Prothesenschnupfen

3,00 Stern(e) 2 Bewertungen

F. Alexander

Mitglied
»Opa Wiemers, Opa Wiemers. Erzähl uns eine Geschichte. Bitte, bitte.«
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die ungefähre Richtung der quengelnden Kinder. Er lächelte, denn er liebte die Kinderstimmen.
»Was wollt ihr hören?«
Die Kinder schwiegen einen Moment lang, um Luft zu holen. Dann schrien alle gleichzeitig los. Opa Wiemers hob die Hände. »Kinder, nicht alle auf einmal. Ich verstehe ja kein Wort.«
Ein besonders lauter Junge überschrie alle anderen .
»Epidemie! Erzähl uns von der Epidemie.«
Die Anderen schrien wieder, diesmal vor Begisterung.
»Ja, erzähl uns von der Epidemie«, verlangten sie.
Opa Wiemers seufzte. Wie gerne würde er wieder einmal ein Märchen erzählen.
»Warum wollt ihr immerzu diese schreckliche Geschichte hören? Ich würde euch viel lieber die Geschichte von Aschenputtel erzählen.«
»Pah, die ist doch voll langweilig. Die Epidemie ist viel spannender.«
Wieder der vorlaute Junge.
»Aber sie ist auch sehr traurig, dass wisst ihr doch?«
»Das macht nichts. Wir hören sie trotzdem gerne.«
Ein Mädchen mit heller, süßer Stimme.
Der Alte seufzte wieder. »Nun gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Also setzt euch hin und seid ruhig.«
Als das Geraschel und Gewisper verstummt war, sammelte sich Opa einen Moment mit gesenktem Kopf.
»Wie ihr sicher alle wißt, war die Welt nicht immer so wie heute. Früher gab es keine rauchenden Schornsteine und die Autos stanken auch nicht so. Die Menschen mussten nicht so hart arbeiten und lebten viel, viel länger.«
Er hielt einen Moment inne und seine Augen starrten in eine lang versunkene Zeit, die sie trotz ihrer Blindheit deutlich sehen konnten.
»Ich war damals viel jünger als heute«, er lächelte, »und ich konnte noch sehen.«
Sein Lächeln wurde wehmütig.
»Das Leben war viel einfacher und angenehmer als heute. Krankheiten gab es fast keine. Armut war undenkbar. Und Kriege kannte man nur aus Geschichtsbüchern. Heute sagt man, die Menschen damals lebten im Paradies. Kennt ihr den Begriff Paradies, Kinder?«
Einige Kinder meldeten sich, bis ihnen wieder einfiel, dass Opa sie ja nicht sehen konnte.
»Das Paradies ist, wo alle glücklich sind. Das hat mir meine Oma erzählt«, meldete sich wieder der vorlaute Junge zu Wort.
»Ja, so könnte man sagen. Aber wie in der Bibel wurden die Menschen wieder einmal aus einem Paradies vertrieben. Wißt ihr auch warum?«
Die Kinder blickten ihn mit große Augen an. Natürlich kannten sie die Antwort. Doch sollte der Opa weitererzählen.
»Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, weil wir glaubten, alles zu wissen. Wir hatten uns angemaßt, alles kontrollieren zu können und alles zu beherrschen.«
Die letzten Worte klangen sehr verbittert, und die Kinder bereuten schon, die Geschichte gefordert zu haben. Doch dann straffte sich Opa Wiemers kleine Gestalt und er lächelte wieder.
»Entschuldigt bitte, aber manchmal trauere ich um das, was wir alle verloren haben und dann werde ich wütend, weil wir einfach nicht begriffen haben, was geschah.«
»Was ist denn passiert?«, wollte der vorlaute Junge wissen, doch der alte Mann war jetzt ganz in die Geschichte eingetaucht und erzählte weiter, ohne auf die Frage einzugehen.
»Als die ersten Fälle auftraten, sah noch niemand die Zusammenhänge. Dazu traten sie an zu weit entfernten Orten auf. Eine Beinprothese hier, ein Kunstarm dort, ein Großcomputer da, alles ohne System. Ein Teil versagt, es wird ausgetauscht, niemand forscht wirklich nach der Ursache. Biotech war damals ein Massenartikel. Niemand machte sich Gedanken, wenn etwa kaputt ging.«
»Was ist Biospeck?«, fragte ein Mädchen, das die Geschichte heute zum ersten Mal hörte.
»Biotech, meine Kleine, Biotech. Das war damals so etwas wie die Mikrochips heute. Ihr wisst doch, was Mikrochips sind, oder?«
»Klar!« schallte es ihm entgegen. »Das sind so kleine Dinger, die machen, dass meine Puppe sprechen kann«, sagte eines der Mädchen.
»Genau. Nur das damals eben alles mit Biotech funktionierte. Biotech steckte in allem. Und auch fast in jedem; denn die Biotechnologie sorgte dafür, dass jeder, egal wie krank er war, wieder gesund wurde. Und wer einen Arm oder ein Bein verlor, bekam etwas, das fast so gut wie das Alte war. >Besser<, sagten manche sogar.«
Die Kinder schauten auf ihre Hände. Neue, so gut wie ihre eigenen?
»Du lügst, Opa. So was gibt es doch gar nicht!«
»Nicht mehr, mein Junge. Nicht mehr.«
Wieder glitt der wehmütige Ausdruck über das Gesicht des alten Mannes und er berührte kurz seine blinden, trüben Augen.
