So nimm denn alles

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hermannknehr

Mitglied
So nimm denn alles

So nimm denn alles um dich her
als ein Geschenk, für dich gegeben,
denn Berge, Wälder, Sonne, Meer
sind auch ein Teil von deinem Leben.

Sieh diesen Stein zu deinen Füßen
und nimm ihn staunend in die Hand,
du wirst noch weit, weit wandern müssen
eh du begreifst, wer ihn erfand.

Und die Geschöpfe der Natur
sollst du nicht lieben oder hassen,
sie sind ja dein, du musst sie nur
gewähren und sie singen lassen.

Und füg´ dich ein in ihren Reigen,
lass´ dich nur treiben, lass´ dich gehn,
die Winde wissen, wann sie wehn
und wann sie flüstern, wann sie schweigen.
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo hermannknehr,

dein Gedicht spricht mich an, der Ton gefällt mir.

Zwei Stellen könnte ich mir auch anders vorstellen, doch muss es natürlich letztlich für dich passen.
Für Strophe 3, Zeilen 3+4 würde ich jedenfalls eine Lösung anstreben, die eine Häufung von "sie" vermeidet.

Sieh diesen Stein zu deinen Füßen,
[blue]betrachte ihn im halben Licht[/blue],
du wirst noch weit, weit wandern müssen
eh du begreifst, [blue]was er verspricht[/blue].

Und die Geschöpfe der Natur
sollst du nicht lieben oder hassen,
sie sind ja dein, du musst sie nur
[blue]gewahren und gewähren[/blue] lassen.
lg wüstenrose
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Wüstenrose,
es freut mich, dass Dir mein Gedicht gefallen hat. Vielen Dank auch für die Vorschläge. In beiden Fällen möchte ich aber bei meiner Version bleiben. Der Stein verspricht nichts, es ist nur rätselhaft, wie er entstanden ist. Und das "Singen der Dinge" ist eine Hommage an Rilke, der die Formulierung "singen und hören" als Synonym für das Leben der Natur und Kreatur verwendet hat.
LG
Hermann
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Hermann,

Kinder empfinden die Dinge genauso, wie Du es beschreibst, denn für sie ist ja alles neu und alles erfüllt sie mit Staunen und sie möchten alles erfahren, was in jedem Ding steckt. Wenn sie liebevolle Eltern und gute Lehrer haben, sind sie deshalb auch immer fröhlich, denn sie leben alles mit, was ihnen begegnet und leiden übrigens auch mit allem Traurigen mit.

Als Erwachsener sollte man sich eine gewisse Kindlichkeit bewahrt haben. Dann schaut man aus dem Fenster und sieht in vielen Augenblicken Phänomene, die man als unendlich schön empfindet, selbst wenn man sie schon 1000 Mal gesehen hat. Jedes Mal ist es wieder genauso schön und aufregend wie beim ersten Mal.

Man hört natürlich Rilke und Eichendorff aus Deinem Text, aber mich stört das nicht. Du hast Deine Art gefunden, diese Wahrheiten zu verdichten.

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Vera-Lena,
vielen Dank für Deinen positiven Kommentar. Du hast schon recht, ein bisschen Rilke weht bei mir meistens zwischen den Zeilen. Und Walter hat recht: letztlich sind wir alle irgendwie Epigonen. Mich stört es nicht, so lange man nicht versucht, den Dichter zu kopieren.
LG
Hermann
 

Herr H.

Mitglied
Lieber Hermann,

wunderbar fließende Verse, deren Rhythmus und Aussage mich sogleich gefangen nehmen. Die Natur als Geheimnis und Geschenk zugleich begreifen und sich hineingeben in ihren Gesang - das hat gewiss etwas von Rilke, aber vielleicht noch mehr von Franz v. Assisi.

Kleine Anmerkungen: In der zweiten Strophe, Z.4 würde ich neutraler schreiben: "wie er entstand". Und in den Strophen zwei bis vier würde ich jeweils nach der zweiten Zeile einen Punkt machen, weil stets vollständige Sätze folgen.

Sehr gern gelesen!

Liebe Grüße
Arnd
 
F

Frodomir

Gast
Hallo hermannknehr,

dein Gedicht spricht mich sehr an, harmonieren hier doch Inhalt und Form in einer fließenden und trotzdem zum Teil machtvollen Sprache.

Gerade die zweite Strophe ist mein persönliches Highlight, auch wenn man über den Vorschlag von Arnd, den letzten Vers davon neutraler zu gestalten, durchaus nachdenken könnte.

Das einzige, woran ich mich ein wenig aufhänge, ist die Essenz des Gedichtes, dass nämlich nun alles für den Menschen geschaffen sein soll. Diese Aussage, welche in Strophe 3 zu ihrem Höhepunkt gebracht wird

sie sind ja dein, du musst sie nur
beißt sich in meinen Augen ein wenig mit der Empfehlung, die du in der letzten Strophe anbringst. Die Inbesitznahme der Dinge würde doch die Eingliederung in den Reigen derselben verhindern, somit bleibt ein leichtes Dilemma.

