Rammstreit

Tillmania

Mitglied
Rammstreit

Sie stolperten in den dämmrigen kleinen Raum. Die Tür fiel hinter ihnen zu, wurde aber nicht verriegelt, doch das interessierte sie nicht. Ihre einzige Aufmerksamkeit galt den beiden Menschen, die sich auch hier befanden. Die beiden Menschen, denen sie eines der wichtigsten Dinge im Leben geraubt hatten. Die sie viel stärker verletzt hatten, als sich irgendjemand je vorstellen konnte. Sie wussten nicht, was tun. Wie sollten sie nur jemals wieder gutmachen, was sie ihren Freunden angetan hatten? Durften sie sich überhaupt noch als ihre Freunde bezeichnen?
Till entschloss sich, den ersten Schritt zu machen. Er fühlte sich am schuldigsten von den vieren. Er konnte einfach nicht vergessen, wie es sich angefühlt hatte, auf Richard einzuschlagen. Immer und immer wieder. Und vor allem konnte er seinen Blick nicht vergessen. Dieser unglaublich verletzte und traurige Ausdruck in seinen Augen. Till wusste, es würde nie wieder so sein, wie es vorher gewesen war. Er ging langsam auf die beiden Gitarristen zu. Paul hatte nicht aufgesehen, als die Tür aufging. Er saß an einer Wand gelehnt da, Richards Kopf in seinem Schoß. Immer wieder strich er ihm sanft durch die Haare, streichelte seine Arme und Schultern, um seinen Freund und auch sich selbst zu beruhigen. Er nahm die Schmerzen schon gar nicht mehr bewusst wahr. Er wusste, dass es Richard noch schlimmer erwischt hatte als ihn selbst. Schließlich war er immer „nur“ von Christoph und Flake verprügelt worden. Und auch seine Hände hatten weniger zu leiden gehabt. Till und Olli hingegen hatten sich immer an Richard gehalten und die waren nun mal kräftiger. Sie hatten mehr Kraft, um zuzuschlagen und um...Knochen zu brechen.
Paul schüttelte den Kopf. Er bemerkte nicht, wie ihm schon wieder die Tränen über das Gesicht liefen. Er bemerkte auch nicht, dass Till inzwischen immer näher gekommen war. Erst als der Sänger vor ihm kniete, schaute er hoch. Dann sagte er mit erschreckend kalter Stimme: „Na? Habt ihr immer noch nicht genug?“„Paul ich, wir...“, setzte Till an, wurde jedoch rüde unterbrochen: „Spar dir den Atem. Ich glaube nicht, dass du irgendetwas zu sagen hast, was hier und jetzt von Bedeutung wäre.“Er sah den Sänger an. Der senkte den Blick, er konnte es einfach nicht ertragen in diese kalten, anklagenden Augen zu sehen, die einem Menschen gehörten, dessen Vertrauen er wohl endgültig verloren hatte. Und nicht nur das Vertrauen hatte er verloren. Auch die Freundschaft war weg, eine jahrelange Freundschaft, und Till kamen die Tränen der Verzweiflung, als er daran dachte, was sie alles kaputt gemacht hatten.
Paul bemerkte mit einigem Erstaunen die nassen Augen seines eigentlichen Freundes und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass vielleicht doch nicht alles so gewesen war, wie es auf den ersten Blick schien. Wieder hörte er Tills Stimme: „Paul, hör zu...bitte! Es tut uns ja so leid, das musst du uns glauben, bitte...“ Paul sah ihn einfach nur an. Mittlerweile waren auch die anderen drei näher gekommen, doch keiner von ihnen brachte ein Wort heraus. Zu traurig war für sie der Anblick der beiden Menschen, die seelisch und körperlich verletzt sich aneinandergeschmiegt hatten und sich gegenseitig Trost und Halt zu geben schienen. Immer noch streichelte Paul Richard, der nur durch seine bloße Anwesenheit Paul beruhigte und gleichzeitig von ihm ebenfalls eine gewisse Beruhigung erfuhr. „...haben das nicht gewollt. Wir hatten keine andere Wahl, das musst du uns glauben, bi...“„Erzähl das nicht mir, sondern ihm!“, unterbrach Paul kalt die Erklärungsversuche Tills und deutete mit den blauen Fingern auf seinen Freund, der die ganze Zeit über keine Regung gemacht hatte. Richards Augen waren geöffnet, er starrte die Decke an. Er reagierte in keinster Weise, als das „Gespräch“ auf ihn kam, erst als Till ihn vorsichtig am Arm berühren wollte, änderte sich das.