»Früher konnte man alles am menschlichen
Körper ersetzen. Und sogar neue Menschen machen. Und das tat man auch. Die Kinder wurden damals mit den bestmöglichen Chancen für ihre Zukunft gemacht. Es gab keine kranken Kinder, niemand wurde mit einer Behinderung geboren. Kein Kind starb mehr bei der Geburt, denn Geburten gab es nicht mehr ... Nun ja, es war eine tolle Zeit.«
Die Kinder sahen ihn befremdet an. Menschen ohne Behinderungen? Keine Krankheiten? Manchmal erzählte der Opa seltsame Sachen. Und nie war die Geschichte von der Epidemie gleich.
»Selbst als die ersten Herzschrittmacher ausfielen und Menschen in Lebensgefahr gerieten, wurde nicht wirklich nach dem Grund geforscht. Unfälle passieren nun einmal. Doch es wurde immer schlimmer und es starben die ersten Menschen. Und dann wurden es immer mehr.«
Die Kinder hielten erschrocken die Luft an. Hände wurde vor Münder geschlagen, Augen weit aufgerissen.
»Also begannen die Wissenschaftler ernsthaft nach den Ursachen zu forschen.«
Opa Wiemers machte eine Pause um Luft zu holen.
»Und was soll ich euch sagen. Sie fanden ...«
Die Kinder beugten sich erwartungsvoll vor.
»... nichts.«
Entäuschtes Ausatmen antwortete ihm. Opa lächelte stillvergnügt.
»Aber ... aber wenn die nichts gefunden haben, warum sind dann die Sachen kaputt gegangen?« wollte eines der Mädchen wissen.
»Täglich las man neue Sensationsmeldungen in der Zeitung. Das man die Ursache gefunden hatte und eine Lösung ganz nahe sei. Aber das stimmte nicht.«
»Aber warum haben die Leute das dann gesagt, wenn es doch nicht stimmt?« fragte eines der Kinder.
»Weil die Menschen dumm sind, Liebes. Weil sie ihre Unfähigkeit nie zugeben würden.«
»Aber das ist doch doof«, sagte das gleiche Kind.
Opa Wiemers drehte seinen Kopf in die Richtung der Stimme.
»Da hast du vollkommen recht. Aber wenn ihr älter werdet, werdet ihr feststellen, dass die Menschen oft doof sind. Lasst euch davon nicht beeinflussen. Versucht, schlau zu sein.«
»Aber warum sind die Sachen denn nun kaputt gegangen?«
»Das fand man erst viel, viel später heraus. Als alles schon fast vorbei und die Epidemie nicht mehr zu stoppen war.«
Seine Hand tastete nach dem Glas mit Wasser, das auf dem Tisch neben ihm stand. Er trank einen Schluck und versank in nachdenkliches Schweigen.
»Opa Wiemers, erzähl weiter!«
Fordernde Kinderstimmen holten ihn in das Jetzt zurück.
»Eines Tages hatte ein junger Biotechniker ein neues Programm geschrieben, das die Biotechs noch besser machen sollte. Es sollte ihnen die Fähigkeit verleihen, sich selber zu reparieren. Ihr müsst dazu wissen, dass sie zwar lebten, aber auch kleine Maschinen waren.«
»Saßen da kleine Männchen drin?«, wollte eines der Kinder wissen.
Opa Wiemers schmunzelte.
»Nein. Gesteuert wurden sie von einem Programm. Und die Menschen, die diese Programme schrieben, hießen Bioprogrammierer. Jedenfalls hatte unser junger Mann einen ganz schlimmen Fehler bei der Programmierung gemacht. Am Anfang funktionierten das Programm tadellos. Die Maschinchen liefen und liefen und reparierten sich selber. Jeder wollte jetzt dieses Programm haben, weil es doch so gut war. Und da hatte der junge Programmierer noch eine Idee. Er machte die Biotechs so klug, das sie mit einander reden konnten. Und was redeten sie miteinander?«
Er spürte, dass die Kinder ihn mit Frageaugen ansahen.
»Sie sprachen über ihr Programm. Und die Biotechs mit Programm fragten die ohne Programm: Wollt ihr das Programm auch haben? Und diese antworteten: Ja, gebt uns dieses Wunderprogramm. Jetzt müsst Ihr aber wissen, dass die Biotechs nicht mit Worten miteinander redeten, sondern mit Funkwellen und kleinen Teilen von sich selber. So, wie ihr Schnupfen untereinander weitergebt, gaben sie ihr Programm weiter.«
»Die Biospecks hatten Schnupfen? Aber Schnupfen macht doch nicht tot«, sagte eines der Kinder mit großer Überzeugung.
»Du hast recht. Aber es war schlimmer als ein Schnupfen. Stellt euch den schlimmsten Schnupfen eures Lebens vor. Und dann stellt ihr euch einen noch viel, viel böseren Schnupfen vor.«
Die Mädchen und Jungen taten es.
»Das ist ja ganz doll schlimm«, sagte ein Mädchen schließlich mit dünner Stimme.
»Ja, das war es, mein Schatz. Denn die Biotechs spielten plötzlich verrückt. Es genügte ihnen nicht mehr, sich selbst zu reparieren. Sie begannen, auch alles andere um sie herum zu reparieren. Aber das war ja gar nicht kaputt. Also machten die Biotechs erst alles kaputt, um es dann zu reparieren. Doch das funktionierte nicht, weil ja nicht alles aus Biotech bestand. Und so blieb das Kaputte auch kaputt. Plötzlich hatten wir keine hochentwickelte Technik mehr. Nahrung wurde knapp. Kraftwerke arbeiteten nicht mehr. Es war eine schlimme Zeit. Doch der Mensch ist erfindungsreich. Wir benutzten einfach wieder die alte Technik. Zumindest konnten wir damit überleben. Doch unsere Welt hatte sich verändert. Fabrikschornsteine wuchsen wie Pilze aus dem Boden. Schwarzer Qualm überall. Gift im Boden. Unser Paradies hatte sich die Hölle verwandelt.«
»Vater! Hör sofort auf damit. Du machst den Kindern Angst. Wie konntest du nur diese schreckliche Geschichte erzählen?«
Tatjana, seine Tochter, war unbemerkt in das Zimmer gekommen.
