F. Alexander
Mitglied
»Opa Wiemers, Opa Wiemers. Erzähl uns eine Geschichte. Bitte, bitte.«
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die ungefähre Richtung der quengelnden Kinder. Er lächelte, denn er liebte die Kinderstimmen.
»Was wollt ihr hören?«
Die Kinder schwiegen einen Moment lang, um Luft zu holen. Dann schrien alle gleichzeitig los. Opa Wiemers hob die Hände. »Kinder, nicht alle auf einmal. Ich verstehe ja kein Wort.«
Ein besonders lauter Junge überschrie alle anderen .
»Epidemie! Erzähl uns von der Epidemie.«
Die Anderen schrien wieder, diesmal vor Begisterung.
»Ja, erzähl uns von der Epidemie«, verlangten sie.
Opa Wiemers seufzte. Wie gerne würde er wieder einmal ein Märchen erzählen.
»Warum wollt ihr immerzu diese schreckliche Geschichte hören? Ich würde euch viel lieber die Geschichte von Aschenputtel erzählen.«
»Pah, die ist doch voll langweilig. Die Epidemie ist viel spannender.«
Wieder der vorlaute Junge.
»Aber sie ist auch sehr traurig, dass wisst ihr doch?«
»Das macht nichts. Wir hören sie trotzdem gerne.«
Ein Mädchen mit heller, süßer Stimme.
Der Alte seufzte wieder. »Nun gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Also setzt euch hin und seid ruhig.«
Als das Geraschel und Gewisper verstummt war, sammelte sich Opa einen Moment mit gesenktem Kopf.
»Wie ihr sicher alle wißt, war die Welt nicht immer so wie heute. Früher gab es keine rauchenden Schornsteine und die Autos stanken auch nicht so. Die Menschen mussten nicht so hart arbeiten und lebten viel, viel länger.«
Er hielt einen Moment inne und seine Augen starrten in eine lang versunkene Zeit, die sie trotz ihrer Blindheit deutlich sehen konnten.
»Ich war damals viel jünger als heute«, er lächelte, »und ich konnte noch sehen.«
Sein Lächeln wurde wehmütig.
»Das Leben war viel einfacher und angenehmer als heute. Krankheiten gab es fast keine. Armut war undenkbar. Und Kriege kannte man nur aus Geschichtsbüchern. Heute sagt man, die Menschen damals lebten im Paradies. Kennt ihr den Begriff Paradies, Kinder?«
Einige Kinder meldeten sich, bis ihnen wieder einfiel, dass Opa sie ja nicht sehen konnte.
»Das Paradies ist, wo alle glücklich sind. Das hat mir meine Oma erzählt«, meldete sich wieder der vorlaute Junge zu Wort.
»Ja, so könnte man sagen. Aber wie in der Bibel wurden die Menschen wieder einmal aus einem Paradies vertrieben. Wißt ihr auch warum?«
Die Kinder blickten ihn mit große Augen an. Natürlich kannten sie die Antwort. Doch sollte der Opa weitererzählen.
»Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, weil wir glaubten, alles zu wissen. Wir hatten uns angemaßt, alles kontrollieren zu können und alles zu beherrschen.«
Die letzten Worte klangen sehr verbittert, und die Kinder bereuten schon, die Geschichte gefordert zu haben. Doch dann straffte sich Opa Wiemers kleine Gestalt und er lächelte wieder.
»Entschuldigt bitte, aber manchmal trauere ich um das, was wir alle verloren haben und dann werde ich wütend, weil wir einfach nicht begriffen haben, was geschah.«
»Was ist denn passiert?«, wollte der vorlaute Junge wissen, doch der alte Mann war jetzt ganz in die Geschichte eingetaucht und erzählte weiter, ohne auf die Frage einzugehen.