Richard zuckte zurück, als hätte er einen Schlag bekommen und drängte sich näher an Paul. „Fass mich nicht an!“, fauchte er und Till zog die Hand zurück. Seine Tränen flossen reichlicher, doch sie taten es still. Richard sah den Sänger nicht an, er mied auch den Blickkontakt zu den anderen, er konzentrierte sich lieber auf die sanften Berührungen seines Freundes.
„Richard? Hörst du mir zu? Bitte!“, versuchte Till es noch einmal.
„Ich wüsste nicht, warum ich dir zuhören sollte.“, kam es da abweisend. Richard und Till lief ein kalter Schauer über den Rücken. So hatte sein Freund noch nie mit ihm gesprochen! Aber eigentlich war es doch auch logisch, oder? Nach allem, was passiert war...Till seufzte, er wusste nicht, was er machen sollte. „Verschwindet!“, hörte er dann auf einmal von Richard. Till war so schockiert von diesem einem kalten Wort, dass er sogar zu weinen aufhörte. „Was hast du gesagt?“, fragte er dann, nur, um irgendetwas zu sagen. Er konnte es einfach nicht fassen, obwohl diese Reaktion ja eigentlich nur zu verständlich war.„Du hast ihn schon verstanden.“, meinte Paul daraufhin, immer noch mit diesem kalten, harten Ausdruck in den Augen. „Ihr sollt gehen. Die Tür ist schließlich nicht abgeschlossen, oder?“ Nun ließ sich Till endgültig zu Boden sinken. Er sah keinen Ausweg aus dieser Situation. Hilflos sah er zu den anderen, doch die schienen genauso ratlos zu sein, wie er. Zum ersten Mal weinte er laut. Er brach geradezu zusammen. Olli kam zu ihm, nahm ihn in die Arme, während ihm selber auch die Tränen über das Gesicht liefen. Till klammerte sich an den Bassisten, als ob sein Leben davon abhinge und ließ seinen angestauten Gefühlen und Gedanken freien Lauf: „Wir hätten das nicht tun dürfen. Niemals! Das war nicht richtig...das war einfach nicht richtig! Wie konnten wir das nur tun? Wie konnten wir nur?“
Olli versuchte ihn zu beruhigen: „Aber wir hatten doch keine Wahl, verdammt! Wir...“„So ein Schwachsinn!“ Till wurde wütend. Wütend auf sich selbst. Wütend auf die Leute, die sie zu diesen Taten gezwungen hatten. „Man hat immer eine Wahl! Immer!“„Aber was hätten wir denn sonst tun sollen? Die beiden einfach sterben lassen?“„Ich weiß es nicht.“, flüsterte Till daraufhin, „Ich weiß es einfach nicht...“
Die beiden Gitarristen hatten den Ausbruch mit gemischten Gefühlen verfolgt. So wirklich wussten sie nicht, was sie davon halten sollten. Christoph konnte es schließlich nicht mehr länger mit ansehen und entschloss sich zu einem letzten Versuch. Er ging langsam auf Paul und Richard zu, die sich beide näher aneinander drängten. Er seufzte, als er neben all der Verletztheit in ihren Augen auch noch Angst entdeckte, dann ließ er sich neben Paul an der Wand hinunter gleiten, lehnte den Kopf dagegen und wartete. Worauf er wartete, wusste er nicht, er wusste ja nicht einmal, was er sagen sollte. Paul seinerseits sah den Drummer einfach nur an. Ein fragender Ausdruck hatte sich in seine Augen geschlichen. Irgendwie passte das alles überhaupt nicht zusammen. Dieser Nervenzusammenbruch von Till passte überhaupt nicht zu der rasenden Wut, der er noch vor zwei Stunden an den Tag gelegt hatte. Sicher, es konnten auch Schuldgefühle eine Rolle spielen, aber so starke? Da war doch irgendetwas faul. Und warum hätten er und Richard sterben sollen? Das war ihm neu. Obwohl er sich eingestehen musste, dass die Möglichkeit