Sie ist allein

dommas

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Sie ist allein

Sie stieg aus dem Bus aus. Sie versuchte, so schnell wie möglich die wenigen Stufen zum Gehsteig hinunterzusteigen. Das war leichter gesagt als getan. Mit zwei schweren Einkaufstüten in ihrer linken Hand, in ihrer rechten ihren Gehstock, den sie benötigte, um längere Strecken zu bewältigen, seit sie damals, vor 6 Jahren, an der Hüfte operiert worden war. Doch der Busfahrer war freundlich genug, so lange auf sie zu warten. Sie hatte sich angewöhnt, vorne beim Busfahrer aus- und einzusteigen, so dass er sie sieht; so dass er sieht, dass sie ein bisschen länger braucht. Ihr ist es ein paarmal passiert, dass sie sich weiter hinten setzen musste, weil keiner der anderen Passagiere aufgestanden ist, um ihr einen Platz anzubieten. Dann war die hintere Tür näher. Also wollte sie hinten aussteigen. Doch weil sie eben etwas länger braucht, schloss der Busfahrer bereits die Tür, so dass ihr Stock in ihr eingeklemmt wurde, obwohl sie schon draußen war. Zum Glück sah das einer der Passagiere und bat den Busfahrer anzuhalten, sonst wäre der Stock weg gewesen!
Heute hatte alles gut geklappt. Vorne eingestiegen, ein jüngeres Mädchen machte ihren Platz für sie frei, beim Aussteigen wartete der Busfahrer geduldig, bis sie sicher auf dem Gehsteig stand und fuhr dann erst weiter. Sie sah dem Bus nicht einmal nach.
Nachdem sie zweimal tief Luft geholt hatte, machte sie sich auf den Nachhauseweg, der zum Glück nicht allzu lange war. Hans hatte damals daran gedacht, eine Wohnung möglichst in der Nähe einer Bushaltestelle zu finden. Damals, als sie in die große Stadt gezogen sind. Sie hatten vorher in einem kleinen Dorf gewohnt, in ihrem eigenen, kleinen Häuschen. Mit einem Garten, in dem sie ganz stolz ihre eigenen Tomaten, Gurken und Paprika gezogen hatten. Jetzt hatten sie einen Balkon. Mit Platz für drei Blumenkästen. In einem wuchsen jetzt endlich die Tomaten. Sie waren natürlich sehr klein – was will man schon von Tomaten erwarten, die in einer Großstadt in einem Blumenkasten auf einem Balkon einer Wohnung im fünften Stock eines zwölfstöckigen Hochhauses gezogen werden. Nicht mal essen konnte sie die Tomaten. Sie vertrug sie nicht mehr. Sie gab sie ihrer Tochter mit.
Die kam sie jeden Tag besuchen. Kathrin war eine treue Seele. Auch, wenn sie nie viel zu reden hatten – was gab es schon zu bereden, wenn man sich jeden Tag sah, wenn Routine eingekehrt ist – sie kam dennoch jeden Tag. Mit dem Auto, denn mit dem Bus dauerte es ihr zu lange. Sie konnte ja auch nie lang bleiben, sie musste meistens gleich weiterfahren, um einzukaufen. Oder die Kleine von der Schule zu holen. Oder ihren Mann zur Spätschicht zu fahren. Oder...
Wenn sie mal nicht kommen konnte – was wirklich nicht sehr oft vorkam – dann rief sie zweimal am Tag an. Frühs und abends. Nur um sicherzugehen, ob es ihr noch gut gehe. Naja, gut... Gut ging es ihr nie. Wie konnte es einem denn gut gehen, wenn bei jedem Schritt die Hüfte schmerzte, das Kreuz weh tat, wenn die Schwielen an ihrer rechten Hand, die sie vom Laufen mit dem Gehstock bekommen hatte, nie richtig abschwellten und im Durchschnitt einmal pro Woche aufgescheuert wurden und bluteten, wenn der Mann, den man über alles geliebt hatte, mit dem man durch dick und dünn gegangen ist, der einem seit über fünfzig Jahren zur Seite gestanden hatte, nicht mehr da war, tot war?!
Sie wusste, dass sie nicht einkaufen gehen musste. Als sie am Zeitungshändler an der Ecke in die Straße einbog, in der ihre Wohnung war, dachte sie daran, dass sie Kathrin hätte Bescheid geben können. Sie hätte ihr diesen ganzen schweren Kram auch besorgen können. Am besten wäre es, dachte sie sich, dass sie Kathrin erst gar nichts davon erzählt. Die schimpft sie sonst nur wieder. „Das hätte ICH doch machen können! Du WEISST doch, dass du nicht mehr so gut laufen kannst und du WEISST doch, dass ich das GERN mache...“
Was sollte sie denn machen? Den ganzen Tag in ihrer – ehrlich gesagt: viel zu großen – Wohnung sitzen, darauf warten, dass sie von Kathrin oder jemand anderem besucht wird? Darauf warten, dass das Telefon klingelt? Darauf warten, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt? Darauf warten, dass sie stirbt?