»Die kinder haben mich darum gebeten, mein Kind«
»Und du hattest nichts besseres zu tun, als ihnen deine Schauergeschichten zu erzählen. Schämen solltest du dich.«
»Lass mich die Geschichte bitte zu Ende erzählen. Dann ist immer noch genug Zeit, sich zu schämen.«
Seine Tochter verschränkte demonstrativ ihre Arme und starrte ihn schweigend an. Auch wenn er nicht mehr sehen konnte, spürte er deutlich ihre Ablehnung.
»Ich muss Euch ja noch erzählen, wie es mit den kranken Menschen weiterging. Als alle Biotechs nach und nach abstarben, hatten die Menschen große Angst. Viele gingen plötzlich wieder in die Kirchen und beteten. Andere suchten Trost im Alkohol. Den Medizinern gelang es zwar, viele zu retten, doch das Leben war nicht mehr so wie vorher. Und die Menschen hatten etwas gelernt. Sie hatten gelernt, dass es gefährlich ist in den Lauf der Natur einzugreifen. Und noch etwas Gutes hat die Epidemie bewirkt. Kommt einmal her.«
Die Kinder drängelten sich um den Sessel des alten Mannes, sie wußten, was jetzt kam. Darum baten sie Opa Wiemers immer wieder um die Geschichte von der Epidemie.
»Weil die Menschen jetzt ihr Leben viel mehr schätzen als früher, und sie es auf die alte Art nicht mehr können, haben sie alles getan, um wieder die älteste und schönste Biotechnik zu produzieren, die es gibt: Euch.«
Und er hielt plötzlich in jeder Hand ein dutzend Lollies in buntem Papier. Die Kinder rissen ihm die Leckerei aus den Händen und liefen johlend davon, die Geschichten schon beim Auspacken der Lollies
vergessend. Opa Wiemers senkte den Kopf und ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Eine Träne rollte seine Wange hinab. Seine Tochter kniete sich neben ihn und rieb ihm über den Rücken.
»Warum tust du dir das immer wieder an, Vater?«
Er streckte eine zittrige Hand aus und tastete nach ihrem Gesicht.
»Weil sie nicht vergessen sollen, Tatjana«, sagte Opa Wiemers. Er streichelte mechanisch ihr Gesicht.
»Sie dürfen nicht vergessen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum sie vergiftet ist und stirbt. Und wir mit ihr. Die Epidemie haben wir überlebt, doch um welchen Preis?«
Er streichelte weiter den Kopf seiner Tochter und dachte voller Verzweiflung an jenes verhängnisvolle Programm, das seinen Namen trug.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Schnell noch eine Erklärung für meine "Benotung": Der Text ist handwerklich weitgehend sauber, heißt, ich bin beim Erstlesen nicht über Stolperstellen gefallen.
Aber der Text hat mich auch nicht vom Hocker gerissen. Das lag weniger an der Idee (obwohl die einen altgedienten SF-Leser tatsächlich nicht mit einem hohen Neuigkeitswert überrascht, aber das ist mehr mein als dein Problem), sondern an der Erzählweise. Es gibt "schon viel Schönes" durch die Kinder (das mit dem Biospeck zum Beispiel), aber der Text gibt dieser Seite kaum Raum zum Wirken (auch wenn ich durchaus sehe, dass du versuchst, es sichtbar und lebendig zu machen - es "funzt" bei mir nur nicht richtig). Andererseits geht das Hauptthema (die Geschichte, die der Opa erzählt) auch etwas unter. Das liegt am Erzählstil, meint: Daran, dass es erzählt wird, und daran, dass es eher berichtend statt szenisch/filmisch erzählt wird. Hart ausgedrückt: Der Opa sagt an, was passierte, konkrete Bilder/Szenen finden praktisch nicht statt. Ich höre, was gesagt wird, sehe dabei aber keinen Film (in meinem Kopfkino).
 

F. Alexander

Mitglied
»Opa Wiemers, Opa Wiemers. Erzähl uns eine Geschichte. Bitte, bitte.«
Trübe Augen blickten in die Richtung der bettelnden Kinderstimmen, ohne wirklich zu sehen.
Opa lächelte, er liebte die Kinderstimmen.
»Was wollt ihr hören?«, fragte er mit seiner tiefen Märchenopastimme.
Stille. Dann schrien alle gleichzeitig los. Opa Wiemers hob die Hände. »Kinder, nicht alle auf einmal. Ich verstehe ja kein Wort.«
Ein besonders lauter Junge überschrie alle anderen.
»Epidemie! Erzähl uns von der Epidemie.«
»Ja, erzähl uns von der Epidemie. E-pi-de-mie. E-pi-de-mie. E-pi-de-mie.«
Opa Wiemers seufzte.
»Warum wollt ihr immerzu diese schreckliche Geschichte hören? Ich möchte euch viel lieber die Geschichte von Aschenputtel erzählen.«
»Pah, die ist doch voll langweilig. Die Epidemie ist viel spannender.«
Wieder der vorlaute Junge.
»Aber sie ist auch sehr traurig, dass wisst ihr doch?«, gab der Alte ernst zurück.
»Das macht nichts. Wir hören sie trotzdem gerne.«
Ein Mädchen mit heller, süßer Stimme.
»Na gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Also setzt euch hin und seid ruhig.«
Kleidung raschelte, aufgeregtes Wispern erklang, ein Kichern schwebte davon.
Opa sammelte sich einen Moment mit gesenktem Kopf. Angespannte Stille hatte sich in dem Raum ausgebreitet.
»Als ich noch viel jünger war als heute gab es keine rauchenden Schornsteine und die Autos stanken auch nicht so. Die Menschen mussten nicht so hart arbeiten und lebten viel, viel länger. Das Leben war viel einfacher und angenehmer als heute. Krankheiten gab es fast keine. Armut war undenkbar. Und Kriege kannte man nur aus Geschichtsbüchern. Heute sagt man, die Menschen damals lebten im Paradies. Kennt ihr den Begriff Paradies, Kinder?«
Opa wartete geduldig dass den Kindern wieder einfiel, dass er ihre hochgestreckten Hände nicht sehen konnte.
»Das Paradies ist, wo alle glücklich sind. Das hat mir meine Oma erzählt«, meldete sich wieder der vorlaute Junge zu Wort.
»Ja, so könnte man sagen. Aber wie in der Bibel wurden die Menschen wieder einmal aus einem Paradies vertrieben. Wisst ihr auch warum?«
Opa Wiemers wartete die Antwort der Kinder nicht ab.
»Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, weil wir glaubten, alles zu wissen. Wir hatten uns angemaßt, alles kontrollieren zu können und alles zu beherrschen.«
Bei den letzten Worten vertieften sich Falten in seinem Gesicht, seine Lippen wurden zu schmalen Strichen. Einige Kinder begannen unruhig hin und her zu rutschen.
Doch dann straffte sich Opa Wiemers kleine Gestalt und ein wehmütiges Lächeln ließ seine Mundwinkel nach oben wandern.
»Entschuldigt bitte, aber manchmal trauere ich um das, was wir alle verloren haben und dann werde ich wütend, weil wir einfach nicht begriffen haben, was geschah.«
»Was ist denn passiert?«, wollte der vorlaute Junge wissen, doch der alte Mann war jetzt ganz in die Geschichte eingetaucht und erzählte weiter, ohne auf die Frage einzugehen.
»Als die ersten Fälle auftraten, sah noch niemand die Zusammenhänge. Dazu traten sie an zu weit entfernten Orten auf. Eine Beinprothese hier, ein Kunstarm dort, ein Großcomputer da, alles ohne System. Ein Teil versagt, es wird ausgetauscht, niemand forscht wirklich nach der Ursache. Biotech war damals ein Massenartikel. Niemand machte sich Gedanken, wenn etwa kaputt ging.«
»Was ist Biospeck?«
»Biotech, meine Kleine, Biotech. Das war damals so etwas wie die Mikrochips heute. Ihr wisst doch, was Mikrochips sind, oder?«
»Klar!« schallte es ihm entgegen. »Das sind so kleine Dinger, die machen, dass meine Puppe sprechen kann«, piepste eine Mädchen.
»Genau. Nur, dass damals eben alles mit Biotech funktionierte. Sie steckte in allem. Und auch fast in jedem; denn die Biotechnologie sorgte dafür, dass jeder, egal wie krank er war, wieder gesund wurde. Und wer einen Arm oder ein Bein verlor, bekam etwas, das fast so gut wie das Alte war. >Besser<, sagten manche sogar.«
Die Kinder schauten ungläubig auf ihre Hände. Neue, so gut wie ihre eigenen?
»Du lügst, Opa. So was gibt es doch gar nicht!«
»Nicht mehr, mein Junge. Nicht mehr.«
Wieder glitt der wehmütige Ausdruck über das Gesicht des alten Mannes und er berührte kurz seine Augen.
»Früher konnte man alles am menschlichen
Körper ersetzen. Und sogar neue Menschen machen. Und das tat man auch. Die Kinder wurden damals mit den bestmöglichen Chancen für ihre Zukunft gemacht. Es gab keine kranken Kinder, niemand wurde mit einer Behinderung geboren. Kein Kind starb mehr bei der Geburt, denn Geburten gab es nicht mehr ... Nun ja, es war eine tolle Zeit.«
Die Kinder sahen ihn befremdet an. Menschen ohne Behinderungen? Keine Krankheiten? Manchmal erzählte der Opa seltsame Sachen. Und nie war die Geschichte von der Epidemie gleich.
»Selbst als die ersten Herzschrittmacher ausfielen und Menschen in Lebensgefahr gerieten, wurde nicht wirklich nach dem Grund geforscht. Unfälle passieren nun einmal. Doch es wurde immer schlimmer und es starben die ersten Menschen. Und dann wurden es immer mehr.«
Das Geräusch ängstlich eingesogener Luft füllte die Stille, die diesen Worten folgte.
»Wissenschaftler aus aller Welt begannen mit der Erforschung der Ursachen. Und was soll ich euch sagen. Sie fanden ...«
Die Kinder beugten sich erwartungsvoll vor.
»... nichts.«
Opa lächelte stillvergnügt über das Zischen der enttäuscht ausgestoßenen Luft.
»Aber ... aber wenn die nichts gefunden haben, warum sind dann die Sachen kaputt gegangen?« »Tja, Kleines, täglich las man neue Sensationsmeldungen in der Zeitung. Das man die Ursache gefunden hatte und eine Lösung ganz nahe sei. Aber das stimmte nicht.«
»Aber warum haben die Leute das dann gesagt, wenn es doch nicht stimmt?«
»Weil die Menschen dumm sind, Liebes. Weil sie ihre Unfähigkeit nie zugeben würden.«
»Aber das ist doch doof«, sagte das gleiche Kind.
Opa Wiemers Nichtblick richtete sich auf den Sprecher
»Da hast du vollkommen recht. Aber wenn ihr älter werdet, werdet ihr feststellen, dass die Menschen oft doof sind. Lasst euch davon nicht beeinflussen. Versucht, schlau zu sein.«
»Aber warum sind die Sachen denn nun kaputt gegangen?«
»Das fand man erst viel, viel später heraus. Als alles schon fast vorbei und die Epidemie nicht mehr zu stoppen war.«
Er befeuchtete seinen vom Reden und der Erinnerung ausgetrockneten Mund mit einem Schluck Wasser und versank dabei in nachdenkliches Schweigen.
Fordernde Kinderstimmen holten ihn plötzlich in das Jetzt zurück.
»Eines Tages hatte ein junger Biotechniker ein neues Programm geschrieben, das die Biotechs noch besser machen sollte. Es sollte ihnen die Fähigkeit verleihen, sich selber zu reparieren. Ihr müsst dazu wissen, dass sie zwar lebten, aber auch kleine Maschinen waren.«
»Saßen da kleine Männchen drin?«
Opa Wiemers schmunzelte.
»Nein. Gesteuert wurden sie von einem Programm. Und die Menschen, die diese Programme schrieben, hießen Bioprogrammierer. Jedenfalls hatte unser junger Mann einen ganz schlimmen Fehler bei der Programmierung gemacht. Am Anfang funktionierten das Programm tadellos. Die Maschinchen liefen und liefen und reparierten sich selber. Jeder wollte jetzt dieses Programm haben, weil es doch so gut war. Sogar seinen Namen gab man dem Programm. Und dann hatte der junge Programmierer noch eine Idee. Er machte die Biotechs so klug, das sie mit einander reden konnten. Ihr fragt Euch sicherlich, was sie miteinander redeten? Sie sprachen über ihr Programm. Und die Biotechs mit Programm fragten die ohne Programm: Wollt ihr das Programm auch haben? Und diese antworteten: Ja, gebt uns dieses Wunderprogramm. Jetzt müsst Ihr aber wissen, dass die Biotechs nicht mit Worten miteinander redeten, sondern mit Funkwellen und kleinen Teilen von sich selber. So, wie ihr Schnupfen untereinander weitergebt, gaben sie ihr Programm weiter.«
»Die Biospecks hatten Schnupfen? Aber Schnupfen macht doch nicht tot«
Große kindliche Überzeugung schwang in den Worten.
»Du hast recht. Aber es war schlimmer als ein Schnupfen. Stellt euch den schlimmsten Schnupfen eures Lebens vor. Und dann stellt ihr euch einen noch viel, viel böseren Schnupfen vor.«
Erschrockenes und ängstliches Gemurmel klang auf.
»Das ist ja ganz doll schlimm«, sagte eine dünne, ängstliche Stimme.
»Ja, das war es, mein Schatz. Denn die Biotechs spielten plötzlich verrückt. Es genügte ihnen nicht mehr, sich selbst zu reparieren. Sie begannen, auch alles andere um sie herum zu reparieren. Aber das war ja gar nicht kaputt. Also machten die Biotechs erst alles kaputt, um es dann zu reparieren. Doch das funktionierte nicht, weil ja nicht alles aus Biotech bestand. Und so blieb das Kaputte auch kaputt. Nahrung wurde knapp. Kraftwerke arbeiteten nicht mehr. Wir konnten keine Nachrichten mehr über weite Entfernungen austauschen. Viele, viele Menschen starben. Doch der Mensch ist erfindungsreich. In unseren Museen und Bibliotheken fanden wir, was wir zum Überleben brauchten. In Vergessenheit geratenes Wissen unserer Vorfahren. Und so machten wir es wieder wie Sie. Und wir machten auch die selben Fehler.«
Seine Stimme wurde plötzlich rauer und noch etwas tiefer.
»Unser Paradies verwandelte sich in die Hölle.«
»Vater! Hör sofort auf damit. Du machst den Kindern Angst. Wie konntest du nur diese schreckliche Geschichte erzählen?«
Eine zornige Frauenstimme unterbrach von der Türe her seine Geschichte.
»Die kinder haben mich darum gebeten, Tatjana.«
»Und du hattest nichts besseres zu tun, als ihnen deine Schauergeschichten zu erzählen. Schämen solltest du dich.«
»Lass mich die Geschichte bitte zu Ende erzählen. Dann ist immer noch genug Zeit, sich zu schämen.«
Seine Tochter verschränkte demonstrativ ihre Arme und starrte ihn schweigend an. Auch wenn er nicht mehr sehen konnte, spürte er deutlich ihre Ablehnung. Die Kinder schauten dem Streit stumm zu.
»Ich muss Euch ja noch erzählen, wie es mit den kranken Menschen weiterging. Als alle Biotechs nach und nach abstarben, gingen viele plötzlich wieder in die Kirchen und beteten. Andere suchten Trost im Alkohol. Den Medizinern gelang es zwar, viele zu retten, doch das Leben war nicht mehr so wie vorher. Die Menschen hatten etwas auf schlimme Art lernen müssen. Sie hatten gelernt, dass es gefährlich ist in den Lauf der Natur einzugreifen. Und noch etwas Gutes hat die Epidemie bewirkt. Kommt einmal her.«
Die Kinder drängelten sich um den Sessel des alten Mannes, sie wußten, was jetzt kam.
»Die Menschen machen noch eine Sache wieder wie die Alten. Sie produzieren wieder auf natürliche Art die schönste Biotech, die es gibt. Euch.«
Und er hielt plötzlich in jeder Hand ein duzend Lollies in buntem Papier. Die Kinder rissen ihm die Leckerei aus den Händen und liefen johlend davon, die Geschichten schon beim Auspacken vergessend. Opa Wiemers senkte den Kopf. Ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Eine Träne rollte seine Wange hinab. Seine Tochter kniete sich neben ihn und rieb ihm über den Rücken.
»Warum tust du dir das immer wieder an, Vater?«
Er streckte eine zittrige Hand aus und tastete nach ihrem Gesicht.