zumindest für Richard ziemlich verlockend war. Wieder kam in Paul die Wut hoch. Ihre vermeintlichen „Freunde“ hatten Richard das genommen, was seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Er würde nie wieder spielen können, das wusste Paul und was ihn selbst betraf, sah es nicht besser aus. Und er wusste auch, dass sie es darauf angelegt hatten. Natürlich hatten sie das! Paul wurde es zuviel. Er wusste nicht, woher er die Kraft dazu nahm, aber irgendwie schaffte er es, Richards Kopf vorsichtig auf den Boden zu legen und dann aufzustehen. Er spürte die Blicke seines Freundes im Rücken, der sich aufgesetzt hatte und ihn anstarrte, er spürte auch die Blicke der anderen, doch er ignorierte beides. Er wusste nicht, an wen er sich nun halten sollte, doch als er Till vor sich sitzen sah, der immer noch haltlos schluchzte, hatte er ein Opfer gefunden. Er wusste nicht wie, doch bevor er sich versah, hatte er dem Sänger einen Fußtritt verpasst, der diesen über den Boden schlittern ließ. Völlig verwirrt blinzelnd richtete Till sich auf, doch da war schon ein sehr, sehr wütender Gitarrist über ihm und schlug immer wieder auf ihn ein. Die Schläge waren nicht besonders hart, trotzdem wehrte Till sich nicht. Er konnte es einfach nicht. Er hielt es nur für gerecht, dass Paul ihn angriff, warum sollte er sich dann wehren? Er wusste nicht, dass er es damit dem Gitarristen nicht gerade einfach machte. Paul fragte sich die ganze Zeit über, warum der Sänger keine Regung machte. Allerdings stachelte das seine Wut nur noch mehr an. ‚Verdammt, warum wehrt er sich nicht?’, ging es ihm durch den Kopf.Irgendwann verließen ihn die Kräfte, er brach erschöpft zusammen und blieb neben Till liegen. Er spürte einen Schatten auf sich fallen und sah mühsam hoch. Richard kniete neben ihm, strich ihm beruhigend durch die Haare und redete sanft auf ihn ein.
„Hey hey Kleiner...“, meinte er leise. Paul hasste es, wenn Richard ihn so nannte. „Reg dich nicht so auf, ja? Das sind sie nicht wert...“Paul nickte nur, dann richtete er sich mühsam auf, wobei sein Bandkollege ihn stützte und lehnte sich erschöpft und zitternd an eine Wand. Dann zog er Richard zu sich heran und dieser legte bereitwillig seinen Kopf in den Schoß des anderen Gitarristen und ließ sich streicheln. „Ich bin nicht klein.“, flüsterte Paul mit einem leichten Lächeln. „Ja...“, flüsterte Richard zurück, „Ich weiß...“ Die anderen vier konnten kaum glauben, was sie da gerade erlebten. Es hatte sich in den letzten Tagen eine Art der Verständigung und des Verständnisses zwischen den beiden herausgebildet, die schwer zu begreifen oder in Worte zu fassen war. Paul und Richard mussten eigentlich keine Worte mehr austauschen, im Normalfall genügte ihnen mittlerweile eine Bewegung oder nur ein Blick und sie wussten, was der jeweils andere wollte oder meinte. Es war das Einzige, was ihnen noch geblieben war. Sie hatten nur noch sich selbst. Sie hatten nur noch einander. Und das war gleichzeitig ihr Schutzschild geworden. Ihr Schutzschild gegen das, was ihnen alles angetan wurde, eine Barriere, die niemand, nicht einmal ihre eigentlich besten Freunde mehr zu überwinden vermochten.„Richard? Paul?“, fragte Till unsicher. Er hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet, ihm war nicht viel passiert. Paul war schlicht und einfach zu schwach gewesen, um in ernsthaft zu verletzen.
