Sie sprang, wenn er rief

krokotraene

Mitglied
Starr richtete sie ihren Blick an die Decke. Als würde ihr Leben darauf wie in einem Film abgespult werden, fixierte sie einen Punkt. Ihre blutleeren Augen waren uneinig, ob das Einfangen der Vergangenheit für die beteiligten Personen von Vorteil war.
„Sandra!“, aus dem Badezimmer des Luxushotels klang seine Stimme an ihr Ohr. Der übliche Befehlston, gepaart mit der Suche nach Hilfe. Lediglich der Suche, niemals der Bitte.

Ohne eine Regung lag sie weiter am Bett.

„Sandra, schläfst Du?“ Lange hatte sie nun seine Befehle sofort ausgeführt. Sprang wenn er schrie. War stets an seiner Seite. Immer um ihn bemüht. Die Welt beinhaltete seine Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse. Nie fragte er nach ihrem Befinden. Selbstverständlich war alles. Er hatte ja genug Geld. Er konnte sich leisten, was er wollte. Sie war ein Niemand.

Wie oft hatte sie sich schon die Frage gestellt, weshalb sie damals mit gegangen war. Sie war jung, er war alt. Sie war neu in einem fremden Land. Von skrupellosen Menschenhändlern unter falschen Bedingungen in eine angeblich bessere Zukunft geschleppt. Weg von ihrer Familie. Versprochen hatten sie ein besseres Leben. Hilfe für ihre kranke Mutter. Ihre behinderte Schwester. Ihren arbeitslosen Bruder. Ihren alten Onkel. Alle sollten es gut haben, wenn die wunderschöne Frau im fernen Westen ihr Glück fand.

Er kam damals als letzter zur menschenunwürdigen Auktion. Sofort fiel ihr Blick auf den honorigen Mann, der so elegant wirkte. Wie um ein Stück Vieh handelte er um ihren Preis. Alle waren neidig. Sie hatte ihr Glück gefunden. Unter tausenden hübschen Gesichtern erwählte der reiche, ältere Herr aus dem süßen Westen ausgerechnet sie.

Irgendwann musste sie wohl das Vorhangschloss am goldenen Käfig übersehen haben. Irgendwann schnappte es fast lautlos zu. Eine Rückkehr war nicht mehr möglich. Ob er noch die versprochenen Überweisungen an ihre Familie durchführt?

„Sandra“, der Befehlston hatte einen sauren Unterton bekommen. Sie wusste, seine Geduld war bald am Ende. Leise flüsterte sie, „Wladimira! Bitte!“

Ihren Namen hatte er gleich nach der ersten Begegnung geändert. So durfte kein Mädchen im Westen heißen. Und bei ihm schon gar nicht. Ihre Eltern hatten ihr den Namen gegeben. Die Friedensherrscherin. Doch ihr persönlicher Friede war schon lange gestört.

Blutleere Augen fixierten weiter den imaginären Punkt am Plafond. Ihr Lebensfilm begann. Ein junges Mädchen spielte im Gras. Sie schien glücklich. Zufrieden. Ihr Gewand jedoch sprach die Sprache der Armut. Ihre Augen aber von Zuversicht. Glück. Hoffnung. Ihr strahlendes Lächeln vertrieb die dunklen Wolken. Irgendwann würde sie den Durchbruch schaffen. Irgendwann würde sie dem Alltagsgrau entfliehen. Ihr geträumtes Glück finden.

Dann kam das Feuer. Zuerst nur lodernd stieg es bis zur Feuerwalze stetig und gleichmäßig an. Unaufhaltsam und grausam fraß sie sich durch das satte Grün. Hinter ihr blieb eine graue, staubige Landschaft zurück. Einsam und verlassen lag der Boden brach. Kein Grashalm würde sich hier je wieder ansiedeln. Eben ein Zeitzeuge, der schon damals in die Zukunft sehen konnte.

„Sandra, bist Du taub?“ Nun war sein Geduldsfaden gerissen. Sie kannte nur zu gut, was jetzt passieren würde. Bestrafung musste sein. Was wird es wohl diesmal? Schläge bis sie nicht mehr sitzen konnte? Essensentzug? Oder wieder tagelanger Hausarrest bei geschlossenen Vorhängen? Oder musste sie ihn gar wieder herrlich verwöhnen? Bis er sein Vergnügen hatte und sie vor Schmerzen nicht mehr ein und aus wusste?

Mühevoll erhob sie sich. Langsam schritt sie auf das Fenster zu. Sorgfältig schob sie die Vorhänge auf die Seite. Noch einmal zog sie die kalte Luft, die durch das geöffnete Fenster drang, tief in ihre Lungen. Tief fiel ihr Blick vom zehnten Stock. Ein schöner Ausblick würde sie begleiten. Die frische Sommerluft würde sie tragen, aber nicht aufzufangen vermochten.

„Sandra, mein Mädchen!“ die Stimme hatte einen bitteren Beigeschmack. Es war das Gefühl in eine Vollmilchschokolade zu beißen, die einen Kern Chili in sich barg. Zuckersüß und dann doch so scharf.

Sie wusste, sie würde jetzt das letztemal springen, wenn er rief.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo krokotraene,

eine sehr sehr interessante Perspektive - diese Konstellation erfährt man sonst immer nur von außen betrachtet.

Das ist aber auch die Krux dieser Perspektive - man muss Dir glauben als Autor, dass Du in dem Kopf eines Mädchens in dieser Situation steckst. Was er fahre ich über ihre Motive, überzeugen sie mich? Nimmt sie jetzt Anstoß an einer Situation, die sie vorher als glücksbringend fraglos angenommen hat? Sind es ihre Beobachtungen und Gedanken, dass er um sie gefeilscht hat wie um ein Stück Vieh?
Sind es nicht unsere Bilder im Kopf, die diese 'moderne Sklavin' mit Leben füllen?
Die Frau bleibt fremd und kommt nicht wirklich 'näher' als würde sie von außen betrachtet. Als wäre es eine Stimme aus dem 'Off'.

Die 'blutlosen Augen' sind absichtsvoll gewählt, aber wird das krumme Bild dadurch besser?
Der letzte Satz ... der hat soetwas von einem missglückten (Wort-)Witz.
Aber ohne diese beiden Ausreißer wäre es trotzdem eine gute Geschichte, ein Versuch der 'Annäherung'. Vor allem ist sie flüssig geschrieben, vielleicht in der Rückblende ein bisschen zu nebulös.

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten