Rentneraufstand

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HajoBe

Mitglied
Er hat sich noch einmal aufgerafft, weißhaarig, mit wachem etwas tränenverwaschenem Blick, der alte Mann der Fischer-Chöre, und eine Untergruppierung gegründet:
Die "Singgemeinschaft altersarmutbedrohter Rentner" - kurz SaR.

Das Programm steht unter dem Motto: "Abgesang vom Arbeitsleben", in Moll natürlich.
Beitragsfrei kann jeder Arbeitsjubilar mit Niedrigstrente in Höhe der 688 Euro monatlich, nach mindestens 35-jähriger Berufstätigkeit oder ebenso langer Arbeitslosigkeit oder -unlust, Mitglied werden. Gefragt sind alle Tonlagen, vorzüglich mit klagendem Unterton. Geplant sind öffentliche Auftritte vor Ministerien, Rathäusern und anderen Einrichtungen politgesteuerten Überlebens, möglichst beobachtet vom aufmerksamen Auge der Presse oder der TV-Linse.
Publikumswirksamkeit ist oberstes Gebot der gesanglichen Darbietung der Klagelieder vom Ende des Arbeitslebens enttäuschter und um eine ausreichende Lebensgrundlage betrogener Rentner.
Natürlich ist ein angemessenes Outfit der Choristen vorgeschrieben: Klamotten aus Re-Importen von Kleiderspenden in Drittländer, möglichst mit unübersehbaren Gebrauchsspuren als Markenzeichen für sozialstaatlich inaugurierte Altersarmut.
So gerüstet stehen sie Transparente schwingend auf Plätzen und Straßen und ich darf Zeuge sein eines dieser anklagenden Auftritte.

"Salve res publica socialis! Morituri te salutant!", klingt es sinngemäß aus tausend verbitterten Alterskehlen. Und:
"Wofür im Leben wir geschafft, wird uns im Alter weggerafft!", lässt sich die erste Strophe vernehmen.
Ein greiser Dirigent steht auf einer Apfelsinenkiste und schwingt den Taktstock zum (An)-Klagelied.
Dann wird es still. Auf dem Balkon des Arbeitsministeriums öffnet sich verheißungsvoll eine Tür. Ein Volksvertreter - mehr oder weniger demokratisch gewählt - tritt vor die Protestler.
"Sehr verehrte, altersarmutbedrohte und Niedrigstrenten beziehende Mitbürger der bundesrepublikanischen Nachkriegs-Wiederaufbau-Generation...", die Worte gehen im wütenden Aufschrei der Jubilare unter. Wahrlich keine Jubelschreie!

Neben mir bemerkt Einer:
"Wenigstens sind wir <Sehr verehrte...>. Dennoch raubt man uns die Ehre."

Der Redner fährt fort:
"Ich verstehe - (schon beginnt die erste Lüge)- Ihren Unmut und Ihre Ängste. Aber wir haben wie immer vorgesorgt. Niemand soll hungern. Schließlich gibt es vom Staat subventionierte Suppenküchen..."
Tobendes Gebrülle - und man wollte doch singen.

"Und wer die Miete nicht mehr bezahlen kann, dem bieten wir Unterkunft in Zeltlagern, konzentriert vor den Stadtmauern..."

"Pfui!", der Aufschrei. Zwischenrufe:
"Lager...konzentriert...das hatten wir schon einmal mit tödlichem Ausgang. Damals <machte Arbeit(angeblich)frei>. Ihr wollt die Rentner weg haben..."

"Frühzeitiger Rentnertod - für die Kassen Morgenrot!", so steht es auf einem anderen Transparent.

Aus Seitenstraßen nähern sich Jugendliche. Plakate. Ich lese:
"Die Rentner fressen uns die Haare vom Kopf."
Aha, bei Neo-Nazis haben sie schon damit angefangen, denke ich mir.

Die Szene beginnt bedrohlich auszuarten. Sozialstaatliches Versagen hetzt die Menge aufeinander. Der Redner hat sich längst zurückgezogen hinter dichte Gardinen und seine dampfende Kaffeetasse.
Der Generationenkonflikt nimmt augenscheinliche Formen an. Der Staat führt Regie. Schlecht bezahlte Polizeikräfte - die Altersarmut bereits im Hinterkopf - greifen besänftigend ein. Lieder und Proteste verstummen. Die SaR zerstreut sich. Manche gehen in die Kneipe. Für ein kleines Pils reicht es gerade noch.
Setze mich an einen Tisch neben die Anderen.