„Was ist denn noch?“, meinte Paul ziemlich genervt und Richard fragte einfach nur kalt: „Na? Endlich fertig mit Heulen?“ Die vier Rammsteiner zuckten zurück, die Frage des Gitarristen war mehr als nur ein Schlag für sie. Sie konnten einfach nicht glauben, wie stark er sich in diesen letzten paar Tagen verändert hatte. Gut, eigentlich war es ja abzusehen gewesen, aber dass es so extrem sein würde...darauf wären sie nie im Leben gekommen.Till setzte trotzdem wieder an: „Jungs ihr...ihr müsst uns das glauben...“ „Wir müssen überhaupt nichts!“ Am liebsten wäre Till vor seinem jahrelangen Freund geflüchtet. Für ihn fühlte es sich so an, als würde die Temperatur in Richards Umgebung um zehn Grad absacken, so kalt hörte er sich an.„Aber wir haben...“„Das alles nicht gewollt, soweit waren wir schon mal.“, mischte sich jetzt auch Paul wieder ein. „Du wiederholst dich, mein Lieber. Habt ihr noch irgendetwas zu sagen, was wir noch nicht kennen? Wenn nicht, dann könnt ihr verschwinden.“„Ja aber...aber“, stotterte Till vor sich hin, dann wurde er allerdings laut: „Wollt ihr denn gar nicht wissen, WARUM DAS ALLES PASSIERT IST?“„Ach, und das macht die Sache dann besser, ja?“, entgegnete Richard ruhig. Er wirkte so unendlich kalt. Gefühllos. Und irgendwie unerreichbar, außer vielleicht noch für Paul. Und so ähnlich war es auch. Der Sturm in seinem Innern hatte sich gelegt. Eine ruhige Annahme der Dinge, die geschehen waren, hatte sich bei ihm eingestellt. Er benötigte keine Erklärungsversuche. Er hatte sich seine Meinung gebildet, sein Urteil gefällt, für ihn bestand absolut kein Redebedarf mehr.„Das weiß ich nicht!“ Till wurde es langsam zu viel. Die Trauer schlug langsam aber sicher in Wut um. „Ich weiß nur, dass wir euch verdammt noch mal versucht haben, das Leben zu retten!“„Ach, tatsächlich?“ Richards Stimme, obwohl genauso ruhig wie zuvor, troff nun vor Ironie.
„Ja! TATSÄCHLICH!“ Jetzt war Till richtig wütend.„Du musst nicht schreien, ich verstehe dich auch so sehr gut.“ Es war unglaublich. Richard schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Und das brachte Till natürlich erst richtig auf die Palme. „RICHARD ZVEN KRUSPE, DU BIST EIN VERDAMMTES EGOISTISCHES ARSCHLOCH!“
Sie zuckten alle zusammen – mit einer Ausnahme. Der schwarzhaarige Gitarrist richtete sich vorsichtig auf. „Danke!“, meinte er mit der leisen Andeutung eines eiskalten Lächelns auf den Lippen. „Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf...“Till konnte nicht mehr. Er war wieder wütend. So unglaublich wütend wie er schon lange nicht mehr gewesen war, nicht einmal vor ein paar Stunden, als er noch auf seine Freunde einprügeln musste. Er packte Richard am Kragen und schleuderte ihn gegen die Wand, doch bevor der Schwarzhaarige durch die Wucht des Aufpralls zusammenbrechen konnte, hielt ihn der Sänger mit der einen Hand an der Schulter fest und holte mit der anderen weit aus, um zuzuschlagen.
„TILL!“ Die anderen drei waren einfach nur schockiert gewesen, doch jetzt wollten sie durchaus eingreifen. Der Einzige, der sich überhaupt nicht geregt hatte, war Paul. Er sah immer wieder von einem zum anderen, als müsste er erst einmal verarbeiten, was gerade geschah. Doch der Eindruck täuschte. Er wusste, dass er nicht eingreifen brauchte und das auch gar nicht sollte. Richard hatte es ihm mit einem einzigen Blick zu verstehen gegeben und er hatte denselbigen erwidert. Sie verstanden sich eben. Jetzt hob Richard die freie Hand, um seine restlichen Bandkollegen am Eingreifen zu hindern. Interessanterweise verstanden sie auch sofort und blieben stehen.Richard fixierte Tills Augen. Der Sänger zögerte. Was tat er da gerade? Richards Mundwinkel zuckten leicht nach oben, wieder umspielte dieses feine hintergründige Lächeln seine Lippen. „Und jetzt?“, fragte er dann. „Willst du wieder zuschlagen? Na los! Mach schon! Auf ein paar Schläge mehr oder weniger kommt es ja eh nicht mehr an, oder?“
Till zögerte immer noch. In seinem Kopf herrschte gerade eine riesige Leere. Immer wieder trieb ihm nur eine Frage durch den Sinn: Warum?
