Plemplem

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Plemplem!


Sie mochte die Straßenbahn nicht.

Nachdem ihr Mann gestorben war häuften sich die Dinge, die ihr missfielen, und der Umstand, sich zwischen unbekannte Menschen drängen zu müssen, um von A nach B zu kommen, gehörte dazu. Anstatt bequem von Tür zu Tür chauffiert zu werden saß man, nachdem man seine Besorgungen umständlich durch die Menge gedrängt hatte, zwischen dem Mief fremder Menschen.

Ihr Blick fiel auf den Mann gegenüber. Die verlangte Anonymität der Mitreisenden war ihr noch nie bewusst geworden. 'Öffentlichkeit'; das passierte anderen, sie war ihr Leben lang immer nur angeschaut worden, wenn sie sich mit jemandem in direktem Kontakt befand. Jetzt wurde sie von einem Unbekannten gemustert. Sie erwiderte den Blick. Warum guckte er jetzt weg, kurz bevor sie ihn höflich angelächelt hätte?

Er wandte ihr das Profil zu, schaute aus dem Fenster, als wäre da draußen mehr als triste Stadt. Netter Eindruck. Gepflegter Haarschnitt, dezenter Auftritt. Schwarzer Kaschmirmantel, Stoffhose. „Könnte mein Sohn“ sein ging ihr durch den Kopf, „wenn Gregor gewollt hätte, könnte das da mein Sohn sein!“ Der Gedanke war so faszinierend wie schmerzlich.

Jetzt schaute er wieder zu ihr. Die Straßenbahn ruckelte über eine Weiche, und sein dadurch ausgelöstes Kopfwackeln war süß, fast, als schäkere er mit ihr. Außerdem lächelte er sie dabei an, verschmitzt.

Verwundert über ihre Verlegenheit wandte sie sich wieder ab und schaute ihrerseits aus dem verschmierten Fenster. Noch 3 Stationen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Aktivitäten bei ihrem Gegenüber. Anscheinend schrieb er etwas in ein Notizbüchlein. Angenehm, zu sehen, dass mal jemand nicht so ein flaches Computerdings auf dem Schoß hatte oder diese Stöpsel im Kopf. Auch ein Handy war ihr nicht aufgefallen; fast jeder hier hatte eins am Ohr. Oder drin, diese Dinger mit dem Blaulicht, als wollten sie Vorfahrt für ihre Träger fordern, Vorfahrt für ihr Geschwätz gegen die eigenen Gedanken.

Sie seufzte leise. Wieder ein Ruckeln, Weichen. Dazu das Geräusch eines Blattes, das aus dem Block gerissen wird und das typische „ans Knie stoßen“ des Gegenüber, wenn er gegen die Bremswirkung balanciert beim Aufstehen. Wenn sie eins gelernt hat, seit sie Tram fährt: Berührungen sind unvermeidlich!

Ein kurzer Blick. Er hält ihr etwas hin, anscheinend das Blatt, das er aus seinem Büchlein gerissen hat. „Darf ich ihnen das geben?“ Reflexhaft nimmt sie den Zettel entgegen, bemerkt das Lächeln, seine Augen lächeln mit.

„Ja, also..“

Noch während sie nach einer Antwort sucht, hält die Bahn, und er ist mit zwei schnellen Schritten aus der Sitzreihe getreten, aus der Tür, aus ihrer Gegenwart.

Verwirrt die Stirn runzelnd faltet sie das Zettelchen auseinander. Ohne Brille ist es schwierig. Die Stirnrunzeln ändern ihre Form von „verwirrt“ zu „altersweitsichig“. Mühsam entziffert sie:

„Sie sehen ganz hinreißend aus! Vielleicht trinken wir mal einen Kaffee zusammen?“

Darunter ein paar Zahlen, bestimmt eine Telefonnummer. Sie dreht den Zettel um, nichts sonst. Empört knüllt sie das Papier zu einem Kügelchen, steckt es in die Manteltasche. Den kurzen Rest der Fahrt schaut sie trotzig aus dem Fenster, nicht gewillt, hier noch irgendjemanden zu bemerken.

Sie ist allein, seit ihr Georg gestorben ist – mutterseelenallein!

Letzte Woche ist der Rentenbescheid gekommen. Sie ist jetzt offiziell alt. Zu alt für so was, zu alt für Männer, die ihre Söhne sein könnten, zu alt für Kaffee mit Gigolos!