»Weil ich nicht vergessen kann, Tatjana«
Er streichelte mechanisch ihr Gesicht.
»Die Kinder müssen wissen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum sie vergiftet ist und stirbt. Und wir mit ihr. Auch wenn sie Kinder sind. Die Epidemie haben wir überlebt, doch um den Preis der Zukunft der Kinder.«
Er streichelte weiter den Kopf seiner Tochter und dachte mit Tränen in den Augen an jenes verhängnisvolle Programm, das seinen Namen trug.
 

F. Alexander

Mitglied
Hallo jon,

und vielen Dank für deine offene und ausführliche Kritik, nebs den lobenden Worten. Die Geschichte war ursprünglich gedacht für eine Ausschreibung mit Zeichenbegrenzung. Daher habe ich das "show" entsprechend dem "tell" geopfert. Eine komplette Überarbeitung käme einer Neukreation gleich, daher habe ich nur ein paar Dinge geändert, um den Gesamteindruck etwas (hoffentlich) zu heben.

lg
F. Alexander
 

F. Alexander

Mitglied
»Opa Wiemers, Opa Wiemers. Erzähl uns eine Geschichte. Bitte, bitte.«
Trübe Augen blickten in die Richtung der bettelnden Kinderstimmen. Opa lächelte, er liebte die Kinderstimmen.
»Was wollt ihr hören?«, fragte er mit seiner tiefen Märchenopastimme.
Stille. Dann schrien alle gleichzeitig los. Opa Wiemers hob die Hände an die Ohren.
»Kinder, nicht alle auf einmal. Ich verstehe ja kein Wort.«
Ein besonders lauter Junge überschrie alle anderen.
»Epidemie! Erzähl uns von der Epidemie.«
»Ja, erzähl uns von der Epidemie. E-pi-de-mie. E-pi-de-mie. E-pi-de-mie.«
»Warum wollt ihr immerzu diese schreckliche Geschichte hören? Ich möchte euch viel lieber die Geschichte von Aschenputtel erzählen.«
»Pah, die ist doch voll langweilig. Die Epidemie ist viel spannender.«
Wieder der vorlaute Junge.
»Aber sie ist auch sehr traurig, dass wisst ihr doch?«,
»Das macht nichts. Wir hören sie trotzdem gerne.«
Ein Mädchen mit heller, süßer Stimme.
»Na gut, ihr gebt ja doch keine Ruhe. Also setzt euch hin und seid ruhig.«
Kleidung raschelte, aufgeregtes Wispern erklang, ein Kichern schwebte davon.
Opa sammelte sich einen Moment mit gesenktem Kopf. Angespannte Stille hatte sich in dem Raum ausgebreitet.
»Als ich noch viel jünger war als heute, brauchte niemand eine Atemmaske oder eine Sauerstoffdusche zu Hause. Ich erinnere mich, dass mein Vater immer Zeit hatte für mich, weil er nur zwei Tag in der Woche arbeiten musste. Niemand auf der ganzen Welt musste mehr als zwei Tage arbeiten. Und Erkältung war die schlimmste Krankheit, die wir kannten. Das Wort „Krieg" hatte für uns keine Bedeutung mehr. Heute sagt man, die Menschen damals lebten im Paradies. Kennt ihr den Begriff Paradies, Kinder?«
Opa wartete geduldig darauf, dass den Kindern wieder einfiel, dass er ihre hochgestreckten Hände nicht sehen konnte.
»Das Paradies ist, wo alle glücklich sind. Das hat mir meine Oma erzählt«, meldete sich wieder der vorlaute Junge zu Wort.
Opa nickte. Er schauderte, als Bilder aus diesen Tagen vor seinem inneren Auge vorbeistrichen. Dieses Auge von dem er wünschte, es sei genauso trübe wie seine äußeren Augen.
»Unser Paradies ging verloren. Weil wir glaubten, alles zu wissen. Wir hatten uns angemaßt, alles kontrollieren zu können und alles zu beherrschen.«
Er holte stockend Luft.
»Heute kennt wieder jeder die Bedeutung der Worte „Umweltverschmutzung" und „Waffe". Jeder weiß, dass braune Wolken böse sind und man bei Regen nicht im Freien sein darf.«
»Was ist denn passiert?«, wollte der vorlaute Junge wissen, doch der alte Mann war jetzt ganz in die Geschichte eingetaucht und erzählte weiter, ohne auf die Frage einzugehen.
»Als die ersten Fälle auftraten, sah noch niemand die Zusammenhänge. Dazu traten sie an zu weit entfernten Orten auf. Eine Beinprothese hier, ein Kunstarm dort, ein Großcomputer da, alles ohne System. Ein Teil versagt, es wird ausgetauscht, niemand forscht wirklich nach der Ursache. Biotech war damals ein Massenartikel. Niemand machte sich Gedanken, wenn etwa kaputt ging.«
»Was ist Biospeck?«
»Biotech, meine Kleine, Biotech. Das war damals so etwas wie die Mikrochips heute. Ihr wisst doch, was Mikrochips sind, oder?«
»Klar!« schallte es ihm entgegen. »Das sind so kleine Dinger, die machen, dass meine Puppe sprechen kann«, piepste ein Mädchen.
»Genau. Nur, dass damals eben alles mit Biotech funktionierte. Sie steckte in allem. Und auch fast in jedem; denn die Biotechnologie sorgte dafür, dass jeder, egal wie krank er war, wieder gesund wurde. Ich kann immer noch ein Werbelied aus dieser Zeit. Es ging so : Was kümmert mich ein Bein, was kümmert mich der Arm, ein Bioimplantat von Maddox lindert jeden Harm. Es klingt nicht besonders gut, nicht wahr?«
Er lächelte entschuldigend.