„Mach schon, Dicker! Schlag endlich zu, ich hab es ja anscheinend verdient, meinst du nicht auch?“ Und wieder brannten bei dem Sänger die Sicherungen durch. Er rammte dem Gitarristen mit voller Wucht die Faust in die Brust. Richard krümmte sich zusammen und keuchte, als ihm von dem Schlag die Luft wegblieb, durch Tills eisernen Griff blieb er allerdings aufrecht stehen. Mühsam hob er den Kopf. Als er jedoch sprach, war seine Stimme genauso kalt und emotionslos wie schon zuvor. „Ich will dir mal was sagen, mein Lieber. Mir ist es ehrlich gesagt scheißegal, warum hier irgendetwas passiert ist und was ihr für Gründe hattet! Denn die hattet ihr und es müssen gute Gründe gewesen sein, zumindest am Anfang. Da habt ihr die Nummer nämlich noch unfreiwillig abgezogen, das hat man euch angemerkt. Aber weißt du, was dann passiert ist? Ihr habt angefangen, euch zu verändern, ganz langsam erst nur und dann immer schneller. Und irgendwann hat es euch Spaß gemacht, hab ich recht? Es hat euch Spaß gemacht, euren Frust auf uns und an uns abzulassen. Vor allem dir, Till. Ich hab es in deinen Augen gesehen. Ich weiß zwar nicht, was Paul und ich euch in den letzten Jahren so Schlimmes angetan haben, Fakt ist aber, dass ihr Gefallen daran gefunden hattet, uns zu verprügeln.“ Sie starrten ihn an, nach dieser, für seine jetzigen Verhältnisse, sehr langen Rede.Till taumelte zurück, wodurch Richard an der Wand hinunterrutschte und schließlich in sich zusammensackte. Paul kroch zu ihm, nahm ihn in die Arme und streichelte ihn. Der Kleinere hatte gewusst, dass es zu dieser Auseinandersetzung kommen würde und er selbst hätte es nicht besser ausdrücken können. Sie ignorierten die starrenden Blicke der anderen, beide hatten mittlerweile die Augen geschlossen. Sie hatten schon vor Tagen ein vages Abkommen miteinander getroffen und in diesen letzten Minuten waren sie sich sicher, dass sie sich auch daran halten würden.„Sag mal Till, bist du jetzt völlig verrückt geworden?“ Christoph sah aus, als würde er dem Sänger, der immer noch perplex da stand, am liebsten eine runterhauen wollen. Der Angesprochene schaute nachdenklich auf die beiden Gitarristen, die sich noch dichter aneinander geschmiegt hatten, die Augen geschlossen, sich gegenseitig sanft streichelnd. Till dachte über das nach, was Richard gesagt hatte. Und schließlich kam er für sich nur zu einem einzigen Schluss.
„Ja...“, sagte er so leise, dass es kaum zu verstehen war.
„Was ‚ja’?“, hakte Christoph nach, aber eigentlich wollte er die Antwort auf seine Frage gar nicht wissen. Er meinte sie schon zu kennen. Trotzdem konnte er nicht anders, er musste einfach nachsetzen. „Du meinst, dass Richard recht hat? Es hat dir Spaß gemacht?“ Und als er ein Nicken zur Antwort erhielt, wurde er lauter: „Das ist nicht wahr! SAG MIR, DASS DAS NICHT WAHR IST!“„TU DOCH NICHT SO!“ Till war ebenso aufgebracht wie Christoph. „Du weißt ganz genau, dass das stimmt! Bei euch war es doch genauso. Also hör auf nur mir Vorwürfe zu machen!“
Nun war es an dem Drummer entsetzt zurück zu weichen. „Nein!“, murmelte er leise vor sich hin. „Das ist nicht wahr...“
Till ignorierte ihn und kniete sich zu den beiden Gitarristen. Die reagierten überhaupt nicht mehr. Auch das Streicheln hatten sie eingestellt. Till befürchtete schon das Schlimmste und fühlte vorsichtig Richards Puls. Innerlich hoffte er, dass er genauso wie vorhin reagierte, zurückzuckte und ihn anfauchte. Doch nichts dergleichen geschah. Till sah seine schlimmsten Vermutungen bestätigt, als er fühlte, dass Richards Puls nur noch sehr unregelmäßig und schwach schlug. Bei Paul war es nicht anders, nur wurde der unter der Berührung noch einmal wach. Mühsam hielt er die Augen offen und sah Till mit einem undefinierbaren Blick an.
