Puppenspiel

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itsme

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Morgens halb sieben, Vorstadtzug, Raucherabteil ... ratada ratam ... ratada rata, metallisch, rhythmisch, einschläfernd. Schwankendes Gezerre und Geschiebe, quietschen und ächzen der schäbigen Waggons. Da deng da deng ... ein Stoß, quittiert durch kollektives Schunkeln der Insassen ... Beharrungsvermögen, Massenträgheit. Nein, er springt nicht aus der Spur ... nur eine Weiche. Zigarettenqualm, der aus den Sitzreihen wabert, sich mischt mit Düften von Dior, Rasierwasser von Aldi, Knoblauch vom Vortag und Schweißausdünstungen aus Fasern und Poren. Manchmal der Lockruf eines handys ... SMS, zu früh für Gespräche. Verschlossene, verschlafene Minen. Organismen im Minimalbetrieb. Rädchen der Leistungsgesellschaft, bereit wieder einen Schicht lang zu funktionieren. Diesen Tag wie jeden Tag.

Lichter irren durch die Dunkelheit vor den Fenstern. Die Nacht ist noch gnädig. Wenn der Morgen erst graut, sieht sie am greulichsten aus; die Stadt, durch die Fenster des Zuges. Die Abteiltür fliegt auf. Ein kalter Luftzug. Mürrisches Aufblicken. Irgendwer steht auf und schließt sie. Sch... man fröstelt so leicht morgens um halb sieben. City Express Recklinghausen - Duisburg und zurück. Der Zug verlangsamt die Fahrt. Kreischen und rumpeln über viele Weichen, vibrieren der Scheiben in ausgeleierten Fassungen - Gelsenkirchen Bismarck.

Der Hagere da drüben mit dem Blatterngesicht öffnet die Augen, ohne eine weitere Bewegung, ohne Gesichtsausdruck. Seine Arme hängen über der Sporttasche auf seinem Schoß. Die schwieligen Hände mit den schwarz unterlegten, brüchigen Fingernägeln verraten den Handarbeiter. Sein angegrautes, schwarzes Haar strebt struppig von der Kopfhaut weg. Am Revers seiner schwarzen Lederjacke prangt ein gelber Smiley. Ein Optimist oder ein Fatalist? Wird er aussteigen oder öffnet er die Augen immer eine Station bevor er aussteigt? Erkennt er Gelsenkirchen Bismarck an der spezifischen Folge des da deng da deng? Er sitzt immer auf diesem Platz., schon seit es diesen Waggon gibt. Er muß den Tag fürchten, an dem ein Fremder vor ihm das Abteil betritt und sich seines Platzes bemächtigt. Von seinen Mitfahrern ist kein Beistand zu erwarten. Hilflos und desorientiert würde er durch die Abteile irren. Er wird das Undenkbare nicht denken.

Neben ihm eine Lücke. Hat jemand aufgehört zu funktionieren? Es wird wenn Ersatz geben, sollte das Rädchen noch gebraucht werden. Niemand wird von dem Neuen Notiz nehmen. Niemand nimmt von irgendjemand Notiz. Nur davon, dass der Platz unbesetzt ist. Jeder ist beschäftigt mit seiner eigenen Apathie. Daneben Sie, am Fenster, an zwei Seiten vor Übergriffen geschützt, zu alt für die Blockabsätze unter ihren Schuhen, zu dicke Beine für die Länge ihres Rockes, zu spießig die Handtasche für die Piercings in ihrem Gesicht, jedenfalls nach den Maßstäben des gesunden Volksempfindens. Sie liest in einem Paperback. Wird es spannend, strafft sich ihr Körper. Die freie Hand umkrampft die Armlehne, zerrt, reißt sie aus - irgendwann. Um ihren Mund beginnt ein leichtes Zucken. Ihre Lippen öffnen sich. Die sonst züchtig übereinander geschlagenen Beine geraten außer Kontrolle, liegen nebeneinander, öffnen sich, wenn es dramatisch wird. Verstohlen schielt ihr gegenüber dann über den Rand seiner Bild, um einen Blick auf ihren Slip zu erheischen. Sie trägt immer weiße Slips. Nicht das ihn die Frau interessieren würde. Er wäre enttäuscht, trüge sie keinen Slip. Ihre Paperbacks tragen Schutzumschläge aus Zeitungspapier. Sie liest Courts-Mahler. Das will sie verbergen. Ihre Hände sind feingliedrig und gepflegt. Der Hauch von Dior passt zu Courts-Mahler.