Was denkt sich der?

Die sich langsam aufschaukelnde, fast genussvolle Empörung lässt sie beinahe die eigene Haltestelle verpassen. Hastig greift sie ihre Einkaufstasche und stolpert Richtung Ausstieg, drängelt selbst, stößt und berührt andere:

„Tschuljung! Darfichmal, Danke!“

Verlegen den Kopf gesenkt murmelt sie diese Floskeln vor sich hin, bis sie draußen ist und sich die Tür hinter ihr schließt.

Drei Schritte nur, für sie eine Marter.

Sie hat plötzlich den Gigolo wieder vor sich, seine Geschmeidigkeit, wie er durch das Gedränge geschlüpft ist als wären die Anderen gar nicht wirklich da. Fast tänzerisch...

Tanzen, ja, das würde sie gern mal wieder, aber …

Sie fasst den Griff der Tasche fester, bis nach Hause ist es noch ein gutes Stück.

Es ist kühl. Sie steckt die freie Hand in die Manteltasche. Ihre Finger ertasten den Schlüsselbund, ein Hustenbonbon – und das kleine Papierkügelchen. Unverschämtheit!

Das Kügelchen juckt zwischen Daumen und Zeigefinger, dröselt sich auf, wird wieder zusammengepresst.

Abrupt bleibt sie stehen, holt den Zettel hervor und mustert ihn, unschlüssig, ob sie ihn wegwerfen soll. Schließlich schiebt sie die Hand wieder in die Tasche. Etwas auf die Straße werfen; das gehört sich nicht! Und jemand könnte sie sehen, den Zettel aufheben und lesen - undenkbar!

Den Rest des Weges geht sie automatisch, auch das Auspacken der Einkäufe, die bescheidene Mahlzeit und die sich daran anschließende Routine – Aufräumen, Abstauben, Aufwischen – wird kaum von einem bewussten Gedanken unterbrochen.

Erst, als sie bemerkt, dass sie schon eine ganze Weile vor dem Badezimmerspiegel steht, kehrt sie ins Jetzt zurück. Ihr fällt auf, dass sie sich immer noch so benimmt, als wäre Gregor noch da, als ginge gleich die Tür und das klirren seines Schlüsselbundes würde ihr seine Umarmung ankündigen, das Küsschen, den Plausch am Abendbrottisch.

„Trauer“ denkt sie. „Ist das Trauer?“

Sie betrachtet ihr Spiegelbild. Nicht so übel für eine Rentnerin und Witwe. Klar; Krähenfüße um die Augenwinkel, aber das könnten doch auch Lachfältchen sein. Und - sie hat keinen Schildkrötenhals, die Haut ist noch straff und glatt bis ins Dekolleté. Die kleinen Sommersprossen dort hat Gregor immer so gemocht – ob der Gigolo sie auch mögen wü …

Sie verbietet sich, weiterzudenken, verbannt das Lächeln seiner Augen, den Ton seiner Stimme, sein dichtes, schwarzes Haar.

„Genug jetzt! Du spinnst!“

Mit sich selbst zu reden scheint auch eine Folge des Alleinseins zu sein, sie ertappt sich immer öfter dabei. Wie sie sich kommentiert, ihr Dasein beschreibt, sich Anweisungen gibt. Und in ihren Gedanken begleitet sie das tägliche Tun wie ein Sportkommentator.

Ist sie 'Plemplem?`

Das Wort hat Gregor immer benutzt.

Als sie einen Hund wollte, war die Idee Plemplem.

Der Tangokurs plemplem, „Was gefällt dir an Walzer und Fox nicht? Tango ist plemplem!“

Sie hatten nicht oft Meinungsverschiedenheiten, aber die entzündeten sich meist an diesem Wort: Plemplem.

So ein Junger, der hätte sicher mehr Respekt, denkt sie und dreht dabei den Kopf, begutachtet ihr Profil: Kussmund zu ihrem Spiegelbild. Ein bisschen Mascara, die Augenbrauen trimmen, wäre gar nicht so viel Aufwand!

Sie summt vor sich hin, als sie sich ins Wohnzimmer begibt, zum dritten Mal für heute die Kissen auf dem Sofa umsetzt, über die Tischchen wischt, die Vorhänge richtet. Ihre Putzroutine führt in einer Spirale vom Inneren des Hauses bis hinaus in den Flur, wo sie die Schuhe ausrichtet, den Wollschal zusammenlegt und die Manteltaschen ausräumt.