„Tschuldigung...“, meinte Till schuldbewusst. „Ich wollte dich nicht wecken...“ Immer noch dieser Blick. Till sah ihm direkt in die Augen, obwohl er am liebsten den Kopf gesenkt hätte. „Ihr braucht dringend Hilfe!“, sagte er dann entschlossen, definierte allerdings nicht näher, wie genau diese Hilfe aussehen sollte. „Können wir noch irgendetwas tun, bevor...?“ Er ließ den Rest seiner Frage unausgesprochen in der Luft hängen. Paul verstand ihn trotzdem. „Ja, könnt ihr.“, sagte er dann. „Ihr könnt gehen.“ Paul wusste, dass für Richard jede Hilfe zu spät kam, er spürte ganz deutlich die unregelmäßigen Herzschläge seines Freundes. Bald würde er nicht mehr leiden müssen. Und was ihn selbst betraf, wusste er, dass es für ihn wohl auch bald zu Ende sein würde. Warum sich also etwas vormachen? Er sah in die verständnislosen Gesichter von Olli, Flake und Christoph. Sie verstanden es nicht. Sie verstanden IHN nicht. Sie verstanden sie beide nicht. Er wollte diese letzten Augenblicke mit Richard allein sein, wenn „es“ geschah. Und er war sich sicher, dass Richard das genauso sehen würde. Danach konnte ihnen sowieso alles egal sein.
Er sah wieder zu Till und bemerkte zu seiner Überraschung eine stille Akzeptanz in seinem Gesicht. Die gleiche stille Akzeptanz, die sich zuerst bei Richard und später auch bei ihm breitgemacht hatte.
Till schloss die Augen. Eine einsame Träne kullerte ihm über die Wange. Und dann, einem plötzlichen Impuls folgend, strich er Richard noch einmal sacht durch das Haar, streichelte sie sanft, strich leicht über die Verletzungen, die er seinem Freund zugefügt hatte, als wollte er sie wegstreicheln. Pauls Hand zuckte kurz, dann ließ er Till gewähren.
In dem Moment als Till Richard wieder über den Kopf strich, atmete der Schwarzhaarige noch einmal tief ein. Und dann, nach einer kleinen Ewigkeit, in der es schien, dass Richard tatsächlich noch um sein Leben kämpfte, atmete er ein letztes Mal aus. Mit einem leisen Seufzer entwich die Luft aus seinen Lungen durch die leicht geöffneten Lippen, die ein friedliches Lächeln umspielte. Paul begegnete Tills Blick, in seinen Augen glitzerte es. Der Sänger sah ihn noch kurz an, dann verstand er und erhob sich. Er ging auf die anderen zu. „Kommt.“, meinte er leise. „Wir gehen.“
Sie sahen ihn einfach nur an, teils verstört, teils verständnislos. Schließlich riss sich Olli von dem traurigen Anblick los und öffnete die Tür. Sie konnten nichts mehr tun. Absolut gar nichts mehr. Sie hatten ganzen Arbeit geleistet. Sie hatten versagt. Sie wollten gerade gehen, da drehte Till sich um und schaute Paul ein letztes Mal in die Augen. „Es tut mir wirklich leid, das solltet ihr trotzdem wissen. Es tut uns allen leid.“
„Ja.“, erhielt er leise als Antwort. „Ja, uns auch.“ Till wandte sich zum Gehen. Er schaute nicht noch einmal zurück. Als Letzter verließ er den Raum. Die Tür fiel langsam fast in Zeitlupe zu.Paul kuschelte sich an Richard und legte seinen Kopf auf dessen Brust. Er vermisste die ruhigen Herzschläge seines Freundes, die er immer gefühlt und gehört hatte, wenn sie schliefen, doch Richards Körper war noch warm und wenn er sich auf seinen eigenen unregelmäßigen Herzschlag konzentrierte, konnte er sich fast einbilden, er hörte Richards sanfte Stimme in seinen Gedanken, sein Lachen, er sah in seine sanften Augen und er lächelte. Die Tür fiel langsam endgültig zu. Eine tiefe Entspannung breitete sich in Paul aus und als sich die Tür endgültig schloss, schloss auch er die Augen. Sie sollte nie wieder geöffnet werden.

Ende
 



 
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