Sie wusste, dass Kathrin gern den Einkauf für sie getätigt hätte, aber sie musste raus! Nicht bloß raus auf den Balkon und die Autos, die Häuser nebenan anschauen. Raus, laufen, Menschen sehen. Auch wenn es weh tat. Auch wenn sie fast zehn Minuten zum Bus laufen musste. (Früher hätte sie das in zwei Minuten geschafft, aber da sie alle fünfzehn, zwanzig Schritte stehenbleiben musste, um Luft zu holen, dauerte es so viel länger) Auch wenn ihre Tochter sie schimpfen würde. Solange es weh tat, solange ihre Tochter mit ihr schimpfte, wusste sie, dass sie noch am Leben war. Sie lebte noch. Hans nicht mehr!
Er war vor zwei Jahren gestorben. Sie glaubte, er hatte das geahnt. Warum sonst hatte er so sehr darauf bestanden, vor vier Jahren umzuziehen? Sie hatte sich gewehrt, Gott weiß wie sehr. Doch Hans konnte ein solcher Sturkopf sein! Es ging alles sehr schnell. Er hatte mit Kathrin diese Wohnung gefunden, die nur zwei Minuten von der Schule entfernt war, auf die die Kleine ging. Sie verkauften ihr kleines Häuschen mit dem TomatenGurkenPaprikagarten für ein gutes Geld und kauften davon diese Eigentumswohnung.
Der große, rosa angestrichene Block, in dem ihre Wohnung war, ragte vor ihr empor. Er war das erste Haus in einer Reihe weiterer zwölfstöckiger Hochhäuser, alle in den Siebzigern gebaut. Ihrem folgt ein pastellgelbes, danach ein mintgrünes, danach ein weißes, danach ein graues (bei diesem ist dem Hausbesitzer wohl das Geld für die Tünchner ausgegangen. Bis vor drei Jahren haben alle Häuser so ausgesehen. Eines Tages waren sie von Baustellenlärm geweckt worden Der Hausherr stand vor dem Haus und sprach mit dem Obertünchner, die Gesellen bauten bereits das Gerüst auf. „Dieser Idiot hätte wenigstens was sagen können“, beschwerte sich Hans. Er war immer so aufbrausend gewesen!)
Er starb an den Folgen eines Herzinfarkts. Zwei Tage lag er im Koma, dann ist er gestorben. Sie besuchte jeden Tag sein Grab, schließlich gab es dort viel zu machen. Die Erde harken, das Unkraut ausrupfen, Blumen gießen, Blumen umtopfen und einsetzen, die Grabeinfassung von Moos befreien, mit Hans reden. Und das alles mit ihrem malträtierten Rücken! Aber was blieb ihr sonst noch? Bilder an der Wand? Die HINGEN da, ja, aber nur eins mehr als vor seinem Tod. Ein Bild von ihnen. An ihrer Goldenen Hochzeit. Wenigstens konnte er das noch erleben!
Obwohl, wäre er vorher gestorben, hätte sie mehr Geld gehabt, um einen Grabstein zu kaufen. Es stand dort immer noch das Holzkreuz. Jetzt war sie klüger. Sie sparte jetzt auf einen Grabstein, so dass ihre Tochter nicht in Geldprobleme kommen wird, wenn sie stirbt. Sein Tod war ja auch nicht unerwartet gekommen. Er hatte schon lange Probleme mit dem Herzen gehabt, sogar schon eine Bypass-OP hinter sich, aber vom Sterben wollte keiner reden. Auch jetzt war es allen unangenehm, wenn sie davon anfing. Es war ja nicht so, dass sie sich den Tod wünschte, nun, wo Hans tot war. Es war nur so, dass sie jetzt häufiger daran dachte, dass sie auch einmal sterben muss. Früher oder später.
Sie wünschte sich natürlich „später“, denn Angst hatte sie schon! Aber sie wollte zumindest noch sehen, wie ihr Enkel heiratet. Er war jetzt schon so lange mit seiner Freundin zusammen, aber beide studierten. Er kam sie am seltensten besuchen. Selbst ihr Sohn kam häufiger, und der wohnte ein bisschen weiter weg. Sie glaubte nicht, dass ihr Enkel nicht kam, weil er sie nicht mochte, sondern er vergaß sie einfach. Er hatte mehr Abwechslung, er hatte Freunde, die in der Nähe wohnten (ihre Freunde waren entweder tot oder in ihrem Heimatdorf), er hatte eine Freundin – er hatte ein Leben ohne Oma. Auch seine Mutter besuchte er nicht oft. Einmal in der Woche! Aber Kathrin war glücklich, dass er überhaupt kam. Wenn er mal bei ihr hereinschaute, dann meistens nicht für lange. Dadurch, dass er sie so selten sah, eigentlich nichts mit ihr zu tun hatte, wusste er nicht, was er mit ihr reden sollte. Sie spürte das. Und es machte sie traurig...
Aber sie schwig, lächelte auf die Frage, ob es ihr gut gehe, nickte, und fragte ihn, ob er Hunger habe.
Ihre Enkelin kam auch fast jeden Tag. Schließlich musste sie oft auf deren Tochter aufpassen. Ach, Jenni, das war ihr ein und alles. Ihre kleine Urenkelin. Wegen ihr, sagte Hans, wollte er umziehen. Er wollte sie sehen; wollte sehen, wie sie aufwächst. Sie zogen ein Vierteljahr vor Jennis Einschulung in die Stadt. Und auf einmal hatte Hans wieder etwas zu tun.