»Als die ersten Fälle auftraten, sah noch niemand die Zusammenhänge. Dazu traten sie an zu weit entfernten Orten auf. Eine Beinprothese hier, ein Kunstarm dort, ein Großcomputer da, alles ohne System. Ein Teil versagt, es wird ausgetauscht, niemand forscht wirklich nach der Ursache. Biotech war damals ein Massenartikel. Niemand machte sich Gedanken, wenn etwa kaputt ging.«
»Was ist Biospeck?«, fragte ein Mädchen, das die Geschichte heute zum ersten Mal hörte.
»Biotech, meine Kleine, Biotech. Das war damals so etwas wie die Mikrochips heute. Ihr wisst doch, was Mikrochips sind, oder?«
»Klar!« schallte es ihm entgegen. »Das sind so kleine Dinger, die machen, dass meine Puppe sprechen kann«, sagte eines der Mädchen.
»Genau. Nur das damals eben alles mit Biotech funktionierte. Biotech steckte in allem. Und auch fast in jedem; denn die Biotechnologie sorgte dafür, dass jeder, egal wie krank er war, wieder gesund wurde. Und wer einen Arm oder ein Bein verlor, bekam etwas, das fast so gut wie das Alte war. >Besser<, sagten manche sogar.«
Die Kinder schauten auf ihre Hände. Neue, so gut wie ihre eigenen?
»Du lügst, Opa. So was gibt es doch gar nicht!«
»Nicht mehr, mein Junge. Nicht mehr.«
Wieder glitt der wehmütige Ausdruck über das Gesicht des alten Mannes und er berührte kurz seine blinden, trüben Augen.
»Früher konnte man alles am menschlichen
Körper ersetzen. Und sogar neue Menschen machen. Und das tat man auch. Die Kinder wurden damals mit den bestmöglichen Chancen für ihre Zukunft gemacht. Es gab keine kranken Kinder, niemand wurde mit einer Behinderung geboren. Kein Kind starb mehr bei der Geburt, denn Geburten gab es nicht mehr ... Nun ja, es war eine tolle Zeit.«
Die Kinder sahen ihn befremdet an. Menschen ohne Behinderungen? Keine Krankheiten? Manchmal erzählte der Opa seltsame Sachen. Und nie war die Geschichte von der Epidemie gleich.
»Selbst als die ersten Herzschrittmacher ausfielen und Menschen in Lebensgefahr gerieten, wurde nicht wirklich nach dem Grund geforscht. Unfälle passieren nun einmal. Doch es wurde immer schlimmer und es starben die ersten Menschen. Und dann wurden es immer mehr.«
Die Kinder hielten erschrocken die Luft an. Hände wurde vor Münder geschlagen, Augen weit aufgerissen.
»Also begannen die Wissenschaftler ernsthaft nach den Ursachen zu forschen.«
Opa Wiemers machte eine Pause um Luft zu holen.
»Und was soll ich euch sagen. Sie fanden ...«
Die Kinder beugten sich erwartungsvoll vor.
»... nichts.«
Entäuschtes Ausatmen antwortete ihm. Opa lächelte stillvergnügt.
»Aber ... aber wenn die nichts gefunden haben, warum sind dann die Sachen kaputt gegangen?« wollte eines der Mädchen wissen.
»Täglich las man neue Sensationsmeldungen in der Zeitung. Das man die Ursache gefunden hatte und eine Lösung ganz nahe sei. Aber das stimmte nicht.«
»Aber warum haben die Leute das dann gesagt, wenn es doch nicht stimmt?« fragte eines der Kinder.
»Weil die Menschen dumm sind, Liebes. Weil sie ihre Unfähigkeit nie zugeben würden.«
»Aber das ist doch doof«, sagte das gleiche Kind.
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die Richtung der Stimme.
»Da hast du vollkommen recht. Aber wenn ihr älter werdet, werdet ihr feststellen, dass die Menschen oft doof sind. Lasst euch davon nicht beeinflussen. Versucht, schlau zu sein.«
»Aber warum sind die Sachen denn nun kaputt gegangen?«
»Das fand man erst viel, viel später heraus. Als alles schon fast vorbei und die Epidemie nicht mehr zu stoppen war.«
Seine Hand tastete nach dem Glas mit Wasser, das auf dem Tisch neben ihm stand. Er trank einen Schluck und versank in nachdenkliches Schweigen.