»Manche wollten unbedingt neue Arme und Beine. „Besser als neu" war auch so ein Werbespruch damals.«
Die Kinder schauten ungläubig auf ihre Hände. Neue, besser als ihre eigenen?
»Du lügst, Opa. So was gibt es doch gar nicht!«
»Nicht mehr, mein Junge. Nicht mehr.«
Wieder glitt der wehmütige Ausdruck über das Gesicht des alten Mannes und er berührte kurz seine Augen. Erinnerungen griffen
nach ihm. Bilder von Menschen, die ihre Arme mit glücklichem Lächeln in die Höhe reckten oder stolz mit Ihren Beinen auf und ab wippten.
»Früher konnte man alles am menschlichen Körper ersetzen. Und sogar neue Menschen machen. Und das tat man auch. Die Kinder wurden damals mit den bestmöglichen Chancen für ihre Zukunft gemacht. So jemanden wie Luka gab es damals nicht.«
Luka schob seine auffälige Hand unter sein Bein.
»Kein Kind starb mehr bei der Geburt, denn Geburten wie heute gab es nicht mehr ... Nun ja, es war eine tolle Zeit.«
Die Kinder sahen ihn befremdet an. Menschen ohne Behinderungen? Keine Krankheiten? Manchmal erzählte der Opa seltsame Sachen. Und nie war die Geschichte von der Epidemie gleich.
»Die Medien berichteten damals von Unfällen mit Herzschrittmachern. Diese kleinen
Lebensretter versagten erst manchmal, dann immer öfter. Die Forscher sagten nur, dass kein
Grund zur Sorge bestünde. Es sei schlimm, dass Menschen deshalb sterben müssten, aber Unfälle kämen nun einmal vor. Und dann wurden es immer mehr.«
Das Geräusch ängstlich eingesogener Luft füllte kurz den Raum.
»Plötzlich sprach niemand mehr von Unfällen. Jeder sprach jetzt von seltsamen Phänomenen. Die Wissenschaftler, die vorher von Unfällen gesprochen hatten, forschten jetzt mit aller Macht. Und was soll ich euch sagen. Sie fanden ...«
Die Kinder beugten sich erwartungsvoll vor.
»... nichts.«
Opa lächelte stillvergnügt über das Zischen der enttäuscht ausgestoßenen Luft.
»Aber ... aber wenn die nichts gefunden haben, warum sind die Sachen dann kaputt gegangen?« »Tja, Kleiner, täglich las man neue Sensationsmeldungen in der Zeitung. Das man die Ursache gefunden hatte und eine Lösung ganz nahe sei. Aber das stimmte nicht.«
»Aber warum haben die Leute das dann gesagt, wenn es doch nicht stimmt?«
»Weil die Menschen dumm sind, Liebes. Weil sie ihre Unfähigkeit nie zugeben würden.«
»Aber das ist doch doof«, sagte das gleiche Kind.
Opa Wiemers Nichtblick richtete sich auf den Sprecher
»Da hast du vollkommen recht. Aber wenn ihr älter seit, werdet ihr feststellen, dass die Menschen oft doof sind. Lasst euch davon nicht beeinflussen. Versucht schlau zu sein.«
»Aber warum sind die Sachen denn nun kaputt gegangen?«
»Das fand man erst viel, viel später heraus. Als fast jedes Biotech zerstört war.«
Er tastete mit zitternder Hand nach einem Glas Wasser und befeuchtete seinen vom Reden und der Erinnerung ausgetrockneten Mund.
»Erzähl bitte weiter, Opa. Wir wollen wissen wie es weitergeht!«
Opa Wiemers trankt noch einen Schluck. Nur langsam ließ ihn die Erinnerung wieder los.
»Eines Tages hatte ein junger Biotechniker ein neues Programm geschrieben, das die Biotechs noch besser machen sollte. Dem jungen Mann war aufgefallen, dass die Biotechs zwar wunderbar funktionierten, aber wenn sie kaputt waren, mussten sie ersetzt werden. Und das wollte er ändern. Die Biotechs sollten gar nicht erst kaputt gehen. Ihr müsst dazu wissen, dass sie zwar lebten, aber auch kleine Maschinen waren.«
»Saßen da kleine Männchen drin?«
Opa Wiemers schmunzelte.
»Nein. Gesteuert wurden sie von etwas, dass man Programm nennt. Und die Menschen, die diese Programme schrieben, hießen Bioprogrammierer. Am Anfang funktionierten das Programm des jungen Bioprogrammierers tadellos. Die Maschinchen liefen und liefen und reparierten sich selber. Jeder redete davon und lobte den Programmierer. Sogar seinen Namen gab man dem Programm. Und dann hatte der junge Programmierer noch eine Idee. Er machte die Biotechs so klug, das sie mit einander reden konnten. Ihr fragt Euch sicherlich, was sie miteinander redeten? Sie sprachen über ihr Programm. Und die Biotechs mit Programm fragten die ohne Programm: Wollt ihr das Programm auch haben? Und Diese antworteten: Ja, gebt uns dieses Wunderprogramm. Jetzt müsst Ihr aber wissen, dass die Biotechs nicht mit Worten miteinander redeten, sondern mit Funkwellen und kleinen Teilen von sich selber. Diese kleinen Teilchen waren wie Schnupfenbazillen. Und die verbreiteten sich von Biotech zu Biotech.«
»Die Biospecks hatten Schnupfen? Mußten die sich dann die Nase putzen?«
Und dann, nach einem kurzen nachdenklichen Moment, mit in die Hüften gestemmten Armen und schiefgelegtem Kopf, sagte das selbe Mädchen:
»An Schnupfen stirb man doch nicht, Opa!«
»Du hast recht. Aber es war schlimmer als ein Schnupfen. Stellt euch den schlimmsten Schnupfen eures Lebens vor. Und dann stellt ihr euch einen noch viel, viel böseren Schnupfen vor.«
Erschrockenes und ängstliches Gemurmel klang auf. Einer der Kleinsten steckte seinen Daumen in den Mund.
