Swing Heil

disul

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Swing Heil
„La, la, la, la“, johlt der Bengel vom Wasserspeier am Planschbecken herunter. Seine Schwester, die vor ihm sitzt, auch lalalend, versucht, mit ihrer rechten Hand, die Wasserfontäne zu erreichen. „Ba, di, du, ba“, tönt es aus dem Koffergramophon hinter der Linde hervor. Es ist bald drei Uhr. Zu dieser Zeit sind nicht viele Spaziergänger im Stadtpark. Nur hie und da sieht man Frauen mit Kinderwagen oder mit Kleinkindern an den Händen oder Männer in Uniformen, deren Feldmützen die glattrasierten Köpfe verbergen.
„Mir gefällt Haizmanns Wasserspeier“, meint Amalie und zeigt auf die Bronzeskulptur. 1930 wurde sie hier am Kinderspielplatz Humboldstrasse aufgestellt und schon seit damals, es ist nun sechs Jahre her, scheiden sich die Geister. Für die Nazis ist es eindeutig: Kategorie „entartete Kunst“.
„Und mit den fröhlichen, singenden Kindern als Reiter gefällt mir die Statue noch besser.“ „Dekadent“, gibt ihre Freundin Marlene neckend zurück. Genüsslich zieht sie an ihrer Zigarette, die in einer langen, goldenen Spitze steckt. Hand in Hand hotten die beiden in Richtung Linde. Diese Musik! Diese wunderbare, lebensfrohe Musik, die aus dem Kofferradio hinter der Linde ertönt!
Gross ist die Begeisterung der beiden Mädchen und vieler anderer Hamburger Jugendlichen für diese Musik. Dem Swing passen sie ihr Verhalten und ihre Lebensart an. Eine Geschlechtertrennung, auf die die Nazis besonderen Wert legen, gibt es in den Swing-Cliquen nicht.
Der würzige Tabakrauch von Jonnys Pfeife steigt in die gepuderten Nasen der beiden stark geschminkten Mädchen. Die Pfeife gehört zu Jonny wie der Regenschirm und der breitkrempige Hut. Unter dem wadenlangen, fast weissen Staubmantel sind seine anderen Kleidungsstücke kaum auszumachen.
Die frühsommerliche Wärme scheint Jonny nichts anhaben zu können. Lässig stützt er sich an den Stamm des Baumes und beobachtet genüsslich die beiden sechzehnjährigen Mädchen: Marlene in ihrem kurzgeschnittenen, körperbetonten Kleid, Amalie in Hosen und Jackett mit breiten Streifen.
Mit einem „By, Jonny, wir müssen“, verabschieden sich die beiden Freundinnen. „Bis heute Abend“, fügt Marlene noch im Weggehen hinzu. Den Weg durch den Park gehen die Mädchen schweigend, wie immer nach dem “Wir müssen.“
Ihre beste Freundin Marlene kennt Amalie schon seit Beginn der gemeinsamen Gymnasiumszeit.
Marlene war ihr auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Amalie hörte bei der Vorstellung im Klassenzimmer, dass Marlene aus einer Bankiersfamilie kam und dass sie zwei ältere Brüder hatte. Als Tochter eines Meisters mit Druckerei, Buchbinderei und Schreibwarenladen rechnete sich Amalie kaum Chancen bei Marlene aus. Dem war aber nicht so. Marlene trat schon in der ersten grossen Pause auf Amalie zu und sprach sie an. „Wollen wir Freundinnen werden?“ Amalie guckte sie staunend an. Aber Marlene nahm einfach ihre Hand. So unkompliziert fing eine wahre Freundschaft an. Bald schon begannen die beiden Mädchen nach der Schule gemeinsam zu lernen. Einmal bei Marlene in ihrem prächtigen Zimmer in der pompösen Villa, einmal bei Amalie in ihrer beschaulichen Kammer. Marlene gefiel es trotz der bescheidenen Einrichtung gut bei Hoffmanns, und den Hoffmanns passte die Freundin ihrer Tochter auch.
