Sarahs Sarah

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Ein Junge!? Jedenfalls lächelte sie so und war allerdings nicht etwa gertenschlank wie ein Knabe sondern überall an den Stellen wohl gerundet, an denen es übliche Männer bei üblichen Frauen besonders gern sehen. Nur ihr Lächeln und ihre etwas eckig-ruckartige Art, Arme und Beine zu gebrauchen, erinnerten mich an Bewegungen meiner Spielkameraden, mit denen ich in Kinderzeiten meinen Alltag verbrachte. Als richtiger Junge spielte ich selbstverständlich nie mit Mädchen.

Vor gut einem Monat, es war ein Mittwoch, geriet ich, müde und deswegen angewiesen auf starken Kaffee, zufällig in dieses altmodische Café Sielmann am Markt. Alle Tische waren mit Pärchen besetzt, die sich Kaffee-, und Kakaotassen, Kuchen- und Tortenstücken und sich selbst zuwandten. Nur eine beobachtete durch das Fenster das Geschehen auf der Straße, blickte sich zu mir um, als habe sie mich erwartet und nickte lächelnd auf meine Frage, ob ich mich zu ihr setzen dürfe.
Sie mochte etwa dreißig sein und damit gut dreißig Jahre jünger als ich.
Auf meinen besonderen Wunsch brachte mir die Kellnerin einen extra starken Kaffee und ein besonders großes Stück Marzipantorte. Früher – selbst als Jugendlicher noch - durfte Marzipan weder Ostern als Marzipan-Ei in meinem Oster-Nest oder Weihnachten als Marzipan-Kartoffeln auf meinem Teller unter dem Christbaum fehlen.
Meine Tischnachbarin trug ein weißes, einen Knopf weit geöffnetes Hemd, ihr schulterlanges blondes Haar offen und begann, als ich mich zu ihr setzte, demonstrativ zu lesen. Da das Buch in einen mit roter Wolle bestickten Schutzumschlag aus braunen Leinen eingehüllt war, konnte ich den Titel nicht erkennen, dafür den auf gestickten Spruch „Wer liest, lebt anders.“ Irgendwann legte sie das Buch zur Seite, lächelte mich an und wollte wissen, ob mir die Marzipantorte auch so gut schmecke.
Als ich die Torte überschwänglich zu loben begann, las sie weiter.
Bevor ich ging, fragte ich, ob sie öfter hier sei. „Mittwochs und donnerstags nachmittags“, antwortete sie mit klarer Jungenstimme.

Am nächsten Mittwoch war sie nicht bei Sielmann und donnerstags fand ich keine Zeit, ins Café zu gehen.
Am darauf folgenden Donnerstag saß sie wieder am Tisch am Fenster, sah hinaus und als ich neben ihr stand, blickte sie lächelnd zu mir auf. Diesmal hatte sie kein Buch dabei, trug einen dünnen roten, tief ausgeschnittenen Pullover und ihr offenbar hauchdünner BH hinderte ihre Brustwarzen kaum daran sich aufzurichten. Da sie den Bewegungen meiner Augen mit ihren lächelnden weit geöffneten ständig folgte, erlaubte ich meinen lüstern umherschweifenden Blicken nur eine ganz kurze Pause an jener Stelle, die ich allzu gern länger nicht nur angesehen hätte.
„Na?“ Ihr Lächeln kam mir diesmal keineswegs jungenhaft vor. Mit weit ausholend vereinnahmender Geste lud sie mich ein, bei ihr Platz zu nehmen.
Zögernd setzte ich mich neben sie. Ihr gegenüber zu sitzen wäre mir zu nah gewesen.
„Sie schielen mich lieber unauffällig von der Seite an.“ Ihre unerwartet laute und hohe Stimme klirrte einen Moment lang im Café. Gäste sahen sich nach uns um.
Sie lächelte. Jedoch wieder nicht ihr Jungenlächeln, nein, das siegesbewusst verächtliche fast schon Grinsen einer Fallenstellerin, der jemand in die Fänge ging, der sich immer noch für zu schlau hielt, in eine Falle zu tappen.
Um sie in ein möglichst unverfängliches Gespräch zu verwickeln, fiel mir nichts Aussprechbares ein. Immer wieder wandte sie mir ihr volles makellos glattes Gesicht zu, mit einer Nase in der Mitte, die ein antiker Bildhauer modelliert haben könnte. Und jedes Mal hielt ich ihren Blicken nur Bruchteile von Momenten stand.
Wir sprachen schließlich – und das war mir besonders peinlich – nur über das Wetter und die nicht sehr umfängliche Getränkekarte.
Hätte ich das Café vor ihr verlassen, wäre ich mir wie ein Flüchtender vorgekommen. Einige Male nahm sie sich viel Zeit, unverschämt viel Zeit, mich in aller Ruhe anzusehen, trommelte dabei leicht mit ihren ungewöhnlich schlanken Fingern auf die Tischplatte, räusperte sich, betupfte ihre Lippen mit der Serviette und schwieg lächelnd weiter.
Mir schmerzten die Beine. Viel zu lange und viel zu weit hatte ich sie unter meinen Stuhl zurückgezogen. Mühsam versuchte ich mich zu entspannen, holte Luft, atmete seufzend aus, erntete einen Fingertrommelwirbel und einen ihrer ungemein spöttischen Mitleidsblicke.
Schließlich verließ ich das Café doch vor ihr, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte und einen letzten ihrer Spottblicke einfing.