»Opa Wiemers, erzähl weiter!«
Fordernde Kinderstimmen holten ihn in das Jetzt zurück.
»Eines Tages hatte ein junger Biotechniker ein neues Programm geschrieben, das die Biotechs noch besser machen sollte. Es sollte ihnen die Fähigkeit verleihen, sich selber zu reparieren. Ihr müsst dazu wissen, dass sie zwar lebten, aber auch kleine Maschinen waren.«
»Saßen da kleine Männchen drin?«, wollte eines der Kinder wissen.
Opa Wiemers schmunzelte.
»Nein. Gesteuert wurden sie von einem Programm. Und die Menschen, die diese Programme schrieben, hießen Bioprogrammierer. Jedenfalls hatte unser junger Mann einen ganz schlimmen Fehler bei der Programmierung gemacht. Am Anfang funktionierten das Programm tadellos. Die Maschinchen liefen und liefen und reparierten sich selber. Jeder wollte jetzt dieses Programm haben, weil es doch so gut war. Und da hatte der junge Programmierer noch eine Idee. Er machte die Biotechs so klug, das sie mit einander reden konnten. Und was redeten sie miteinander?«
Er spürte, dass die Kinder ihn mit Frageaugen ansahen.
»Sie sprachen über ihr Programm. Und die Biotechs mit Programm fragten die ohne Programm: Wollt ihr das Programm auch haben? Und diese antworteten: Ja, gebt uns dieses Wunderprogramm. Jetzt müsst Ihr aber wissen, dass die Biotechs nicht mit Worten miteinander redeten, sondern mit Funkwellen und kleinen Teilen von sich selber. So, wie ihr Schnupfen untereinander weitergebt, gaben sie ihr Programm weiter.«
»Die Biospecks hatten Schnupfen? Aber Schnupfen macht doch nicht tot«, sagte eines der Kinder mit großer Überzeugung.
»Du hast recht. Aber es war schlimmer als ein Schnupfen. Stellt euch den schlimmsten Schnupfen eures Lebens vor. Und dann stellt ihr euch einen noch viel, viel böseren Schnupfen vor.«
Die Mädchen und Jungen taten es.
»Das ist ja ganz doll schlimm«, sagte ein Mädchen schließlich mit dünner Stimme.
»Ja, das war es, mein Schatz. Denn die Biotechs spielten plötzlich verrückt. Es genügte ihnen nicht mehr, sich selbst zu reparieren. Sie begannen, auch alles andere um sie herum zu reparieren. Aber das war ja gar nicht kaputt. Also machten die Biotechs erst alles kaputt, um es dann zu reparieren. Doch das funktionierte nicht, weil ja nicht alles aus Biotech bestand. Und so blieb das Kaputte auch kaputt. Plötzlich hatten wir keine hochentwickelte Technik mehr. Nahrung wurde knapp. Kraftwerke arbeiteten nicht mehr. Es war eine schlimme Zeit. Doch der Mensch ist erfindungsreich. Wir benutzten einfach wieder die alte Technik. Zumindest konnten wir damit überleben. Doch unsere Welt hatte sich verändert. Fabrikschornsteine wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Schwarzer Qualm überall. Gift im Boden. Unser Paradies hatte sich die Hölle verwandelt.«
»Vater! Hör sofort auf damit. Du machst den Kindern Angst. Wie konntest du nur diese schreckliche Geschichte erzählen?«
Tatjana, seine Tochter, war unbemerkt in das Zimmer gekommen.
»Die kinder haben mich darum gebeten, mein Kind«
»Und du hattest nichts besseres zu tun, als ihnen deine Schauergeschichten zu erzählen. Schämen solltest du dich.«
»Lass mich die Geschichte bitte zu Ende erzählen. Dann ist immer noch genug Zeit, sich zu schämen.«
Seine Tochter verschränkte demonstrativ ihre Arme und starrte ihn schweigend an. Auch wenn er nicht mehr sehen konnte, spürte er deutlich ihre Ablehnung.