»Das war ja ganz doll schlimm«, sagte eine dünne, traurige Stimme.
»Ja, das war es, mein Schatz. Denn die Biotechs spielten plötzlich verrückt. Sie begannen, alles um sich herum zu reparieren. Aber reparieren kann man nur, was kaputt ist. Also, überlegten die Biotechs, müssen wir erst alles kaputt machen, um es dann zu reparieren. Aber nicht alles bestand aus Biotech. Und nicht alles kann man reparieren.«
Der Opa hielt einen Moment inne und wappnete sich gegen die Bilder, die jetzt mit Macht aus seinem Gedächtnis ausbrachen. Brennende Geschäfte. Menschen, die sich um einen Laib Brot schlugen. Ein Mann, der seinen nutzlosen Arm verständnislos anstarrte. Die Erinnerung ließ ihn frösteln. Er zog die Decke über seinen Beinen höher und erzählte weiter.
»Nach einiger Zeit bekam man Nahrung nur noch in Verteilstellen. Ich erinnere mich, dass wir irgendwann begannen, Abends Kerzen anzuzünden statt einfach die Lampen anzumachen. Das, was wir zu essen hatten, aßen wir immer sofort, denn die Kühlschränke funktionierten nicht mehr.Meine Frau konnte jahrelang nicht mehr mit ihrer Schwester in Kanada sprechen. Die Beerdigungsunternehmer wurden steinreich.«
Der Junge mit dem Daumen im Mund lehnte sich an eines der größeren Mädchen, das ihm den Arm um die Schultern legte. Gleichzeitig Schutz gebend und Halt suchend.
»Doch der Mensch ist erfindungsreich. In unseren Museen und Bibliotheken fanden wir, was wir zum Überleben brauchten. Bücher und Filme, in denen beschrieben wurde, wie unsere Ururgroßeltern lebten. Dort stand, wie man Energie ohne Biotechs machen konnten. Wie man ohne sie schnell von einem Ort zum anderen kommt. Wie man mit Menschen auf einem anderen Kontinent sprechen kann. Die Menschen waren begeistert und machten den Alten alles nach.«
Seine Stimme wurde plötzlich rauer und noch etwas tiefer, als ihn noch einmal die Bilder von damals überschwemmten. Die skelletierten Bäume, die ihre Äste in den schmutzigen Himmel reckten. Das Bunt der Blumen, dass langsam zu rußigem Schwarz verfaulte.
»Unser Paradies verwandelte sich in die Hölle«, flüsterte er.
»Vater! Hör sofort auf damit. Du machst den Kindern Angst. Wie konntest du nur diese schreckliche Geschichte erzählen?«
In der Tür stand breitbeinig eine junge Frau mit gerötetem Gesicht und zusammengekniffenen Augen. Sie sprach sehr laut.
»Die Kinder haben mich darum gebeten, Tatjana.«
»Und du hattest nichts besseres zu tun, als ihnen deine Schauergeschichten zu erzählen. Schämen solltest du dich.«
»Lass mich die Geschichte bitte zu Ende erzählen. Dann ist immer noch genug Zeit, sich zu schämen.«
Seine Tochter verschränkte ihre Arme und starrte ihn schweigend an. Er konnte ihre Ablehnung fühlen, wie ein heißer Wind, der über ihn strich. Die Köpfe der Kinder gingen zwischen den beiden hin und her.
Er räusperte sich.
»Ich muss Euch ja noch erzählen, wie es mit den Menschen weiterging. Die Kirchen waren jeden Tag voll und Weinhändler verdienten ein Vermögen. Bald sah man wieder gebrechliche und kranke Menschen und die Mediziner arbeiteten rund um die Uhr.«
Der alte Mann schien die Erschöpfung der Mediziner noch einmal zu erleben, er sackte etwas in seinem Sessel zusammen.
»Die Epidemie hat den Mensch etwas wichtiges gelehrt. Er darf niemals etwas reparieren, das nicht kaputt ist. Und die Lektion war hart Kinder, das könnt ihr mir glauben. Kommt einmal näher.«
Die Kinder drängelten sich um den Sessel des alten Mannes, sie wußten, was jetzt kam.
»Die Menschen machen noch eine Sache wieder wie die Alten. Auch unsere Vorfahren machten eine Art Biotech, die schönsten Biotechs, die es gibt. Und wir machen es wieder genauso wie sie. Euch.«
Und er zog unter seiner Decke auf seinem Schoß zwei Hände voll bunter Lollies hervor. Die Kinder rissen ihm die Leckerei aus den Händen und liefen hinaus, das bunte Papier und die Geschichte hinter sich lassend. Opa Wiemers senkte den Kopf. Ein schmerzliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen und eine Träne kroch seine Wange hinab. Seine Tochter kniete sich neben ihn und rieb ihm über den Rücken.
»Warum tust du dir das immer wieder an, Vater?«
Er streckte eine zittrige Hand aus und tastete nach ihrem Gesicht.
»Weil ich nicht vergessen kann, Tatjana«
Er streichelte mechanisch ihr Gesicht.
»Die Kinder müssen wissen, warum die Welt so ist, wie sie ist. Warum sie vergiftet ist und stirbt. Und wir mit ihr. Auch wenn sie Kinder sind. Die Epidemie haben wir überlebt, doch um den Preis der Zukunft der Kinder.«
Er streichelte weiter den Kopf seiner Tochter und dachte an jenes verhängnisvolle Programm, das seinen Namen trug.
 



 
Oben Unten