"He, Paul, letzter Tag heute im Blaumann...?"
"Ja, ab morgen Survival-Programm."
"Warst du schon bei der AfS?"
"Was ist das?"
"Agentur für Schwarzarbeit. Nennt sich auch Rentenaufstockungsprogramm mit eingeschränkter Überlebensgarantie."
"Und was vermitteln die?"
"Na, Babysitter für gleichgeschlechtliche Paare, Bordell-Catering, Gartenarbeit bei Fußball-, Bank- und Manager-Millionären, schweizerischen Steuerhinterziehern usw. Eben Grauzonenbeschäftigung."
"Klingt gut."
"Ja, keine Steuern oder Sozialabgaben. Völlig freier Arbeitsmarkt einer rentnergeprägten Parallelgesellschaft."
"Und wenn du krank wirst?"
"Dann zahlt die Kasse nur noch für Bagatellleiden den Mindestsatz. Müssen ihre Rücklagen steigern. Ernste Krankheiten überlässt man ihrem Schicksal, immer in der stillen Hoffnung: Das kann doch nicht gut gehen..."
"Lohnt es sich dann noch zu leben?"
"Darüber wagt von Denen-da-oben bisher noch keiner zu spekulieren. Obwohl...volkswirtschaftlich gesehen eine Option, oder?"

Ist still geworden am Tisch. Nachdenkliche Gesichter. Die Ersten verabschieden sich.Notenblätter eingesteckt. Ein kleines Pils etwas wenig, um diesen verdammten Unmut runterzuspülen.
Aber sie werden wiederkommen. Singen - und die Lieder werden lauter werden.
 
U

USch

Gast
Hallo HaJoBe,
bei den Inuits gehen/gingen die Alten ja freiwillig ins Eis, wenn sie nur noch durchgefüttert werden mussten (ich weiss nicht ob sie das heute noch tun), aber wir haben ja Frau von der Leyen. Die leyert das schon zurecht.
LG Uwe
 

Maribu

Mitglied
Hallo Hajo Be,

Glückwunsch, dass du den Text unter "Kurzgeschichte" und nicht unter "Satire" `reingestellt hast!
Du sprichst mir aus der Seele!!!
Es werden aber wohl nur wenige ihn zu würdigen und zu bewerten wollen. - Erotisches, Horror und Science-Fiktion sind doch viel spannender! Vor der Realität soll man doch lieber die Augen schließen! Wenn man sich wirklich darüber Gedanken macht, bekommt man nur Magengeschwüre oder einen Herzinfarkt!
Von mir bekommst du 10 Punkte. Wenn die unter "anonym" angezeigt werden, liegt das an disem seltsamen System!

Herzliche Grüße
Maribu
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Maribu, danke für deine positive Kritik. Ja, die sozialkritischen Themen sind nicht die gefragtesten. Vielleicht liegt es daran, dass wir sie zur Genüge tgl. in Fernsehen, Radio und Zeitung um die Ohren geschlagen bekommen. Aber es lohnt sich dennoch darüber nachzudenken.
Lieben Gruß HajoBe
 

HajoBe

Mitglied
Hallo Uwe, danke für deinen Kommentar. Ja, mal sehen was die Gute draus macht, habe keine sonderliche Hoffnung.
LG
HajoBe
 

raineru

Mitglied
Ahhh!

Dein Text ... ein Silberstreif am westlichen Horizont.
Doch leider kann er nicht schimmern weil die Sonne schon untergegangen ist oder wegmanipuliert wurde.

rainer
 

HajoBe

Mitglied
Er hat sich noch einmal aufgerafft, weißhaarig, mit wachem etwas tränenverwaschenem Blick, der alte Mann der Fischer-Chöre, und eine Untergruppierung gegründet:
Die "Singgemeinschaft altersarmutbedrohter Rentner" - kurz SaR.

Das Programm steht unter dem Motto: "Abgesang vom Arbeitsleben", in Moll natürlich.
Beitragsfrei kann jeder Arbeitsjubilar mit Niedrigstrente in Höhe der 850 Euro monatlich, nach mindestens 35-jähriger Berufstätigkeit oder ebenso langer Arbeitslosigkeit oder -unlust, Mitglied werden. Gefragt sind alle Tonlagen, vorzüglich mit klagendem Unterton. Geplant sind öffentliche Auftritte vor Ministerien, Rathäusern und anderen Einrichtungen politgesteuerten Überlebens, möglichst beobachtet vom aufmerksamen Auge der Presse oder der TV-Linse.
Publikumswirksamkeit ist oberstes Gebot der gesanglichen Darbietung der Klagelieder vom Ende des Arbeitslebens enttäuschter und um eine ausreichende Lebensgrundlage betrogener Rentner.
Natürlich ist ein angemessenes Outfit der Choristen vorgeschrieben: Klamotten aus Re-Importen von Kleiderspenden in Drittländer, möglichst mit unübersehbaren Gebrauchsspuren als Markenzeichen für sozialstaatlich inaugurierte Altersarmut.
So gerüstet stehen sie Transparente schwingend auf Plätzen und Straßen und ich darf Zeuge sein eines dieser anklagenden Auftritte.

