Sirius

-Minou-

Mitglied
Ich taumle, ergreife die Straßenlaterne, fange mich wieder.
Das Bild ist verschwommen, so wie die Pfützen auf der Straße, in denen sich quietschbunte Neonreklamen spiegeln.
Immer dieses Neon, das nichts Gutes verheißt.
Ich sollte mich setzen, es dreht sich schon alles.
Die Augen schließen hilft nicht weiter. Es ist, als ob mein Körper fest am Boden verankert ist, während mein Kopf sich um die eigene Achse dreht, immer und immer wieder, hineingezogen in einen unendlichen Sog sich wirbelnder Gedanken, die ich nicht richtig fassen kann.
Ich spüre den Drang, mich auf die Straße fallen zu lassen, hinein ins kühle Nass, keine Kraft mehr aufwenden müssen, um mich auf den Beinen zu halten. Aber verdammt, so betrunken bin ich doch noch nicht.
Lieber in Richtung der Neontafel, wie eine Mücke ins Licht und Schutz suchen in der Dunkelheit irgendeiner zwielichten Kneipe.

Ich trete ein und es riecht nach Räucherstäbchen.
Ich möchte den Ursprung suchen, immer der Nase nach, der Geruch beruhigt mich. Ich folge dem schmalen Gang, die Plätze scheinen alle belegt. Augenpaare sehen mich an, nur die Augen, keine Menschen dazu, höchstens schwarze Schatten.
Ich brauche Schutz vor den Augen ohne Körper.
In einer Ecke entdecke ich die Räucherstäbchen und ich folge ihrer würzigen Spur zu einem zerschlissenen Sofa. Ich lasse mich darauf fallen und der Stoff passt sich der Form meines Hinterteils an und nimmt es in Empfang, um es weich zu umschließen.
Ich atme die Räucherstäbchenluft und fange an, zu entspannen, das ganze miese Karma rauszulassen, das Karma dieses beschissenen Tages.
Ich schließe die Augen, tauche ein in ein endloses Schwarz. Ein Schwarz, das sich dreht, mir Angst machen könnte, es aber irgendwie nicht tut, sondern mich mitnimmt, auf eine Reise, die ich nie zuvor unternommen habe und die anders ist als andere Reisen, denn sie ist endgültig.
Dann berührt mich eine Hand. Ein Mann hat sich neben mich gesetzt und zu der Hand gehört glücklicherweise nicht nur ein Augenpaar, sondern auch ein ganzer Körper.
Der Mann hat kaum Haare, sein Glatzkopf sieht aus wie ein Babypopo und er lächelt mich schmierig an,
aber irgendwie ist er einer dieser Menschen, die einem leid tun, obwohl man nichts von ihnen weiß, sich einfach eine Geschichte zu der körperlichen Hülle ausdenkt und deshalb will ich höflich bleiben, auch wenn ich weiß, was auf mich zukommt.
„Hey Süße, lächel doch mal“, gluckert er.
Hallo déja vu, immer das Gleiche.
Ich fühle mich wie eine verdammte Wahrsagerin, aber irgendwie auch nicht, sonst hätte ich vorausgesehen, dass der Kerl jetzt seine schwitzende Hand auf mein Bein legt und sich die viel zu warme Feuchtigkeit schwer auf meinem Oberschenkel ausbreitet.
Ich verspüre den Drang, sie weg zu schlagen, aber ich wollte ja höflich bleiben, also werfe ich ihm ein so künstliches Lächeln zu, dass ich nicht glauben kann, dass er sich davon nicht provoziert fühlt.
„Funktioniert doch großartig“, frohlockt er und ich hoffe, ihm nun keine missverständlichen Signale entgegengebracht zu haben. Seine Schweißhand rutscht ein Stück weiter meinen Schenkel hoch in Richtung heilige Zone.
Lange kann ich nicht mehr höflich bleiben.
Dann sagt er noch irgendwas, aber ich kann nicht zuhören, bin wieder gefangen in dem Schwarz, alles vermischt mit Räucherstäbchenduft.
Wohliges, warmes Schwarz, aber ich weiß, es ist eine Falle, am Ende des Sogs erwartet mich nichts Gutes. Ich sollte den Ausweg suchen, aber alles ist viel zu schnell, dreht sich für immer in Richtung Unendlichkeit, keine Chance.