Als ich Wochen später an einem Mittwoch wieder am Café Sielmann vorbei ging, winkte sie mir hinter dem Fenster. Drinnen empfing sie mich mit ihrem Jungenlächeln. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Diesmal trug sie ein weites, einem Fußballtrikot ähnelndes T-Shirt mit der Rücknummer 8.
Wir sprachen über Fußball. Sie kannte sich wesentlich besser im deutschen Fußball aus als ich. Und auf meine Frage, weshalb sie ein Trikot mit der Rücknummer 8 trage, lachte sie und gestand leise, als verrate sie ein Geheimnis, dass ihr nicht wirklich peinlich war, diese Acht stehe bei ihr ausschließlich für Unendlichkeit.
Danach begannen wir über das Leben zu philosophieren und sie verriet mir, sie wolle eigentlich ewig leben. Von ihr aus könne die Zeit abwechselnd an einem Mittwoch oder Donnerstag stehen bleiben, am liebsten an einen frühen lauen Spätsommerabend, wie es heute wieder einen geben werde. Auf keinen Fall jedoch im November oder Februar. Diese Monate seien ihr mit Abstand zu grau. Der Hochsommer aber sei ihr zu heiß.
Selbst der heftige Kopfschwung, mit dem sie ihre blonden Haare zurückwarf, geriet ihr eckig. Lachend streichelte sie mir hastig und zugleich behutsam die Hand, blickte vor sich auf die Tischplatte und schwieg einen Moment, um dann besonders leise zu sagen, sie hätte überhaupt nichts dagegen, wenn ich an solchen Spätsommerabenden bei ihr wäre. Dabei senkte sie den Kopf, wartete, sah mich wieder an, lächelte ihr Jungenlächeln und fragte mich nach meinem Vornamen.
„Georg“.
„Georg, der Drachentöter. Hab mir schon so was gedacht. Der Name passt zu dir. Wirklich! Ich heiße Sarah.“

Als ich gehen wollte, sagte sie fast verlegen lächelnd, Zeit könne sich natürlich nicht selbst vermehren, Zeit sei eigentlich zeitlos. Und dann bat sie mich, sie zu ihrer Wohnung zu begleiten. „Oder musst du nach Hause, Georg?“
Ich schüttelte den Kopf heftiger, als ich wollte. In meinem Appartement im 14. Stockwerk, das ich, seit ich bei Helma auszog, bewohne, wartet niemand auf mich.
„Du nimmst mich einfach mit zu dir und weißt überhaupt noch nichts von mir. Außerdem bin ich mindestens doppelt so alt wie du. “
Sie zuckte mit den Schultern. „Weißt du denn schon viel über mich?“
„Immerhin weiß ich, wenn es einen ewigen lauen Spätsommerabend gäbe, möchtest du eine Zeitlose sein.“
Sie lachte. „Zeit ist das ewig Weibliche. Das ist aus sich heraus auch nicht in der Lage, sich zu vervielfältigen. Muss es auch nicht, denn es ist schon ewig.“
Ich runzelte die Stirn und nickte verstehend, obwohl ich nicht wirklich begriff, was sie mir sagen wollte.

Vom Wohnzimmer ihrer Dachgeschosswohnung führte Sarah mich durch eine Glastür und über einen schmalen Steg auf das mit hellgrünen Fliesen gedeckte Flachdach des Nachbarhauses. Dicht wachsendes Efeu und wilder Wein hinderten die Nachbarn der umliegenden Häuser daran, uns zu beobachten. Ein offenes rotes Steilwandzelt, ausgelegt mit Schaffellen und hohen roten Kissen verführte zum Hinlegen.
Sarah setzte sich auf eines der Kissen und wies mit der Hand auf ein weiteres, das in gehörigem Abstand zu dem ihren auf dem Boden lag.
Eine Zeit lang beobachtete sie mich lächelnd und wortlos und wollte ich etwas sagen, legte sie sich den Zeigefinger auf die geschwungenen leicht vor gewölbten Lippen und versuchte mir in die Augen zu sehen. Als ich ihrem Blick auswich, stand sie auf. „Ich hol uns was zu trinken. Was hältst du von Rotwein?“
Ohne auf meine Antwort zu warten, verschwand sie hinter der Wand aus Efeu und wildem Wein.
Leichter kühler Wind bewegte die Blätter, wehte in das Zelt und entlockte kleineren und größeren Schellen, die über dem Zelteingang hingen, das Geläute einer vorbeiziehenden Schafherde. Irgendwoher von weit unten schallte Straßenlärm herauf. Ein Martinshorn heulte. Kurz darauf noch eins.