»Ich muss Euch ja noch erzählen, wie es mit den kranken Menschen weiterging. Als alle Biotechs nach und nach abstarben, hatten die Menschen große Angst. Viele gingen plötzlich wieder in die Kirchen und beteten. Andere suchten Trost im Alkohol. Den Medizinern gelang es zwar, viele zu retten, doch das Leben war nicht mehr so wie vorher. Und die Menschen hatten etwas gelernt. Sie hatten gelernt, dass es gefährlich ist in den Lauf der Natur einzugreifen. Und noch etwas Gutes hat die Epidemie bewirkt. Kommt einmal her.«
Die Kinder drängelten sich um den Sessel des alten Mannes, sie wußten, was jetzt kam. Darum baten sie Opa Wiemers immer wieder um die Geschichte von der Epidemie.
»Weil die Menschen jetzt ihr Leben viel mehr schätzen als früher, und sie es auf die alte Art nicht mehr können, haben sie alles getan, um wieder die älteste und schönste Biotechnik zu produzieren, die es gibt: Euch.«
Und er hielt plötzlich in jeder Hand ein dutzend Lollies in buntem Papier. Die Kinder rissen ihm die Leckerei aus den Händen und liefen johlend davon, die Geschichten schon beim Auspacken der Lollies
vergessend. Opa Wiemers senkte den Kopf und ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Eine Träne rollte seine Wange hinab. Seine Tochter kniete sich neben ihn und rieb ihm über den Rücken.
»Warum tust du dir das immer wieder an, Vater?«
Er streckte eine zittrige Hand aus und tastete nach ihrem Gesicht.
»Weil sie nicht vergessen sollen, Tatjana«, sagte Opa Wiemers. Er streichelte mechanisch ihr Gesicht.
»Sie dürfen nicht vergessen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum sie vergiftet ist und stirbt. Und wir mit ihr. Die Epidemie haben wir überlebt, doch um welchen Preis?«
Er streichelte weiter den Kopf seiner Tochter und dachte voller Verzweiflung an jenes verhängnisvolle Programm, das seinen Namen trug.
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die ungefähre Richtung der quengelnden Kinder. Er lächelte, denn er liebte die Kinderstimmen.
»Was wollt ihr hören?«
Die Kinder schwiegen einen Moment lang, um Luft zu holen. Dann schrien alle gleichzeitig los. Opa Wiemers hob die Hände. »Kinder, nicht alle auf einmal. Ich verstehe ja kein Wort.«
Ein besonders lauter Junge überschrie alle anderen .
»Epidemie! Erzähl uns von der Epidemie.«
Die Anderen schrien wieder, diesmal vor Begisterung.
»Ja, erzähl uns von der Epidemie«, verlangten sie.
Opa Wiemers seufzte. Wie gerne würde er wieder einmal ein Märchen erzählen.
»Warum wollt ihr immerzu diese schreckliche Geschichte hören? Ich würde euch viel lieber die Geschichte von Aschenputtel erzählen.«
»Pah, die ist doch voll langweilig. Die Epidemie ist viel spannender.«
Wieder der vorlaute Junge.
»Aber sie ist auch sehr traurig, dass wisst ihr doch?«
»Das macht nichts. Wir hören sie trotzdem gerne.«
Ein Mädchen mit heller, süßer Stimme.
Der Alte seufzte wieder. »Nun gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Also setzt euch hin und seid ruhig.«
Als das Geraschel und Gewisper verstummt war, sammelte sich Opa einen Moment mit gesenktem Kopf.
»Wie ihr sicher alle wißt, war die Welt nicht immer so wie heute. Früher gab es keine rauchenden Schornsteine und die Autos stanken auch nicht so. Die Menschen mussten nicht so hart arbeiten und lebten viel, viel länger.«
Er hielt einen Moment inne und seine Augen starrten in eine lang versunkene Zeit, die sie trotz ihrer Blindheit deutlich sehen konnten.
»Ich war damals viel jünger als heute«, er lächelte, »und ich konnte noch sehen.«
Sein Lächeln wurde wehmütig.
