Schafe und Wanderer

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Irgendwann, im Leben eines jeden Menschen, kommt der Moment, in dem er sich nach dem Sinn seiner Existenz fragt.
Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?
Was liegt in meiner Verantwortung? Wie groß ist meine Bürde?
In dieser Zeit entwickelt sich entweder der Egozentrismus, das Auf-sich-selbst-bezogen-sein oder der Altruismus, der einen zu einem produktiven, am Leid Anderer anteilnehmenden Mitglied einer sozialen Gesellschaft macht. Anders ausgedrückt: man wird einer von den Guten oder einer von den Bösen.
Die Pubertät kann dabei ein auslösender und entscheidender Faktor sein, doch diese These ist noch unbewiesen. Fakt ist: es geschieht weltweit.
Unzählige Gruppen formieren sich, bei diesem Vorgang, spalten sich ab und organisieren sich, doch im Grunde kann man sie in zwei Fraktionen einteilen: in Schafe und Wanderer.
Der Mann, der im Schatten der Hecke hockte, die den Vorgarten von den anderen Grundstücken trennte, war ein Wanderer, schon seit vielen Jahren. Er hatte die Ozeane gesehen und war über die chinesische Mauer gegangen, hatte die Pyramiden berührt und vom Eifelturm gespuckt. Mehr als einmal war er durch die seelischen Wüsten der Welt gewandert und war oftmals kurz vor dem Verdursten gewesen und hatte viele andere Leben dem Tode überlassen, um selbst zu überstehen.
Die Natur war grausam, das war allgemein bekannt, doch, bis auf die Wanderer, war der Mensch kein Teil der Natur mehr, hatte sie gegen seinen Fortschritt eingetauscht und war ihr schutzlos ausgeliefert, genau wie den Wanderern.
Im Licht des vollen Mondes beobachtete er das Haus, schon seit einer ganzen Weile.
Erregt nahm er zur Kenntnis, dass die Lichter im Wohnzimmer und der Küche nicht mehr brannten und soeben wurden die Schlafzimmerfenster dunkel.
Herrlich! Darauf hatte er gewartet. Die Schafe hatten sich zur Ruhe gebettet.
Der Wanderer schlich sich auf die Veranda und verharrte einen Moment. Er war vollkommen in Schwarz gekleidet, sodass man ihn, in der frühen Finsternis dieses kalten, sternenklaren Septemberabends, nicht würde sehen können. Perfekte Tarnung war nur eine Eigenschaft der Wanderer, die sie sich, im Gegensatz zu den übrigen Menschen, erhalten hatten.
Mit einem Knarren öffnete er die Fliegengittertür, knackte gewandt und geräuschlos das Haustürschloss und betrat das Haus der Familie Curt.
Der Eindringling war überwältigt, von den vielen, unterschiedlichen Eindrücken, die auf ihn einstürzten. Hastig zog er sich die schwarze Maske vom Kopf und sog begierig die Luft ein. Das Gefühl war phantastisch. Parfum schwebte im Raum und vermischte sich mit dem Duft von Rasierwasser und Schweiß. Außerdem roch es nach Braten, Kohl und Kartoffeln, die es wohl zum Abendessen gegeben hatte. Eine hauchzarte Note des Chianti, der noch geöffnet auf dem Esszimmertisch stand, zog durch das Zimmer.
Der Wanderer sammelte sich.
Viele Meilen hatte er zurückgelegt, um hierher zu finden und jetzt war es um so vieles intensiver und besser, als er es sich, auf seinem Marsch, ausgemalt hatte.
Alles schien sich zu drehen, doch er durfte jetzt nicht übermütig werden.
Er blickte auf die Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte und betrat in Gedanken schon das Schlafzimmer der Kinder und schnitt ihnen, mit seinem Messer, die Kehlen durch, als er neben sich eine Diele knarren hörte.
Das Licht wurde eingeschaltet. „Stehen bleiben!“ Der Hausherr.
Er stand im Durchgang zur Küche, hatte sich vielleicht noch am Kühlschrank bedient oder ein Glas Wein trinken wollen, bevor er zu Bett gehen wollte. In seinem hellblauen Pyjama stand er da und starrte den Eindringling entschlossen an. In der linken Hand hielt er eine 45er, die er noch aus seiner Zeit in Nam hatte und zielte auf den Kopf des schwarzgekleideten Mannes. Mr. Curt war ein sehr guter Schütze. „Hände hoch und an die Wand! Sofort!“ Mit einer schnellen Handbewegung zog der Wanderer das Jagdmesser, das an seinem Gürtel befestigt gewesen war und wollte sich gerade auf seinen unfreiwilligen Gastgeber stürzen, als ihn eine Kugel zwischen die Augen traf und ihn an die Wand schleuderte. Wie ein nasser Sack, ging er zu Boden.
Der Telefonhörer wurde abgenommen.
„Hallo? Hier ist Curt, Peter Curt. 24th Pennington Road. Kommen sie schnell! Ich habe einen Einbrecher erschossen!“
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PIEP
...schwimmen...
PIEP
...fließen...
PIEP
„…sie werden nichts spüren...“
PIEP
„OP 3 ruft Doktor Mephisto. Doktor Mephisto, bitte in den...“
PIEP
„...gleich werden sie...“
PIEP
Pater Flannigan öffnete die Augen.
Er konnte jeden einzelnen Knochen im Leib spüren. Das waren Nachwirkungen der Beta-Blocker, doch die waren, bei Operationen dieser Art, nun einmal Gang und Gebe, besonders, wenn man, wie der Pater, schon zweiundfünfzig Jahre alt war.
Das Gepiepe des EKG-Gerätes ging ihm auf die Nerven. Es stach in seinen Ohren, wie ein Eispickel. Der Geistliche blickte sich um und erinnerte sich sofort. Er befand sich im Hansom Church Hospital in NewYork und hatte gerade eine Sieben-Stunden-OP hinter sich. Seine Zunge war eine pelzige Raupe. Auf dem Nachttisch stand eine Schnabeltasse, die mit Eistee gefüllt war. Gierig trank er sie leer. Bei Gott! Er war noch am Leben. Zwar schlug jetzt in seiner Brust das Herz eines Anderen, doch das spielte für ihn keine Rolle. Er fühlte sich, wie frischgeboren. Herrlich. Pater Flannigan war zwar noch sehr mitgenommen, wegen der OP, doch spürte aufkeimenden Enthusiasmus und war auf eine, nie zuvor da gewesene Art und Weise, mit der Natur und dem Universum verbunden. Er blickte zur Tür seines Zimmers und ihm wurde klar, dass er noch einen langen Weg zu gehen hatte. Ein Name, der ihm vage bekannt vorkam, kroch aus der Tiefe seines Unterbewusstseins und durchbrach die Oberfläche: Peter Curt.
 



 
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