"Salve res publica socialis! Morituri te salutant!", klingt es sinngemäß aus tausend verbitterten Alterskehlen. Und:
"Wofür im Leben wir geschafft, wird uns im Alter weggerafft!", lässt sich die erste Strophe vernehmen.
Ein greiser Dirigent steht auf einer Apfelsinenkiste und schwingt den Taktstock zum (An)-Klagelied.
Dann wird es still. Auf dem Balkon des Arbeitsministeriums öffnet sich verheißungsvoll eine Tür. Ein Volksvertreter - mehr oder weniger demokratisch gewählt - tritt vor die Protestler.
"Sehr verehrte, altersarmutbedrohte und Niedrigstrenten beziehende Mitbürger der bundesrepublikanischen Nachkriegs-Wiederaufbau-Generation...", die Worte gehen im wütenden Aufschrei der Jubilare unter. Wahrlich keine Jubelschreie!

Neben mir bemerkt Einer:
"Wenigstens sind wir <Sehr verehrte...>. Dennoch raubt man uns die Ehre."

Der Redner fährt fort:
"Ich verstehe - (schon beginnt die erste Lüge)- Ihren Unmut und Ihre Ängste. Aber wir haben wie immer vorgesorgt. Niemand soll hungern. Schließlich gibt es vom Staat subventionierte Suppenküchen..."
Tobendes Gebrülle - und man wollte doch singen.

"Und wer die Miete nicht mehr bezahlen kann, dem bieten wir Unterkunft in Zeltlagern, konzentriert vor den Stadtmauern..."

"Pfui!", der Aufschrei. Zwischenrufe:
"Lager...konzentriert...das hatten wir schon einmal mit tödlichem Ausgang. Damals <machte Arbeit(angeblich)frei>. Ihr wollt die Rentner weg haben..."

"Frühzeitiger Rentnertod - für die Kassen Morgenrot!", so steht es auf einem anderen Transparent.

Aus Seitenstraßen nähern sich Jugendliche. Plakate. Ich lese:
"Die Rentner fressen uns die Haare vom Kopf."
Aha, bei Neo-Nazis haben sie schon damit angefangen, denke ich mir.

Die Szene beginnt bedrohlich auszuarten. Sozialstaatliches Versagen hetzt die Menge aufeinander. Der Redner hat sich längst zurückgezogen hinter dichte Gardinen und seine dampfende Kaffeetasse.
Der Generationenkonflikt nimmt augenscheinliche Formen an. Der Staat führt Regie. Schlecht bezahlte Polizeikräfte - die Altersarmut bereits im Hinterkopf - greifen besänftigend ein. Lieder und Proteste verstummen. Die SaR zerstreut sich. Manche gehen in die Kneipe. Für ein kleines Pils reicht es gerade noch.
Setze mich an einen Tisch neben die Anderen.

"He, Paul, letzter Tag heute im Blaumann...?"
"Ja, ab morgen Survival-Programm."
"Warst du schon bei der AfS?"
"Was ist das?"
"Agentur für Schwarzarbeit. Nennt sich auch Rentenaufstockungsprogramm mit eingeschränkter Überlebensgarantie."
"Und was vermitteln die?"
"Na, Babysitter für gleichgeschlechtliche Paare, Bordell-Catering, Gartenarbeit bei Fußball-, Bank- und Manager-Millionären, schweizerischen Steuerhinterziehern usw. Eben Grauzonenbeschäftigung."
"Klingt gut."
"Ja, keine Steuern oder Sozialabgaben. Völlig freier Arbeitsmarkt einer rentnergeprägten Parallelgesellschaft."
"Und wenn du krank wirst?"
"Dann zahlt die Kasse nur noch für Bagatellleiden den Mindestsatz. Müssen ihre Rücklagen steigern. Ernste Krankheiten überlässt man ihrem Schicksal, immer in der stillen Hoffnung: Das kann doch nicht gut gehen..."
"Lohnt es sich dann noch zu leben?"
"Darüber wagt von Denen-da-oben bisher noch keiner zu spekulieren. Obwohl...volkswirtschaftlich gesehen eine Option, oder?"

Ist still geworden am Tisch. Nachdenkliche Gesichter. Die Ersten verabschieden sich.Notenblätter eingesteckt. Ein kleines Pils etwas wenig, um diesen verdammten Unmut runterzuspülen.
Aber sie werden wiederkommen. Singen - und die Lieder werden lauter werden.
 



 
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