Da ist er wieder, der kleine, unverschämte Zettel. Sie nimmt ihn mit in die Küche, streicht die Knitter aus dem Papier und greift sich ihre Lesebrille.

Tatsächlich: Da stehts, immer noch, blau, breit, provokativ!

„Sie sehen ganz hinreißend aus! Vielleicht trinken wir mal einen Kaffee zusammen?“

Eigentlich sehr schmeichelhaft. Hinreißend! Sogar „Ganz hinreißend!“ Das käme ihr als Selbstbeschreibung nie in den Sinn.

Und das Wort überhaupt, wer verwendet das denn heute noch? Heute ist doch alles „cool“ „heiß“ oder - grässlich! „Geil!“

Ein junger Mann, der „hinreißend“ im Vokabular hat, das ist doch sicher kein Gigolo. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie einen Ohrwurm hat, alles wird kaum hörbar von diesem Liedchen begleitet, sie hats sogar gesummt, grade eben, beim Lesen. Gregor mochte es, wenn sie gesummt hat, hat manchmal das Summen aufgenommen, den Text dazu gesungen. Fallersleben gefiel ihm. „Die Gedanken sind frei!“ aus „Des Knaben Wunderhorn“

Jetzt muss sie grinsen, des Knaben Wunderhorn, das ist ja regelrecht anzüglich, so mit dem Gedanken an einen jungen Mann.

Ein Kaffee, es wäre ja nur mal ein Kaffee, irgendwo in der Stadt. Mal raus, mal wieder reden, über etwas! Nicht nur, um zweihundert Gramm Zungenwurst zu bestellen, oder den Briefträger zu grüßen. Ja, reden, das wäre schön, fast so schön wie tanzen. Muss ja kein Tango sein.

Vielleicht ist es ja ein Fingerzeig von Gregor, das mit dem Fallersleben, vielleicht sieht er ihr jetzt grade zu, und der Gedanke „Na los Mädel, sei nicht Plemplem, machs einfach!“ das ist seiner, da in ihrem Kopf, dem „hinreißenden“, der junge Männer zum Zettelschreiben anstiftet.

Sie geht zum Telefon und wählt zögernd die Nummer.

„Es ist ja nur mal drei Stunden her, das macht doch bestimmt einen Eindruck, als wenn ich's nötig hätte!“

Die Verbindung steht noch nicht, noch kann sie einfach auflegen, noch ist keiner auf der anderen Seite, noch ist er nur eine Fantasie, noch …

„Guten Tag, der Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht erreichbar, sie können aber eine Nachricht hinterlassen, bitte sprechen Sie nach dem Signalton.“

Erschrocken legt sie auf. Sie hätte vielleicht auch aufgelegt, wenn „er“ dran gewesen wäre, aber mit einem Anrufbeantworter hat sie nicht gerechnet. Sie würde nie eine Nachricht auf so ein Dings sprechen!

Fast ist sie erleichtert, das war sowieso verrückt. Plemplem!

Sie zerreißt den Zettel zu kleinen Schnipseln und wirft ihn zusammen mit dem Eukalyptusbonbon in den Müll.


Er mochte die Straßenbahn nicht.

Schon kurz nachdem er die Tram verlassen hatte beschlich ihn das diffuse Gefühl, dass ihm etwas fehlte. Und als er zuhause die Manteltaschen ausräumte war es ihm klar - sein Handy! In der Straßenbahn ist ihm schon mal eins abhanden gekommen, war eine Riesenplackerei, Sperren, neue Nummer, neues Telefon. Aber vielleicht liegt es ja noch im Büro, er musste zur Haltestelle rennen, da wäre ihm das fehlende Gewicht in der Tasche eh nicht aufgefallen. Passieren kann nichts, sein Handy ist auf „nach standby Pin abfragen“ gestellt. Und wenn er es vergessen hat, sieht er ja morgen früh, falls ein Anruf reinkam. Vielleicht wirklich einer von der Dame gegenüber. Dieser hinreißenden Person mit den Lachfältchen um die Augenwinkel.

Morgen.

Morgen ist sein Auto fertig und er muss nicht mehr in diese blöde Tram. Oder, vielleicht noch einmal, nur um zu sehen, ob sie wieder da sitzt.




Synder
 



 
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