»Das Leben war viel einfacher und angenehmer als heute. Krankheiten gab es fast keine. Armut war undenkbar. Und Kriege kannte man nur aus Geschichtsbüchern. Heute sagt man, die Menschen damals lebten im Paradies. Kennt ihr den Begriff Paradies, Kinder?«
Einige Kinder meldeten sich, bis ihnen wieder einfiel, dass Opa sie ja nicht sehen konnte.
»Das Paradies ist, wo alle glücklich sind. Das hat mir meine Oma erzählt«, meldete sich wieder der vorlaute Junge zu Wort.
»Ja, so könnte man sagen. Aber wie in der Bibel wurden die Menschen wieder einmal aus einem Paradies vertrieben. Wißt ihr auch warum?«
Die Kinder blickten ihn mit große Augen an. Natürlich kannten sie die Antwort. Doch sollte der Opa weitererzählen.
»Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, weil wir glaubten, alles zu wissen. Wir hatten uns angemaßt, alles kontrollieren zu können und alles zu beherrschen.«
Die letzten Worte klangen sehr verbittert, und die Kinder bereuten schon, die Geschichte gefordert zu haben. Doch dann straffte sich Opa Wiemers kleine Gestalt und er lächelte wieder.
»Entschuldigt bitte, aber manchmal trauere ich um das, was wir alle verloren haben und dann werde ich wütend, weil wir einfach nicht begriffen haben, was geschah.«
»Was ist denn passiert?«, wollte der vorlaute Junge wissen, doch der alte Mann war jetzt ganz in die Geschichte eingetaucht und erzählte weiter, ohne auf die Frage einzugehen.
»Als die ersten Fälle auftraten, sah noch niemand die Zusammenhänge. Dazu traten sie an zu weit entfernten Orten auf. Eine Beinprothese hier, ein Kunstarm dort, ein Großcomputer da, alles ohne System. Ein Teil versagt, es wird ausgetauscht, niemand forscht wirklich nach der Ursache. Biotech war damals ein Massenartikel. Niemand machte sich Gedanken, wenn etwa kaputt ging.«
»Was ist Biospeck?«, fragte ein Mädchen, das die Geschichte heute zum ersten Mal hörte.
»Biotech, meine Kleine, Biotech. Das war damals so etwas wie die Mikrochips heute. Ihr wisst doch, was Mikrochips sind, oder?«
»Klar!« schallte es ihm entgegen. »Das sind so kleine Dinger, die machen, dass meine Puppe sprechen kann«, sagte eines der Mädchen.
»Genau. Nur das damals eben alles mit Biotech funktionierte. Biotech steckte in allem. Und auch fast in jedem; denn die Biotechnologie sorgte dafür, dass jeder, egal wie krank er war, wieder gesund wurde. Und wer einen Arm oder ein Bein verlor, bekam etwas, das fast so gut wie das Alte war. >Besser<, sagten manche sogar.«
Die Kinder schauten auf ihre Hände. Neue, so gut wie ihre eigenen?
»Du lügst, Opa. So was gibt es doch gar nicht!«
»Nicht mehr, mein Junge. Nicht mehr.«
Wieder glitt der wehmütige Ausdruck über das Gesicht des alten Mannes und er berührte kurz seine blinden, trüben Augen.
»Früher konnte man alles am menschlichen
Körper ersetzen. Und sogar neue Menschen machen. Und das tat man auch. Die Kinder wurden damals mit den bestmöglichen Chancen für ihre Zukunft gemacht. Es gab keine kranken Kinder, niemand wurde mit einer Behinderung geboren. Kein Kind starb mehr bei der Geburt, denn Geburten gab es nicht mehr ... Nun ja, es war eine tolle Zeit.«
Die Kinder sahen ihn befremdet an. Menschen ohne Behinderungen? Keine Krankheiten? Manchmal erzählte der Opa seltsame Sachen. Und nie war die Geschichte von der Epidemie gleich.