Bottrop HBf. Hat Bottrop noch einen anderen Bahnhof? Wenige steigen aus. Was will man auch in Bottrop? Der Zug schleicht sich aus dem Bahnhof, rumpelt über alte Gleise. Viel Personenverkehr gab es hier nie. Die Fernstrecken kommen gut ohne Bottrop aus.

Der Mann hinter der Bild öffnet die zweite Dose Karlskrone. Das macht er mit einer Hand. Die andere braucht er für die Zeitung, den Mund für die Zigarette, und die Beine, um seine Tasche festzuhalten. Darin ist noch mehr Karlsberg. Mit Karlsberg sind die Tage kurzweiliger bei Mannesmann und Dosen sind unauffälliger zu entsorgen als Flaschen. Wenn es keinen Slip zu sehen gibt, schafft er die Bild bis Duisburg. Er würde für seinen Platz auch Zuschlag bezahlen, nur für diesen gelegentlichen Blick. Im Sommer, wenn es schon hell ist draußen und die Sonne scheint, dann lächelt er manchmal bevor er sich setzt. Einmal, vor zwei Jahren, hat sie zurückgelächelt. Er ist ein attraktiver Mann. Noch nicht mal fünfunddreißig Jahre alt. Und er hat noch volles Haar. Beinahe hatte er sie damals gefragt, ob sie ihm nicht einen gebrauchten Slip überlassen kann. Doch dann hatte sie aufgehört zu lächeln. Die Frau neben ihm trägt immer lange Röcke. Gut, dass nicht sie ihm gegenüber sitzt. Zwischen Bottrop und Oberhausen fährt der Zug oft schleppend langsam. Oberhausen ist zwar auch nur ein langweiliges Nest, aber dort gibt es Fernverkehr, und der hat Vorfahrt. Es beginnt hellgrau zu werden draußen. Hell wird es nicht an einem regenkalten Novembertag. Die hässlich grauen Rückseiten der Häuser zeichnen sich ab. Alle hässlichen Rückseiten, überall, sind den Bahnlinien zugewandt.

Die Frau neben dem Karlskrone Mann sitzt nur da. Sie ist nicht anwesend. Nicht wirklich, nur ihr Körper notgedrungen. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß und sie bleibt entfernt, in einer Welt, die ihr lebenswerter erscheint. Sie hat sich behaglich eingerichtet dort im Laufe der Jahre. Immer häufiger verwechselt sie ihre zwei Wirklichkeiten. Sie verschwimmen einfach. Bald wird sie ganz umziehen. Der Karlskrone Mann mag sie nicht. Nicht nur wegen der langen Röcke. Auch ihre blasse Haut, ihre dunkel geschminkten Augen und ihre schwarzen Lippen, sind nicht nach seinem Geschmack. Immer nach der Abfahrt aus Oberhausen dreht sie sich eine Zigarette, Van Nelle ist ihre Marke. Mit einer Hand macht sie das. Er könnte schwören auf ihrem Schoß schon eine schwarze Katze gesehen zu haben.

Endstation Duisburg HBf. Die verbliebenen Fahrgäste verlassen den Zug, und trotten ihrer Funktion entgegen. Die Gemeinschaft der Sprachlosen Rädchen löst sich auf. Dem Lokführer bleibt Zeit für einen Kaffee und ein Brötchen. Dann fährt er zurück nach Recklinghausen. Und bestimmt werden in dem Abteil wieder ein Mann mit schwieligen Händen, eine üppige Blonde, die auffällig gepierct ist, ein Karlskrone Mann, und eine blasse Frau mit langem Rock sitzen, wie jeden Morgen und überall.
 
M

margot

Gast
klar, in unserem tagewerk sind wir alle puppen.
dein text ist geschrieben wie manche geschichte
aus meinen alten lesebüchern. um es kurz zu machen:
er wirkt streckenweise zu bemüht. darum unattraktiv
auf mich. der spaß an sprachwendungen darf den
schreiber nicht zu gedrängter anwendung verführen.
das kommt einem bergsteigerneuling gleich, der
verliebt in seine ausrüstung, sich an den aufstieg
macht - wenn er der gipfelregion nahe kommt, wird
er alsbald merken, was von seiner materialverliebtheit
wirklich von nutzen ist.

viel glück beim nächsten anlauf
ralph
 

itsme

Mitglied
....

Danke für eure Kommentare.

@anemone
Die Antwort hat dir margot bereits gegeben.

@margot
Du denkst, es ist zu verspielt? Hmmm ... Ich wollte einerseits deutliche Bilder, aber andererseits das Profane der Situation spürbar machen. Das ist eine Gratwanderung. Eigentlich bleibe ich in meinen Texten lieber auf der Seite des Lapidaren, der Beiläufigkeit.


Grüßlinge
itsme
 



 
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