Staub

Anonym

Gast
Staub

Jetzt ist es also vorbei. Endlich kann ich aufatmen. Die Sorgen und Ängste sind von meiner Brust gefallen, sie ist nicht mehr eingeschnürt. Die Fesseln, die um meine Taille lagen, mir den Raum zum Atmen nahmen, meinen Oberkörper in ein Dreieck zwängten, dessen Hypotenuse meine Schultern bildeten, sind abgelegt. Abgeworfen. Zersprengt.

Endlich kann ich die Luft in den Lungen spüren.
Wie Metall – kalt, unverformbar, beständig und schwer – legte sich eine Niederlage nach der anderen um meinen Oberkörper.
Zunächst waren es nur kleine Ungereimtheiten, die sich auf meinen Brüsten ablagerten. Wie Staub an einem Tesafilmstreifen kleben blieben. Ein bisschen Staub, sagte ich mir, ist nicht schlimm, kommt in jedem Haushalt, in jedem Museum vor. Staub ist nicht schlimm, der ist ja nur klein, kaum sichtbar.
Irgendwann lag dann ein Haufen dort, ein grau-brauner Staubhaufen. Mitten im Weg lag er, ein Scheißhaufen aus Staub. Weil ich aber gerade das Bein gebrochen hatte, konnte ich mich nicht bücken, um den Haufen weg zukehren. Macht nichts, hab ich gedacht, bleibt er eben dort, ist ja nicht weiter tragisch.
Weil der aber nicht so schön aussah, so im Flur, hab ich ihn unter die Eckbank geschoben, mit dem Gipsbein, das ging gerade noch.

Ich lebte weiter, es legte sich weiterhin Staub ab. Manchmal fuhr ich mit den Fingern über die Möbelstück und der Staub blieb auf der Haut kleben.
Schließlich wurde mir mein Gipsbein angenommen, doch ich wollte nicht in der Vergangenheit wühlen, nicht alles noch einmal durchmachen! Also ließ ich den Staub dort, wo er war.

Plötzlich wurde es Herbst, die Blätter fielen: Meine Freunde ließen mich an meinem Geburtstag im Stich - eine Nacht vor einsamen roten Lidl-Wachskerzen, verlassenem Gurken-Tomaten-Salat und billig schlechtem Tankstellen-Rotwein. Mein Lidschatten und mein Kajal liefen mir über die Wangen, auf mein kirschrotes Samtkleid tropften Salzwasserperlen.
Na ja, hab ich gedacht - man kann ja nicht immer alles im Kopf haben. Ich hätte eben doch Einladungen verschicken sollen, die Gäste nicht per Telefon einladen sollen.
Verständnisvoll hab ich genickt, hab sogar gesagt „Is‘ ja nicht so schlimm... kann ja jedem mal passieren...“ als meine Bekannten mit ihren Entschuldigungen und Ausreden vor meiner Tür standen. Ich hab gelächelt und alles war wie vorher: Wir hatten Spaß, haben gelacht, haben zusammen Cafe getrunken, in den Ferien haben wir uns gegenseitig die Wohnung gepflegt.
Dass der Staub immer noch auf den Bücherregalen und Fensterbänken lag, hab ich nicht gesehen – Oder nicht sehen wollen...

Dass es Herbst war, hab ich lange nicht gemerkt. Selbst der Stress im Büro schien mir nichts zu machen. Eine blonde, schlanke Frau - ihre Beine waren länger als ein Queue, ihre Brüste perfekter als Perlen - wurde eingestellt, in mein Team und saß mir gegenüber. Direkt vor mir saß sie, hinter ihrem neuen Schreibtisch.
Ich konnte sie vom ersten Augenblick, in dem sie in den Raum trat, ihre perfekt frisierte Lockenmähne, in der sich kein Haar mit einem anderen verfing oder gar verknotete, hinter die Schultern warf, nicht ausstehen. Ihre Lippen waren zu rot, ihre Nägel zu sauber lackiert und ihre Laune zu gut.
Jeden Tag lächelte sie jeden an, der ihr über den Weg lief. Nie kam sie zu spät, sie war immer hellwach, aufmerksam und auf dem neusten Stand. Und natürlich wusste sie alles besser. Sie war ja gerade von der Uni, hatte gerade ihr Germanistikstudium abgelegt – mit Bravour versteht sich. Da konnte ich, mit meiner Mittleren Reife, meinen Praktika und vielseitigen Auslandserfahrungen natürlich nicht mithalten. Ich konnte sagen, was ich wollte – sie gewann.
Mir wurde es auch bald zu blöd und zu anstrengend, um jeden Schritt, jedes Fitzelchen Recht zu kämpfen. Am Ende setzte sie sich sowieso durch.

