Polizisten angefahren (Tagebuchauszug)

Polizisten angefahren (aus meinen Tagebüchern)
© Pierre Montagnard)

Januar 1995. Sonntag. Sonnenschein über Santa Cruz de la Sierra in Bolivien. Sommer. Stahlblauer Himmel. Es riecht herrlich nach Pflanzen. Meine eintausend Cupesísamen, haben alle ausgeschlagen. Die Minibäumchen (Prosopis chilensis) sind schon fast fünf Zentimeter hoch. Nebst meinen abenteuerlichen Reisebegleitungen in den bolivianischen Urwald, habe ich das schönste Hobby der Welt. Ich ziehe und pflanze Bäume.

Jemand poltert heftig ans Gartentor. ,,Ich komme, ich fliege!” rufe ich, damit das Gepolter aufhört. Ich öffne das Tor, spähe hinaus und sehe zwei Dinge. Ein großer Chevrolet Brückenwagen und den kleinen Heinrich Leder. Er betreibt weit draußen auf seiner Farm Milchwirtschaft.

„Pierre, ich brauche deine Hilfe, mir ist etwas Schlimmes passiert!” Sein Gesicht vermittelt, Weltuntergang! „Ich habe einen Polizisten angefahren, ich habe ihn aber nur mit dem Außenspiegel touchiert, weil er sich mir beim Anhaltemanöver so dämlich in den Weg stellte. Aber auf dem Strafzettel steht, – Polizisten angefahren –, bitte komm mit mir aufs Transito, nicht dass die mich einsperren!”

„Heinrich, heute ist Sonntag, alles geschlossen, ich gehe da morgen hin und regle das, für den elektrischen Stuhl reicht es noch nicht, zeig mir mal den Strafzettel.” er gab ihn mir.

„Schau mal da Heinrich, der Polizist hat sogar vermerkt, dass er nicht verletzt wurde.” „Ehrlich?” „Ja ehrlich, wann lernst du endlich etwas Spanisch Heinrich, schau, da steht es!”

„Meine Kühe können kein Spanisch, mit wem soll ich denn Spanisch lernen, meine Frau spricht Berliner Schnulze!” mir bleibt nur das Lachen. „Also Heinrich, geh entspannt in den Sonntag, ich mache das!” „Ich danke dir von Herzen, hier, nimm noch etwas Geld mit.” dabei überreichte er mir eintausend Bolivianos. „Heinrich, soll ich damit das ganze Kommissariat kaufen?” „Nimm es bitte, wenn es ausreicht, bin ich zufrieden. Ich muss gehen, die ganze Familie ist mit mir, wir gehen zum Essen.”

Heinrich ging wieder, beruhigter als er gekommen war.

Am Montagmorgen sprach ich beim Transito vor. Als ich in dieses Büro eintrat, herrschte da bereits Hochbetrieb. Kein Wartestuhl mehr frei. An der Rückwand drei Pulte mit jeweils einem uniformierten Polizisten. Ihnen gegenüber, die Verkehrssünder. Und was da abging. Einmalig!

„Ich war das nicht!”

„Das war nicht mein Fahrzeug!”

„Ich war zu der Zeit krank im Bett!”

„Das war niemals meine Schuld!”

Kein einziges Zugeständnis einer Verfehlung. Die drei Polizisten, deren Gesichter ich studierte, waren morgens um 09:35 Uhr schon so verbraucht und müde, dass ich fast Mitleid kriegte. Ich lehnte rechts an der Wand, nur zwei Schritte von dem einen sitzenden Polizisten entfernt. Ich zählte 27 wartende Sünder. Das kann lange dauern, aber das war mir egal, denn mich faszinierte dieser einmalige Spektakel.

Doch dann wurde der gleich vor mir sitzende Sünder immer lauter, sogar ausfällig, bis es dem Polizisten zu laut und zu bunt wurde. Er zückte aus seiner Brusttasche eine Trillerpfeife und trillerte damit einmal laut. Im Handumdrehen waren zwei weitere Uniformierte da, nahmen den tobsüchtigen in ihre Mitte und führten ihn hinaus.

Der Polizist nahm seine Kappe vom Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, guckte mich an und fragte mit resignierter Stimme;

„Y usted, señor?” Ich wäre noch lange nicht an der Reihe gewesen, aber ich packte die Gelegenheit beim Schopf, ging die zwei Schritte an seinen Pult, streckte ihm meine Hand entgegen und sagte; „Buenos días señor.” völlig verblüfft gab er mir die Hand, guckte mir ins Gesicht. Sein „buenos días” hörte sich so verzweifelt an, als hätte er eben beschlossen, noch heute seinen Beruf aufzugeben. So hatte ihn an diesem Montagmorgen bestimmt noch niemand begrüßt. Mit einer Geste forderte er mich auf, Platz zu nehmen. „Que es su problema?” „Ich muss eine Busse bezahlen für einen Freund!” „Warum kommt er nicht selber her?” „Er spricht noch kein Spanisch.” damit übergab ich ihm den Strafzettel.

Er las. Seine Augen wurden immer größer, dann blickte er mich entgeistert an und sagte überlaut; „Atropellado un policía?” (einen Polizisten angefahren). Sofortige Totenstille trat ein im Raum. Alle Blicke auf uns gerichtet, im Speziellen auf mich. Der Gringo hat einen Polizisten angefahren, sagten die Gesichter. Und ich? Ich sagte mit fester Stimme; „Si señor!”

Fassungsloses staunen. Der Gringo fährt einen einheimischen Polizisten an und er gibt es auch noch zu. Er muss total von Sinnen sein! Der Polizist guckte erneut den Strafzettel an, ich sah in seinem Gesicht, dass er erst jetzt auch den Vermerk las, dass der angefahrene Polizist unverletzt blieb.

Er ergriff ein Buch, schlug es auf irgendeiner Seite auf, drehte es zu mir um und zeigte mir den Absatz, wie das Delikt für einen angefahrenen Polizisten geahndet wird. Gefängnis! Im Falle, wenn der Polizist zu Schaden kam. 500 Pesos (Bolivianos) Busse, falls er unverletzt blieb. „Gracias señor,“ sagte ich, nach dem Durchlesen.

Dann verblüffte er alle, die da anwesend waren, mich eingeschlossen. Er machte sich den Umstand zunutze, dass noch immer alle zu uns blickten, auch die beiden andern seiner Berufskollegen, indem er laut zu mir sagte;

„Weil Sie das Delikt anerkennen und der angefahrene Polizist nicht zu Schaden kam, setze ich die Busse auf die Hälfte herunter! Usted paga solamente doscientoscincuenta Pesos!”

Stecknadelstille! Ich sagte; „Muchas gracias señor, es usted muy gentil.” Ich zahlte, erhielt eine Quittung.

Er verabschiedete sich von mir fast freundschaftlich. Ich denke noch heute, nach 22 Jahren an diese Begegnung zurück. Er hieß, oder heißt noch immer, Claudio Souza, sein Name war an einem kleinen Schild über seiner Brusttasche angebracht. Er hat in meinem Buch, “Los Gringos” (welches irgendwann fertig sein wird) einen Ehrenplatz!

“Salomon” Heinrich Leder, kaufte mir danach als Dank 600 Cupesí Bäumchen ab!
 



 
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