SPIEGELSCHRIFT Viertes Kapitel

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Nina Trebesi

Mitglied
Die roten Samtvorhänge des Tangolokals waren beiseite geschoben. Hinter den schimmernden Fenstern glitten die Paare vorbei, wie exotische Fische in einem Aquarium. Ich musste meinen Mut zusammennehmen, um die schwere Tür aufzustoßen und einzudringen, ich stellte mir vor, es sei wirklich ein Aquarium. Beim Öffnen der Tür würde mir ein Wasserschwall entgegendrängen und mich zu Boden werfen, aber es geschah gar nichts, als ich die Tür aufstieß, und auch als ich mich an eines der runden Tischchen am Rand der Tanzfläche setzte, geschah gar nichts, eine Stunde lang, zwei Stunden lang, man hatte ein Glas vor mir abgesetzt, das mir eine gewisse Existenzberechtigung verschaffte, ich nippte daran, mehr geschah nicht, jedenfalls nicht mit mir; ich hatte wohl vieles beobachtet, das Claire treffend geschildert hätte, für die Leser ihrer scharfsinnigen Zeitschrift: wie die Frauen ihre klobigen Straßenschuhe abstreiften und unter ihrem Stuhl verschwinden ließen und aus der Handtasche erotische Tangoschuhe mit endlosen Stöckelabsätzen zogen. Oder wie ein hochgewachsener, mürrischer Bursche mit arrogantem Kopfrucken die Frauen aufforderte, wie eine ältere Dame sprungbereit auf einer Stuhlkante saß, so lange wie ich auch schon auf meinem Sitz saß, all das hätte Claire köstlich geschildert, aber ich bin nicht Claire, mich amüsiert das Amüsante nicht, und ich kann es auch nicht schildern, ich finde alles abgeschmackt, auch die dramatischen Falten auf der Stirn der Tanzenden, was will ich hier eigentlich.

Der mürrische Bursche steht nun vor mir, blickt von schräg oben her durch mich hindurch und ruckt kurz mit dem Kopf. Ich sehe mich um, die Stühle ringsumher sind leer, also stehe ich auf, trete vor ihn, lehne mich an ihn und lege meine Stirn in Falten. Dann weiß ich nicht mehr weiter.
Er zerrt ein wenig an mir, ich strauchle, er schiebt mich ein wenig, bleibt dann stehen und sagt: "Können Sie nicht tanzen?"
"Ich fange erst an", antworte ich beschämt. Er seufzt und zählt mir griesgrämig den Takt ins Ohr, er schiebt mich ein paar Runden holpernd im Kreis herum, und als wir wieder vor meinem Tischchen angekommen sind, sagt er verächtlich: "merci" und lässt mich stehen.

Weg hier, das Glas, an dem ich so lange sparsam genippt habe, leere ich nun in einem Zug, raffe meine Sachen zusammen, da steht plötzlich Haydée vor meinem Tisch, strahlend und elegant im schwarzen, langen Kleid, umringt von einer lachenden Meute: ihre argentinischen Freunde. Haben die mich gesehen als ich... Doch einer fordert mich sofort zum Tanzen auf. Er ist nicht glutäugig, wie Phil das behauptet ("wenn du dann erstmal mit einem glutäugigen Argentinier...") Er hat eine große Nase, ein hageres, verschlossenes Gesicht, und die stolze und lässige Haltung eines Dandys aus einer Gesellschaftsschicht, die sich nur zu Pferd oder im Cabriolet fortbewegt.
Ich finde ihn eine Spur lächerlich, nicht zu viel und nicht zu wenig. Er nimmt mich beim Tanzen fest in die Arme und lässt die Gefahren hinter meinem Rücken nicht aus den Augen.
"Ich tanze sehr schlecht", sage ich mit neu erwachter Selbstsicherheit. Er lächelt und zeigt mir ein paar wilde, rasche Schritte, bei denen ich mit dem Unterschenkel ausschlagen soll wie ein unbesorgtes Fohlen. Ich schlage rasch und entschlossen aus. Er lacht erfreut.
Er drückt mich noch fester an sich.
"Denke an nichts", sagt er, und ich denke an Argentinien, wo ich sicher eine klarere Sicht der Dinge haben könnte, weil dort alles weniger eng wäre, und ich denke an Claire, die immer gleich alles ein Klischee nennt, aber was bleibt denn dann noch übrig, wenn man alle Klischees ausradiert, denke ich, und wir tanzen.
Ich tanze mit erhobenem Kopf an dem griesgrämigen Stoffel von vorhin vorbei. Als sich unsere Blicke treffen, verwechsle ich meine Beine, und als meine Beine wieder in der richtigen Reihenfolge sind, schaut der Stoffel in eine andere Richtung. "Denke an nichts", sagt der Argentinier und streicht ganz sanft über meinen Kopf, der an seiner Schulter lehnt. "Schließe die Augen", sagt er, ich schließe die Augen, und wir tanzen. Er führt mich mit viel Dynamik.
"Ich heiße Juan Carlos", sagt der Argentinier, als der Tango zu Ende ist.
Das J kommt rauh aus seiner Kehle, das R rollt er, es klingt nach Macho und Stierkämpfer in einer untergegangenen, lächerlichen Welt.
Ich lache. Wenn das Claire sehen könnte. "Ich heiße Anna", sage ich. Ein neuer Tango beginnt.
Juan Carlos sieht mich fragend an. Ich lache immer noch, da umfasst er mich, und wir tanzen weiter. Auch nach diesem Tango sieht er mich fragend an, und ich entschuldige mich noch einmal, weil ich so schlecht tanze. "Du tanzt sehr gut", sagt Juan Carlos, und dann tanzen wir weiter, bis ich nicht mehr denke, nun werde Juan Carlos gleich "merci" sagen und mich am Rand der Tanzfläche abliefern, stattdessen denke ich, dass Tanzen bedeutet, mit dem Körper zu denken, und ich denke weiter, dass, solange ich mit dem Kopf denke, ich müsse mit dem Körper denken, noch nichts getan ist, und das denke ich einige Tänze lang, und dann hilft mir die Entschlossenheit von Juan Carlos' Körper, und ich denke nichts mehr. Wir tanzen, bis die Musik abgestellt wird.
Die anderen haben schon ihre Jacken an. "Können wir uns wieder sehen?" fragt Juan Carlos mich leise, aber alle hören es, weil sie in diesem Augenblick plötzlich verstummt sind. Ich blicke Haydée fragend an.
 

Rainer

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hallo nina trebesi,

ich glaube auch so langsam, daß aus der geschichte etwas großes werden kann - gefällt mir außerordentlich gut.

eine anmerkung:
"Ich sehe mich um, die Stühle ringsumher sind leer, also stehe ich auf, trete vor ihn, lehne mich an ihn und lege meine Stirn in eine Falte. Dann weiß ich nicht mehr weiter."

mir ist zwar klar was du mit der falte sagen willst, und ich muß auch anfügen, dass ich vom tango keine ahnung habe, aber ich finde den letzten teilsatz komisch. ich würde schreiben:
....und lege eine falte auf meine stirn... wenn es unbedingtt eine sein muss, ansonsten vielleicht ... in falten...?

wdhg.: sehr dicht, sehr schön, sehr ungewöhnlich - genau nach meinem geschmack.


viele grüe

rainer
 

Nina Trebesi

Mitglied
Hallo Rainer!
Deine Reaktion spornt mich echt an, vielen Dank!
Ja, stimmt, die Falte ist komisch. Die werde ich ausbügeln. Das sind diese Details, die man selber beim Schreiben gar nicht bemerkt, wenn man dann aber darauf gestossen wird denkt man: wie konnte ich so etwas Schräges schreiben. Na ja, da wird sicher noch mehr auf mich zukommen.
Bis bald!
Nina Trebesi
 



 
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