Oder doch? Inmitten der Wolken aus Nichts macht sich ein weißer Punkt breit. Schimmert, glitzert, funkelt.
Wird größer und größer, führt einen erbitten Kampf gegen das Schwarz. Hoffnung lodert auf.
Ein Duell auf Leben und Tod zwischen Giganten, die unterschiedlicher nicht sein können. Das Weiß füllt nun alles aus, blendet mich, droht mich zu verschlingen.
Ich öffne die Augen, zurückgeworfen in die Realität. Der schmierige Typ hat seinen Arm um mich gelegt
– den, der sich nicht gerade viel zu nah an meine heilige Zone getraut hat –
und ich spüre seinen stinkenden Atem, süß und gleichzeitig sauer, wie der Gestank von toten Ratten.

Aus Richtung der Bar kommt eine Gestalt auf uns zu. Zuerst sehe ich nur seine Aura, weiß und flimmernd. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder, um meine Alkoholvisionen zu verscheuchen und dann ist es nur ein Mann. Die Aura ist verschwunden, aber sie hat ihre Spuren hinterlassen. Der Mann trägt einen Anzug, der Krawattenknoten sitzt perfekt, wie eine Schlange liegt der Stoff um seinen Hals, fast kann ich die gespaltene Zunge sehen, aber zwei Sekunden später ist es doch nur wieder eine Krawatte.
Er hat helles Haar, nein – nicht nur hell – fast weiß, silbrig, aber nicht ergraut.
Er ist nicht alt, im Gegenteil. Er sieht jung aus, als wäre er gerade erst geboren, aber dennoch in der Blüte seiner Zwanziger.
Seine Haut ist ebenfalls hell, wie aus Pergament kreiert, strahlend und fest.
Keine Falten, als hätte man sein Gesicht gebügelt.
Er schreitet den Weg entlang wie in der Kirche zum Altar, inmitten einer Umgebung, die zu ihm in eindeutigem Widerspruch steht.
Ein Bildnis vollkommener Anmut in einer Sphäre voller Bierpfützen und jämmerlicher Gestalten.
Er bleibt stehen und mein Atem setzt aus. Alles ist ruhig, jedes Geräusch erstorben, zumindest kommt es mir so vor.
Wer ist dieser Mann, dieses Geschöpf?
Er setzt sich, erwidert meine Blicke nicht, nimmt mich nicht wahr.
Babypopo ist verschwunden, hat sich entmaterialisiert, in Luft aufgelöst, einfach so.
Jedenfalls habe ich sein Verschwinden nicht bemerkt.
Der weiße Mann ordert einen Martini und bekommt ihn
– zwei Sekunden später, so scheint es mir –
serviert, ebenso elegant und exotisch unter all den groben Biergläsern wie sein Besteller.
Er taucht die Olive in das Glas, lässt sie sich vollsaugen mit der glasklaren Flüssigkeit, drückt sie immer weiter runter, sie kann sich nicht wehren, aber sie will es auch nicht. Will nur immer weiter vollgesogen werden, bis sie platzt.
Er trinkt den Martini in einem Zug aus, gierig und gnadenlos. Er stellt ihn wieder ab, betrachtet das leere Glas, seine Schultern bleiben angespannt und steif,
keine Nachlässigkeit in seiner Haltung.

„Sie werden es noch bereuen“,
eröffnet er sich mir wie aus dem Nichts.
Seine Stimme ist fest, sicher, vertrauensvoll und dennoch distanziert, darauf bedacht, Abstand zu halten und gleichzeitig Nähe zu schaffen. Ich bemerke, dass ich starre.
Ihn anstarre, wie eine Sehenswürdigkeit, deren Anblick man fest in seine Erinnerung integrieren möchte, ein Foto im Gedächtnis, versiegelt für alle Zeit.
Ich frage mich, woher er davon weiß und er hebt den Kopf, sein Blick trifft mich wie ein Blitz, dringt durch mich hindurch, macht mich unsichtbar, verletzlich, aber ich möchte verletzt werden, möchte gesehen werden von ihm.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich gemeint bin, auch wenn ich es mir so sehr wünsche, doch sein Blick lässt keine Zweifel zu, es ist als gäbe es nur noch mich und ihn an diesem Ort der Schande, eine Insel von Zuversicht inmitten des tosenden Meeres.

„Sie haben dich gefeuert. Dein Mann hat dich betrogen.
Deine Familie sich von dir abgewendet. Aber Sie sind blind, unempfänglich für das Offensichtliche. Mach Ihnen keinen Vorwurf, denn Sie wissen es nicht besser.
Sie sind nicht dafür bestimmt, nicht so wie du“,
fährt er fort und ich frage mich ernsthaft, ob die Vodkaflasche, die ich geleert habe, bevor ich hier landete, sich nun an mir rächt und mich verrückt macht.
Bilder in mein Gehirn projiziert und Stimmen heraufbeschwört.
Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, aber der Kerl ist immer noch da. Ich will ihm antworten, aber ich kriege keinen Ton heraus, mein Körper ist mir plötzlich so fremd, ich weiß nicht einmal mehr wie man ihn bedient.
Der Weiße legt seinen knochigen Finger an die Lippen und gebietet mir zu schweigen.