»Selbst als die ersten Herzschrittmacher ausfielen und Menschen in Lebensgefahr gerieten, wurde nicht wirklich nach dem Grund geforscht. Unfälle passieren nun einmal. Doch es wurde immer schlimmer und es starben die ersten Menschen. Und dann wurden es immer mehr.«
Die Kinder hielten erschrocken die Luft an. Hände wurde vor Münder geschlagen, Augen weit aufgerissen.
»Also begannen die Wissenschaftler ernsthaft nach den Ursachen zu forschen.«
Opa Wiemers machte eine Pause um Luft zu holen.
»Und was soll ich euch sagen. Sie fanden ...«
Die Kinder beugten sich erwartungsvoll vor.
»... nichts.«
Entäuschtes Ausatmen antwortete ihm. Opa lächelte stillvergnügt.
»Aber ... aber wenn die nichts gefunden haben, warum sind dann die Sachen kaputt gegangen?« wollte eines der Mädchen wissen.
»Täglich las man neue Sensationsmeldungen in der Zeitung. Das man die Ursache gefunden hatte und eine Lösung ganz nahe sei. Aber das stimmte nicht.«
»Aber warum haben die Leute das dann gesagt, wenn es doch nicht stimmt?« fragte eines der Kinder.
»Weil die Menschen dumm sind, Liebes. Weil sie ihre Unfähigkeit nie zugeben würden.«
»Aber das ist doch doof«, sagte das gleiche Kind.
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die Richtung der Stimme.
»Da hast du vollkommen recht. Aber wenn ihr älter werdet, werdet ihr feststellen, dass die Menschen oft doof sind. Lasst euch davon nicht beeinflussen. Versucht, schlau zu sein.«
»Aber warum sind die Sachen denn nun kaputt gegangen?«
»Das fand man erst viel, viel später heraus. Als alles schon fast vorbei und die Epidemie nicht mehr zu stoppen war.«
Seine Hand tastete nach dem Glas mit Wasser, das auf dem Tisch neben ihm stand. Er trank einen Schluck und versank in nachdenkliches Schweigen.
»Opa Wiemers, erzähl weiter!«
Fordernde Kinderstimmen holten ihn in das Jetzt zurück.
»Eines Tages hatte ein junger Biotechniker ein neues Programm geschrieben, das die Biotechs noch besser machen sollte. Es sollte ihnen die Fähigkeit verleihen, sich selber zu reparieren. Ihr müsst dazu wissen, dass sie zwar lebten, aber auch kleine Maschinen waren.«
»Saßen da kleine Männchen drin?«, wollte eines der Kinder wissen.
Opa Wiemers schmunzelte.
»Nein. Gesteuert wurden sie von einem Programm. Und die Menschen, die diese Programme schrieben, hießen Bioprogrammierer. Jedenfalls hatte unser junger Mann einen ganz schlimmen Fehler bei der Programmierung gemacht. Am Anfang funktionierten das Programm tadellos. Die Maschinchen liefen und liefen und reparierten sich selber. Jeder wollte jetzt dieses Programm haben, weil es doch so gut war. Und da hatte der junge Programmierer noch eine Idee. Er machte die Biotechs so klug, das sie mit einander reden konnten. Und was redeten sie miteinander?«
Er spürte, dass die Kinder ihn mit Frageaugen ansahen.
»Sie sprachen über ihr Programm. Und die Biotechs mit Programm fragten die ohne Programm: Wollt ihr das Programm auch haben? Und diese antworteten: Ja, gebt uns dieses Wunderprogramm. Jetzt müsst Ihr aber wissen, dass die Biotechs nicht mit Worten miteinander redeten, sondern mit Funkwellen und kleinen Teilen von sich selber. So, wie ihr Schnupfen untereinander weitergebt, gaben sie ihr Programm weiter.«
»Die Biospecks hatten Schnupfen? Aber Schnupfen macht doch nicht tot«, sagte eines der Kinder mit großer Überzeugung.
»Du hast recht. Aber es war schlimmer als ein Schnupfen. Stellt euch den schlimmsten Schnupfen eures Lebens vor. Und dann stellt ihr euch einen noch viel, viel böseren Schnupfen vor.«
Die Mädchen und Jungen taten es.
»Das ist ja ganz doll schlimm«, sagte ein Mädchen schließlich mit dünner Stimme.
»Ja, das war es, mein Schatz. Denn die Biotechs spielten plötzlich verrückt. Es genügte ihnen nicht mehr, sich selbst zu reparieren. Sie begannen, auch alles andere um sie herum zu reparieren. Aber das war ja gar nicht kaputt. Also machten die Biotechs erst alles kaputt, um es dann zu reparieren. Doch das funktionierte nicht, weil ja nicht alles aus Biotech bestand. Und so blieb das Kaputte auch kaputt. Plötzlich hatten wir keine hochentwickelte Technik mehr. Nahrung wurde knapp. Kraftwerke arbeiteten nicht mehr. Es war eine schlimme Zeit. Doch der Mensch ist erfindungsreich. Wir benutzten einfach wieder die alte Technik. Zumindest konnten wir damit überleben. Doch unsere Welt hatte sich verändert. Fabrikschornsteine wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Schwarzer Qualm überall. Gift im Boden. Unser Paradies hatte sich die Hölle verwandelt.«
»Vater! Hör sofort auf damit. Du machst den Kindern Angst. Wie konntest du nur diese schreckliche Geschichte erzählen?«
Tatjana, seine Tochter, war unbemerkt in das Zimmer gekommen.
»Die kinder haben mich darum gebeten, mein Kind«
»Und du hattest nichts besseres zu tun, als ihnen deine Schauergeschichten zu erzählen. Schämen solltest du dich.«
»Lass mich die Geschichte bitte zu Ende erzählen. Dann ist immer noch genug Zeit, sich zu schämen.«
Seine Tochter verschränkte demonstrativ ihre Arme und starrte ihn schweigend an. Auch wenn er nicht mehr sehen konnte, spürte er deutlich ihre Ablehnung.
»Ich muss Euch ja noch erzählen, wie es mit den kranken Menschen weiterging. Als alle Biotechs nach und nach abstarben, hatten die Menschen große Angst. Viele gingen plötzlich wieder in die Kirchen und beteten. Andere suchten Trost im Alkohol. Den Medizinern gelang es zwar, viele zu retten, doch das Leben war nicht mehr so wie vorher. Und die Menschen hatten etwas gelernt. Sie hatten gelernt, dass es gefährlich ist in den Lauf der Natur einzugreifen. Und noch etwas Gutes hat die Epidemie bewirkt. Kommt einmal her.«
Die Kinder drängelten sich um den Sessel des alten Mannes, sie wußten, was jetzt kam. Darum baten sie Opa Wiemers immer wieder um die Geschichte von der Epidemie.
»Weil die Menschen jetzt ihr Leben viel mehr schätzen als früher, und sie es auf die alte Art nicht mehr können, haben sie alles getan, um wieder die älteste und schönste Biotechnik zu produzieren, die es gibt: Euch.«
Und er hielt plötzlich in jeder Hand ein dutzend Lollies in buntem Papier. Die Kinder rissen ihm die Leckerei aus den Händen und liefen johlend davon, die Geschichten schon beim Auspacken der Lollies
vergessend. Opa Wiemers senkte den Kopf und ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Eine Träne rollte seine Wange hinab. Seine Tochter kniete sich neben ihn und rieb ihm über den Rücken.
»Warum tust du dir das immer wieder an, Vater?«
Er streckte eine zittrige Hand aus und tastete nach ihrem Gesicht.
»Weil sie nicht vergessen sollen, Tatjana«, sagte Opa Wiemers. Er streichelte mechanisch ihr Gesicht.
»Sie dürfen nicht vergessen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum sie vergiftet ist und stirbt. Und wir mit ihr. Die Epidemie haben wir überlebt, doch um welchen Preis?«
Er streichelte weiter den Kopf seiner Tochter und dachte voller Verzweiflung an jenes verhängnisvolle Programm, das seinen Namen trug.