Trotz dieser Anmerkung möchte ich gern sagen, dass ich doch begeistert bin, wie mich das Gedicht in sich aufgenommen hat, es war ein Erlebnis.

Viele Grüße
Frodomir
 

Tula

Mitglied
Nochmal Hallo

Das war jetzt Zufall, dass ich den Rilke beim anderen zitiert habe. Hier denkt man ja schon beim Titel an ihn :)

Ein wirklich schönes Gedicht, am meisten gefällt mir der Schluss:

die Winde wissen, wann sie wehn
und wann sie flüstern, wann sie schweigen.



LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
erwachse!

du wirst noch weit, weit wandern müssen
eh du begreifst, wer ihn erfand.
Gewiß: Eine kindliche Sichtweise ist für einen erwachsenden oder gar erwachsenen Menschen fruchtbar, sie hat das Staunen und die Neugier in sich.
Herr Tannhäuser verschließt sogar die Augen, um nicht "Italiens schöne Auen" sehen zu müssen, und dann gibt es auch so manchen, der sich täglich seine zweihunderttausend Hirnzellen totsäuft, um den Verstand nicht öffnen zu müssen.
Aber eigentlich ist es der Wert der Wissenschaften, schon auf schlichtem Schulbildungsniveau, daß man in ihre Erkenntnisse eintauchen darf, um noch mehr zu staunen, noch neugieriger zu werden, noch mehr Fragen zu stellen und die Erkenntnisse auf diese Weise fruchtbarer zu machen als das bloße Nochnichtwissen des Kindes es war.

Es ist sinnvoller, sich den Stein genau anzuschauen, anstatt über ihn hinwegzuwandern, jedenfalls dann, wenn man begreifen will, "wer ihn erfand".
Die Farben und Kristalle des Steines mit ihrer Durchsichtigkeit, Härte und Spaltbarkeit sagen dem, der es in Geographie gelernt hat, woraus er besteht und wie seine Substanzen sich gebildet haben.
Die äußere Form des Steines sagt dem, der ihn in seiner Hand wendet und der ihn mit anderen vergleicht, wie Wasser und Wind ihn geschliffen haben und mit welcher Seite er auf dem Boden gelegen hat, oder von welchem Felsen er abgesprungen ist.
Wie lautet noch der berühmte Vers von Blake über das "Sandkorn"?

Und Novalis: Die "Lehrlinge zu Sais", zweites Fragment: die Erzählung von dem einfältigen Schüler, der das richtige Steinchen in die Reihen legt, das missing link, wo die Entwicklungswege einander kreuzen. Novalis hatte Mineralogie bei Werner in Freiberg studiert.

Und der Wind, ja der Wind, - wenn der Wind weiß, woher er kommt und wohin er geht, dann wird er dem Geist, der von gleicher Freiheit ist, auch sagen, was er darüber weiß.
 

hermannknehr

Mitglied
Lieber Arnd,
danke für Deinen positiven Kommentar. Über Deine Vorschläge werde ich nachdenken. Das mit dem Stein werde ich wohl nicht ändern. "Wie er entstand" ist mir etwas zu naturwissenschaftlich. Ich wollte etwas übersinnliches mit hineinbringen.
Liebe Grüße
Hermann
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Mondnein,
Du hast ja einen regelrechten Besinnungsaufsatz über meinen Satz mit dem Stein geschrieben. Ich fürchte, ich habe mir bei der Formulierung des Satzes nicht halb so viele Gedanken gemacht, wie Du beim Lesen. Aber ich freue mich natürlich und fühle mich geehrt, dass er zu so vielen Gedankengängen anregen kann.
Liebe Grüße
Hermann
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
In der Tat, ja. Dein Vers regt den, der ihn wie einen Liedvers liest, sich mit Phantasie vorzustellen, "wer ihn erfand". Sieht aus wie ein Handwerker, der Wasser, Wind und Granit zu Instrumenten hat. Und er erfindet einen einzelnen Stein. Er macht sich einen Gedanken. Dann stellt er ihn her. Oder nicht Dann, sondern Indem er denkt, gestaltet er ihn. Die Winde sandstrahlen ihn und die Rinnsale spülen ihn an die Küste in dem Moment, wo er sich den einen Stein vorstellt. Und die Nachbarkörner. Und den Planeten und die Menschen, die ihn auf Schiffen und mit Düsenjets umkreisen.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Frodomir,
vielen Dank für das ausführliche Hineinlesen. Einen Schlüssel für mein Gedicht findest Du in Rilkes "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort", in dem es zu der Quintessenz kommt: "ihr bringt mir alle die Dinge um!"
Man muss die Natur nur atmen und leben lassen, oder wie es Rilke poetisch formuliert, du musst sie singen und hören lassen (Vgl. Sonette an Orpheus 1.Teil, Nr.20).dann gehört sie dir, und Du gehörst ihr. Du bist eins mit ihr. Alles ist eins.
Gruß Hermann
 



 
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