„Es sind immer die gleichen Geschichten. Tagein, tagaus. Nichts Neues. So sind die Menschen. Immer dieselbe Leier.
Nichts auf dieser Erde bedeutet irgendwas. Verstehst du das?
Einige gehen daran zu Grunde, andere bemerken es nicht einmal. Und wiederum andere...“

Er macht eine bedeutungsschwangere Pause und nimmt die Olive behutsam aus dem Glas.

„...begnügen sich nicht damit. Manche schreiben neue Geschichten. Nie dagewesene.“
Er bleibt vor mir sitzen und lässt mich dennoch allein mit meinen Fragen, die sich in mir ausbreiten. Ich habe keine Kraft zu denken, versuche es, aber verstehe nicht. Das Schwarz kommt zurück und vernebelt mir den Verstand.
Dann packt der Weiße meine Hand und ich fühle eine unsichtbare Energie durch mich strömen, mich erfüllen und plötzlich wird alles klar, mit einem Schlag ist der schwarze Nebel verschwunden und auch der Alkohol.

„Auf Sirius schreiben wir ständig neue Geschichten, erleben Dinge, die kein anderer je zuvor erlebt hat.
Dort gibt es keine Trauer, Enttäuschung oder Resignation.
Jeder kreiert seine ganz eigenen Emotionen, seine eigene Welt. Auf Sirius kannst du alles sein.“

Er schaut weiter durch mich hindurch, sein Blick wird eindringlich, flehend, eine stumme Bitte ihm zu folgen und ich weiß nicht, wie ich dem Kerl sagen soll, dass es Zeit ist zu gehen, mich mit seinem Schwachsinn in Ruhe zu lassen, so wie ich es sonst tun würde. Weil ich irgendwie nicht glauben kann, dass es Schwachsinn ist, vielleicht ist es sogar realer als diese heruntergekommene Kneipe und ihre gebeugten Kreaturen, die immer die gleichen Dinge durchleben, tagein tagaus, immer dieselbe Leier. Nichts von Bedeutung. Was ist, wenn er Recht hat?

„Du weißt, was du zu tun hast“,
sagt er und fast wirkt er bedrohlich in dem verstaubten Kneipenlicht und aufgrund des auffälligen Kontrasts seines Anzugs zu seiner schneeweißen Haut.
„Ich werde am silbernen See mit einer neuen körperlichen Hülle auf dich warten. Dann wirst du dich auf die Reise begeben. Auf den fernen Planeten Sirius.“
Dann steckt er sich die pralle Olive in den Mund, zerkaut sie zu einer undefinierbaren Masse und nimmt sie in sich auf.

Mein Körper gehört immer noch nicht vollständig mir, deshalb nicke ich nur und lasse ihn ziehen, umgeben von seiner Glitzeraura, weiß und präsent in der Dunkelheit.
Und dann ist da wieder nur eine Kneipe, so wie es Tausende gibt, voll von Menschen, die aus denselben Gründen hierherkommen, tagein tagaus.
Und ja, ich weiß was ich zu tun habe.
Deshalb lasse ich die Neonlichter hinter mir, gehe ein letztes Mal vorbei an den unzähligen Augenpaaren, die mich neidisch auf meinem Weg hinaus verfolgen, aber letztendlich an diesem Ort zurückbleiben, während ich die kalte Nachtluft mich erneuern lasse.
Ich nehme ein Taxi und bezahle den Fahrer, sich zu beeilen und er ist ein guter Taxifahrer, aber mein Geheimnis kann ich nicht mit ihm teilen, auch wenn er es verdient hätte, aber es ist nur für mich bestimmt.
Zuhause lasse ich mir Wasser in die Badewanne ein, drehe den Hahn voll auf, so heiß es nur geht. Ich will die Hitze spüren, sie mich durchdringen lassen, wenn ich meine alte Existenz hinter mir lasse.
Ich ziehe mich vollständig aus und fühle mich rein, unschuldig, als ich mich in das Wasser lege und meine Sünden sich von mir lösen. Kurz zögere ich, obwohl ich nicht sollte, aber dann nehme ich den Föhn vom Badschrank, stecke ihn ein und schalte ihn an.
Sein monotones Röhren überführt meine Seele in eine andere Welt, während ich ihn in das heiße Nass fallen lasse.
Ich will neue Geschichten schreiben.
 



 
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