Daheim, das heißt in dem Häuschen mit Garten, hatte er einen Hobbykeller gehabt. Es hatte ihm unheimlich viel Spaß bereitet, irgendwelche Dinge – CD-Ständer, Bücherregale oder ähnliches – zu basteln. Das konnte er hier nicht. Hier hatte er keinen Hobbykeller. Aber jetzt hatte er wieder was zu tun: Er holte Jenni jeden Mittag von der Schule ab. Sie aß dann bei ihnen zu Mittag und machte ihre Hausaufgaben. Sie blieb so lange bei ihnen, bis ihre Enkelin von der Arbeit kam. Seit ihrer Scheidung musste sie nämlich wieder arbeiten gehen, um Geld zu verdienen. Die Alimente reichten auf keinen Fall aus. Zum Glück war Jenni schon alt genug, um in die Schule zu gehen!
Endlich im Treppenhaus angekommen, kam ihr Frau Hertel entgegen – eine Mitt-Achtzigerin, die im zweiten Stock wohnte. Sie sahen sich nur ab und zu, und wenn, dann nur im Treppenhaus. Sie dachte sich, dass sie zu alt sei, um nochmal neue Freundschaften einzugehen. Frau Hertel beschwerte sich gerade über den defekten Aufzug (er war schon seit einem Jahr kaputt, aber dem Hausherrn schien wirklich das Geld ausgegangen zu sein), sie stimmte ihr zu, und ging weiter ihrem beschwerlichen Aufstieg nach.
Auf dem Friedhof begegnete ihr oft ein Mann. Ein älterer Herr, über siebzig, schätzte sie. Nachdem sie sich so ungefähr zehnmal zum Gruß zugenickt hatten, hatte er sie angesprochen. Seitdem unterhielten sie sich ab und an auf dem Friedhof. Über die teuren Blumenpreise, über die unhöflichen Busfahrer, die die nächste Station immer unverständlich in ihr Mikrofon nuschelten, über die neue Umgehungsstraße, die direkt am Friedhof vorbeiführen soll. Er hatte sie auch einmal zu sich nach Hause eingeladen. Sie war natürlich NICHT hingegangen. Was hätten die anderen von ihr gedacht? Kathrin? Hans? Obwohl er tot war, wusste sie doch, dass er noch da war.
Zwar nicht mehr lange, aber noch eine ganze Weile. Solange man sich an ihn erinnert, lebte er weiter, sagten sie. In unseren Herzen, sagten sie. Das heißt jedoch, und sie war sich dessen ganz bewusst: Sobald Jenni gestorben ist, wird Hans endgültig sterben. Sie ist die letzte, die jüngste der Familie, die sich an ihn erinnern wird. Wie er am Tor der Schule auf sie gewartet hatte. Bei jedem Wetter. Eineinhalb Jahre lang.
Im vierten Stock musste sie nochmals anhalten. Sie keuchte und schwitzte. Kathrin wird wirklich böse sein. Sie kommt später noch, hatte sie gesagt. Sie hatte Kathrin versprochen, das Essen für sie und ihren Mann zu kochen. Es war jetzt zwanzig vor elf, sie hatte noch über drei Stunden Zeit.
Kathrins Mann sah sie ja nicht so oft. Der arbeitete Schichtdienst. Wechselte wöchentlich. Früh, Spät, Mittel. Heute hatte er Frühschicht. Kathrin arbeitete auch, halbtags, in diesem Blumenladen. Verdiente sich ein bisschen Geld dazu. Sie war aber rechtzeitig fertig, um die Kleine von der Schule abzuholen. Seit Hans tot ist, wurde sie nur noch mit dem Auto abgeholt. Sie durfte Jenni ja nicht abholen. Sie konnte ja nicht mehr so gut laufen. Sie wollte sich beschweren, aber Kathrin blieb stur. Sie hatte ja so viel von ihrem Vater...
Endlich war sie angekommen. Sie hatte sich, weil ihre Hände so schwitzig waren, Blasen an beiden Händen geholt. Eine war schon aufgeplatzt. An ihrer linken Hand, wo sie die Einkaufstüten trug. Sie scheuerten in der Wunde. Nicht mehr lange, dachte sie sich, nicht mehr lange muss ich die Schmerzen ertragen. Doch da war es zu spät. Ihre durch das Blut leicht glitschig gewordene Hand konnte die Tüten nicht mehr halten, sie fielen zu Boden.
Ein lautes Klirren ertönte, hallte in ihren Ohren wider, lauter, immer lauter. Langsam breitete sich eine weiße Milchlache um die beiden Einkaufstüten aus. Sie starrte auf den Boden, noch immer dass Geräusch der zerbrechenden Milchflaschen im Ohr, zunächst unfähig zu reagieren. Dann schnaufte sie erneut tief durch, einmal, zweimal, wischte sich die Augen, griff in ihre Manteltasche, holte den Schlüssel heraus und schloss die Tür auf. Sie holte Schaufel, Besen und einen Lappen, wischte die Milch auf, sah, dass es die beiden Aprikosenmarmeladengläser auch erwischt hatte, stöhnte beim Aufrichten und ging hinein.
Sie schloss die Tür hinter sich.
Sie schmiss die Splitter in den Müll.
Sie ging ins Wohnzimmer.
Sie setzte sich aufs Sofa.
Sie starrte aus dem Fenster in den grauen Himmel.
Sie lauschte der Stille.
Sie war allein!

dommas
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

einfühlsam und ausführlich beschrieben, aber warum war die frau allein? sie muß doch wenigstens kontakt zu irgendeiner nachbarin gehabt haben? leute, die vom dorf kommen, suchen - soviel ich weiß - geselligkeit. fragend guckt
 

dommas

Mitglied
besser

spaet als nie antworten. vielen dank fuer die aufmunternden worte. sie haben mich dazu ueberredet, doch noch ein wenig mehr hier zu veroeffentlichen. und zu deiner frage: vielleicht war die frau so sehr auf ihren mann fixiert, so sehr von ihm abhaengig (er hat den ganzen schreibkram erledigt, er ging zur bank, wenn das gemacht werden musste), dass ihr lebenssinn darin bestand, ihn gluecklich zu machen. daher hat sie all ihre energie dafuer verbraucht. jetzt ist natuerlich keine mehr da, um neue kontakte zu knuepfen. schade eigentlich.
yours
dommas
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aha.

jetzt wüßte ich nur noch gerne, ob du dir das ausgedacht hast oder ob es real ist. solche frauen gibt es tatsächlich, habe zwei kennengelernt. sie ließen mich aber nicht näher an sich heran, guten tag und das wars schon. sind im laufe der zeit unfähig geworden, kontakte zu knüpfen. lg
 

dommas

Mitglied
that

would be telling, wouldn't it? nein, mal ernsthaft, sie hat ein vorbild in der realen welt. ihr vorbild ist ein bisschen offener, ein bisschen weniger 'allein', aber wirklich nur ein bisschen. alles ist vielleicht ein klein wenig ueberspitzt dargestellt, aber im grossen und ganzen... in diesem sinne
yours
dommas
 



 
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