Der Job kostete mich viel Kraft. Wenn ich abends nach hause kam, fiel ich nur noch müde ins Bett. Ich war zu schlapp, um noch etwas zu tun.
Am Wochenende erledigte ich das, was ich die Woche über nicht geschafft hatte.
– Nur den Staub, der immer dichter wurde und sich in die Möbel biss, hab ich nicht aufgewischt.

Weil ich die Wochenende für meinen Haushalt, mein Auto, Finanzkram brauchte, blieb keine Zeit mehr für meine Freunde. Ich hab es einfach nicht geschafft, jemanden anzurufen.

Nach meinem Geburtstag wollten sich einige bei mir entschuldigen, zur „Entschädigung“ mit mir ausgehen. Tatsächlich hat sich, drei Monate später, eine Freundin gemeldet. Eine!
Wir gingen zusammen ins Kino – doch, der Film war schon gut... Aber es war eben wie sonst auch: Sie, in ihrem schwarzen Mini und dem mohn-rotem Lippenstift, war sich ihrer Attraktivität bewusst und verknüpfte diese mit Charme. Und zog so alle Blicke der hungrigen Männer auf sich.
Nach dem Film gingen wir noch ins „TwoStep“, um uns etwas zu "amüsieren". Das Diskolicht war grell, ich kniff die Augen zusammen, während sich meine Freundin mit Jörg, oder wie er auch immer hieß, auf der Tanzfläche räkelte.
Ich trank ein Glas Rotwein zuviel und konnte mich am nächsten Morgen an nicht mehr Viel erinnern. - Oder jedenfalls spielte ich mir das vor.

Na ja, so war es eben. Staub, nichts als Staub.

Keiner hat es gemerkt, keiner hat gesehen, wie einsam ich war. Einmal rief ich nachts bei meiner Freundin an, weil es mir nicht gut ging. Geheult hab ich, weil ich es nicht mehr aushielt, diese Einsamkeit. Ich hab kaum ein Wort raus gebracht. Hab sie bloß gebeten zu mir zu kommen.
Als ich innehielt merkte ich, dass sie ganz außer Atem war. Sie säuselte irgendwas von wegen tief durchatmen, morgen sieht alles besser aus bla bla bla.
Eine Stunde saß ich still am Fenster und sah in die Nacht. Hab mich „gefangen“, nicht mehr geheult. Dann hab ich gerafft, dass sie nicht kommen wollte. Eine Stunde später erst kapierte ich, warum sie so außer Atem war - Sie hatte Herrenbesuch, ich hatte zum falschen Zeitpunkt angerufen.

Und irgendwann läuft das Fass eben über. Da gibt es kein Wenn und Aber mehr. Da zählt nur noch das Jetzt und Hier. Und das war scheiße.
Also hab ich meine Sachen gepackt, meine Tagebücher und meine Briefe. Keiner sollte wissen, warum ich das getan habe. Keiner. Ich wollte mysteriös verschwinden.
Ich stieg in mein Auto und fuhr los. Zur Elbe. Ich mag das Wasser, hab mich immer wohl gefühlt, wenn ich baden oder schwimmen durfte, als Kind schon. Ich bin eben ein Wassermensch. Also fuhr ich zum Fluß, zur Elbe. Nein. Ich fuhr nicht zur Elbe. Ich fuhr in die Elbe.

Das Tagebuch und die Briefe haben sich aufgelöst, ebenso wie die Fesseln, die um meine Taille lagen. Nur diesen hier, diesen Brief, hab ich nicht mitgenommen. Ich hab ihn auf den Küchentisch gelegt, so, dass ihn die Kommissare gleich finden. Warum? (An den Herrn Hauptkomissar) Ich wünsche mir eine gute Überschrift in der Zeitung – „Tot im Fluss“ hört sich bescheuert an. Schreiben Sie doch bitte „Eingestaubter Gurkensalat“, oder so. Bringen sie bitte etwas Persönliches mit rein. Einmal will ich noch Mensch und mehr, als nur ein Fall sein. Dann können sie mich antakta legen.
 



 
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