird sich wohl noch hinziehen!
Hoffentlich fing sein Magen bis dahin nicht an zu beißen.
Es dauerte einen Moment, bis Markus Big L an der Funke hatte, aber das dünne, hektische Stimmchen am anderen Ende schien irgendwie nicht mit dem maskulinen Foto auf dem Display zusammen zu passen, wie bei einem Steven Seagal Film mit Dieter Bohlen als Synchronsprecher.
„Wasn los, Mann?“
„Ich … brauch Hilfe! Schnell … ich … FUCK!!! Ich … hab echt Scheiße gebaut.“
„Alles klar mit Linda?“
Linda war die deutsche Version von Beyonce, nur dass sie weder tanzen noch singen konnte. Musste sie auch nicht. Nach dem zu urteilen, was man so über Big L und sie hörte, war sie der Hauptgrund für die Erfindung des verstellbaren Lattenrostes.
„Komm sofort! Ich … kann nicht … am Telefon! Bitte!“
Hackbraten ade!
Vierzig Minuten, zwei hellrote Ampeln und eine fluchende Omi später hatte sich Markus mit seinem 89er Polo durch den Frankfurter Verkehr gekämpft und eine ungefähre Ahnung, wie Achilles sich in Kriegszeiten gefühlt haben mochte. Die fünf Stockwerke, die er auch noch auf die Altmodische per Pedes erklimmen musste, brachten seine gefühlvollen Pfunde dann richtig ins Schwitzen.
Big L erwartete ihn bereits und er sah gar nicht gut aus.
Keine Spur der wohl geordneten Souveränität, die ihn sonst stets umgab. Markus dachte eher an einen Junkie, der sich den goldenen Schuss gesetzt hatte und nur zu stoned war, um tot umzufallen. Big Ls Armani flatterte an ihm herum, wie eine verirrte Zeltplane, und seine Augen lagen in Höhlen, in die sich nicht einmal Van Helsing hineingetraut hätte.
Weinend und aufgelöst zog er Markus in die Wohnung, lenkte ihn ins Wohnzimmer, stieß ihn in den Ledersessel und warf sich ihm gegenüber auf die Couch.
„Unn?“, wollte Markus wissen.
Big L knetete seine Hände und ließ den Kopf hängen.
„Was jetze?“
Big L wich Markus´ Blick aus und knetete kräftig weiter.
„Is der Lattenrost im Arsch?“
Hätte man Big L einen Klumpen Lehm in die Finger gedrückt, wäre bestimmt was Tolles, Abstracktes dabei heraus gekommen, aber so bestand das einzige Ergebnis der Konversation aus der erhöhten Wahrscheinlichkeit verfrühter Gelenkstarre.
Einatmen … Ausatmen … und denk bloß nicht an den Hackbraten.
Markus beugte sich vor und versuchte Big Ls Blick mit seinem einzufangen, wie Robert Redford das bei asozialen Pferden machte. Schien auch zu klappen. Zumindest hob Big L den Kopf und starrte ihn müde an.
„ES WAR NICHT MEINE IDEE IN DIESEN LADEN ZU GEHEN LINDA WOLLTE MAL WAS NEUES AUSPROBIEREN UND DU WEIßT JA WIE SIE IST UND…“
„Stop!!! Von Vorne, bitte!“
Big L raufte sich die Haare … Einatmen … Ausatmen … und legte los.
„Da hat son neuer Laden aufgemacht…“
„Laden?“
„Son Restaurant … japanisch … glaub ich … oder kantonesisch, oder…“
„Egal! Was Asiatisches halt!“
Big L schnippte mit den Fingern, was Markus als ein JA interpretierte.
„Weiter im Text!“
„Ehrlich, ich hab mir nichts dabei gedacht! Linda … hat nen Tip gekriegt von ihrem Producer, also dachte ich mir, wird schon … Okay sein … is ja auch son Weltklasseheini un so, halt einer, der Ahnung hat!“
Markus nickte nur.
„Auf jeden Fall sin wir gestern hingegangen … spät. Sehr spät! War auch son Tip! Lindas Prodi meinte, dass die Touris spätestens um Elf die Biege machen und der Laden erst ab Mitternacht … abgeht!“
„Wie jetze? Abgeht?“
„Na, Masken, die fallen, Mann! Unverfälschte Kultur … mitten in der City! Und kein Schwein ahnt was davon!“
„Okay! Weiter!“
„Linda hat bestellt … sone gemischte Platte oder so! Ich hab noch Witze drüber gemacht, dass, … Oh Mann … Scheiße!!! Ich hab Scheiße gebaut!!!“
Aha! Also Beziehungskrise! Warum? Egal. Warum egal? Auch egal!
„Oh Mann!!! Ich hab eeeeeeeeeeeeeecht Scheiße gebaut!!!“
Berühmte letzte Worte. Der Rest ging in einem Weinkrampf unter, der die Richterskala gesprengt hätte. Markus blickte verzweifelt umher.
Was tun, verdammt? Trösten? Aufheitern? Einfach weiter labern?
HEUREKA!!!
„Schoppen?“
Das Big-L-Beben ebbte ein wenig ab und wurde zur Augsburger-Puppenkisten-Variante eines Nickens.
„Schoppen!“, beantwortete Markus die Frage und erhob sich aus dem Sessel, was ihn nach dem beschwerlichen Anreiseweg einige Mühe kostete. Ein raffinierter Plan, auf den selbst Danny Ocean stolz gewesen wäre, hatte in seinem Kopf Gestalt angenommen: Küche! Kühlschrank! Bier! Gehirnzellenausrottung! Schnarchkonzert! Un gut is … vorerst. Wurde Rom an einem Tag erbaut, oder was? Morgen war auch noch einer, Mr. Butler!
Doch er kam nicht weit.
Schon im Flur roch er, dass etwas nicht stimmte.
Zögernd ging er weiter und schaltete das Küchenlicht an.
Und da lag sie, die deutsche Variante von Beyonce. Auf dem Küchenfußboden, auf dem Kühlschrank, in der Spüle, auf dem Tisch, unter dem Tisch und … denk blooooß nicht an diesen Scheiß Hackbraten, du perverse Sau!
Big L weinte immer noch, als Markus ins Wohnzimmer zurück taumelte.
„Was zum Geier hast du getan?“, brachte er hervor, sonst nichts. „Was hast du getan?“
„ES WAR NICHT MEINE SCHEIßIDEE IN DIESEN VERFICKTEN LADEN ZU GEHEN!!!“
„Was zum …?“
„Linda hat … hat es geschmeckt und ich … hab auch ordentlich rein gehaun … war total lecker und würzig und alles und ... und dann … hab ich auf was drauf gebissn … was Kleines … aus Metall!“
„Was hast du getan, verdammt???“
„Ich habs ausgespuckt … dachte es wärn Stück von nem Halsband … ich mein … du weißt doch … die essen Hunde un Katzen un so, aber … Oh Mann!!!“
„Was …?“
„Aber es war kein … normales Stück Metall, sondern … ein Piercing! Ein Piercing!!!“
Markus konnte nur noch starren.
„Scheiße, wir sin sofort abgehaun … gerannt wie verrückt, aber … als wir wieder hier warn, da … ich hab echt versucht, nich dran zu denken, aber … Scheiße!!! Es war so lecker gewesen!!!“
Denk nicht mal im Traum dran!
„Du hast sie umgebracht, du kranke Ratte! Du …“
„Sie war geil drauf, genau wie ich, wir konnten gar nichts machen, also … nenns ne Notschlachtung oder … was weiß ich! Wir konnten nich anders! Wir wollten das noch mal! Aber wir konnten nich zurück, also … die hätten uns doch nie wieder gehen lassen … war eh ein Wunder, dass wir abhaun konnten, aber … wir …“
Big L schluckte das Beben runter und fasste sich. Tränen liefen seine Wangen herab. Seine Höhlenforscheraugen blinzelten irre durch die Wohnung, fanden jedoch keinen Fokus.
„Wir haben gewürfelt, wer isst und wer gegessen wird! Ich meine, darum geht’s doch im Endeffekt immer, oder? Fressen und gefressen werden! Ganz normal!“
„Normal???“
Es gibt keinen Hackbraten, es gibt keinen Hackbraten, es gibt keinen …
„Am Arsch die Waldfee!!!“
„Mann!!! Hilf mir, ich ...“
„Dir wird geholfen!!! Inner Klappse!!!“
Markus zückte sein Handy in Lucky-Luke-Manier und tippte die Nummer der Olivgrünen, als die Kugel aus Big Ls Beretta sein linkes Schulterblatt zerschmetterte und beim Austreten seine Aorta zerfetzte.
„Ich … ich hab Hunger!“

„Polizei? … Hallo? … Hallo? … Haaaaaaalloooooooo!!! … Hmm! … So was!“
„Was denn? Verwählt?“
„Ach, irgendsone Spackos, die in die Leitung schmatzen!“
„Ha!!! Ma was Neues!“
 



 
Oben Unten