Sarah kam nicht nur mit Rotwein zurück.
„Darf ich dir meine Mitbewohnerin vorstellen. Sie heißt auch Sarah!“
Diese Sarah hatte längere, dunklere Haare, trug ein schulterfreies, tief ausgeschnittenes dünnes schwarz glänzendes Kleid und setzte sich neben mich auf das rote Kissen, auf dem die blonde Sarah vorher gesessen hatte. Die schenkte Rotwein ein, drückte uns beiden je ein Glas in die Hand, schob sich mit dem Fuß ein Kissen heran, setzte sich zwischen uns und prostete uns zu.
Der Wein war schwer, nicht zu süß und hatte genau die richtige Temperatur.
Noch einmal stand die blonde Sarah auf, holte aus einem kleinen Schrank in der hinteren Ecke des Zeltes eine Gebäckdose und stellt sie vor uns auf einen kleinen runden Tisch.
Das Gebäck, weder Pralinen noch eigentlich Kekse, schmeckte frisch und zugleich herb süßlich. Als ich Sarah nach der Herkunft des Gebäcks fragte, antwortete sie mir mit einem Jungenlächeln, sah ihre Nachbarin an und strich ihr mit beiden Händen langsam und zärtlich über Kopf und Haare. Die ließ es lächelnd geschehen, streifte sich die langen schwarzen Haare aus der Stirn, nahm die Hände ihrer blonden Mitbewohnerin in die ihren und küsste mit spitzen Lippen deren Fingerspitzen.
Anschließend lächelten mich die beiden etwa gleichaltrigen Frauen an.
„Mittwochs“, sagte Sarah und warf ihre blonden Haare in den Nacken, „mittwochs fange immer ich an. Donnerstag ist ihr Tag.“ Und sie nahm ihre Mitbewohnerin in den Arm, küsste sie auf die nackte runde leicht gebräunte Schulter, begann ihr die bloßen Arme zu streicheln und strich mit dem Handrücken, als geschehe es ohne jede Absicht, über deren Brust.
Sarah lächelte ihr Jungenlächeln und sah mich fragend an. „Warum mögen Männer Frauen gern bei der Liebe zusehen? Warum?“
Ich zuckte leicht mit den Achseln und spürte meine Erregung. „Es macht irgendwie besonders geil!“
Die Dunkelhaarige nickte. „Warum?“
Wieder zuckte ich mit den Achseln. Die beiden Frauen unterbrachen ihre Zärtlichkeiten und sahen mich an. „Wir können es dir sagen!“ Die blonde Sarah legte den Arm um die Schulter ihrer Mitbewohnerin und offensichtlichen Geliebten. „Männer sind Techniker. Meinen uns mit besonders raffinierten Liebestechniken zu immer höheren Höhepunkten bringen zu müssen. Technik ist nicht alles, Georg. Sie gibt den Rhythmus vor. Aber Rhythmus zerhackt die Zeit. Die Melodie lässt mitschwingen.“
Und sie begann leise zu summen, wurde lauter und streichelte wieder die nackte Schulter der dunkelhaarigen Sarah. Die summte mit, sagte schließlich leise, Rhythmen zerhacken die Zeit, Melodien tragen, wer liebt will tragen und getragen werden.“ Und dann fiel sie wieder in das Summen ihrer Liebhaberin ein.
Die gab mir einen Kuss auf die Wange, summte mir ins Ohr, fuhr mir mit der Hand durch mein Haar und raunte schließlich ihrer Geliebten zu: „Er wird glauben, verstanden zu haben. Aber er wird beim Rhythmus bleiben. Er ist ein Mann.“
Die beiden ließen unter Streicheln voneinander ab und prosteten mir mit Rotwein zu. Wir tranken in aller Ruhe schweigend eine Rotweinflasche leer, dann baten mich die Beiden, sie allein zu lassen.

Heute Morgen erwachte ich in meinem Appartement aus traumlos tiefem Schlaf. Am Nachmittag traf ich Sarah im Café Sielmann. Und da Donnerstag war, lächelte sie nicht, wie Jungen lächeln, sondern umarmte mich zur Begrüßung. Sie hatte mir bereits ein großes Stück Marzipantorte bestellt, trug einen engen diesmal hellgrünen Pullover und lud mich ein, am Abend mit in ihre Wohnung zu kommen.
„Es wird nur eine Sarah da sein.“ Sie begann leise zu summen. Und als ich mitsummen wollte, traf ich den Ton nicht.
„Komm trotzdem“, sagte sie lächelnd. „Heute ist Donnerstag und morgen beginnt der Herbst.“
 



 
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