Alle schätzten sie die nachmittäglichen Gesprächsrunden in Amalies Elternhaus. Marlene erzählte viel von ihrer Familie, und Amalies Eltern gefiel besonders, was Marlene von ihrem Bruder Konrad berichtete. Mehrere Male baten sie Marlene, ihren Bruder doch zu den nachmittäglichen Plauderstündchen mitzunehmen. Ihren Gastgebern zuliebe tat sie das. Und ihrem Bruder gefiel es auch bei Hoffmanns. Mit Amalies Vater politisierte er zuweilen noch weiter, auch wenn die anderen die Teestunde bereits beendet und die Stube verlassen hatten. Aber am besten gefiel ihm Amalie.
Über Marlenes außergewöhnliches Äusseres schauten Hoffmanns hinweg, sahen sie doch in ihr eine Chance für ihre Tochter, in die besseren Kreise Hamburgs aufzusteigen. Eine spätere Heirat mit Marlenes Bruder Konrad hätten sie gerne gesehen. Und die verstohlenen Blicke Konrads, die ihrer Tochter galten, ließen sie hoffen.
Marlene wusste als einzige von Amalies größtem geheimen Wunsch. Dieser war nicht, ihren Bruder Konrad zu heiraten und in die gehobenen Kreise aufzusteigen. Sie wollte Mathematikerin werden. Amalie war klar, dass das nicht dem Wunsch der Eltern entsprach.
Auch Marlene hatte keine Geheimnisse vor Amalie. Vor gut einem Jahr berichtete Marlene, dass sie durch ihren Bruder Ritschi, der eigentlich Richard hiess, ein paar Swing-Kids kennen gelernt hätte. Crazy sei’s mit denen. Funny sei ihre Kleidung. Und überhaupt: Das sei wahrer livestyle. (Sicher, dass es diesen Ausdruck damals schon gab? Da müsste man recherchieren) Jungs mit langen Haaren statt Führerschnitt, Jacketts statt Uniform, Tanztees statt Hitlerjugend, Plattentauschen statt Hausarbeit, Happiness statt Krieg. Liberty!
Durch Marlene lernte Amalie diese Liberty kennen. Nicht nur die Sprache der Swing-Kids mit den vielen englischen Ausdrücken und die Kleidung gefielen Amalie. Ihre Einstellung, ihr Drang nach Freiheit und nach Demokratie und nach einem anderen Leben, ihre Freude, all das tat Amalie unendlich gut. Für ein paar Stunden genoss sie die Hoffnung auf Gleichheit und Frieden. Und sie liebte es, mit Ritschi zusammen von dieser bessern Welt zu träumen.
Langsam nähern sich die beiden Freundinnen dem Ende des Parks. „Meine Eltern können mich mal“, schimpft Amalie und beendet schlagartig das Schweigen. Mit beiden Händen greift sie sanft aber trotzig in ihre dauergewellten, schulterlangen, schwarzen Haare. Vor drei Stunden erst fielen die alten, dunkelblonden Zöpfe unter den kontrollierenden Blicken ihrer Freundin in einem Frisiersalon der Stadt.
„Zum Glück ist dieses Versteckspielen vorbei“, wettert Amalie weiter. „Dieses angepasste, scheinheilige Getue meiner Eltern, das ewige Schweigen meiner Mutter. Und Vater liebäugelt sogar mit der NSDAP. Du solltest mal sehen, was für ein Getue er wegen der Hitlerjugend macht. Dass dein Bruder Konrad auch bei der HJ ist, ist für ihn das Höchste. Kannst du dir vorstellen, wie sie auch mich für ein Mitmachen begeistern wollen? Wie ich das alles hasse! – Marlene, heute bin ich endlich bereit, mich zu bekennen, meinen Wunsch zu äußern. Ich will studieren! Und ich will nicht mit deinem Bruder in diese HJ gehen!“
Marlene umarmt ihre Freundin und führt sie an der Hand in ihr Zimmer. Amalie zieht das Jackett, die Seidenbluse und die lange Hose aus. Wie immer, wenn die beiden Freundinnen, in den Park spazieren gehen, Tanztees besuchen oder mit Ritschi zu Jonny gehen, wechselt Amalie ihre Kleider bei Marlene.
Nach dem Umkleiden begleitet Marlene ihre Freundin nach Hause. Heute wählen die beiden Freundinnen nicht den gewohnten Weg durch den Schreibwarenladen. Sie nehmen den Hauseingang, entledigen sich im Hausflur ihrer Mäntel und setzen sich schweigend und wartend in die Stube. Die Standuhr schlägt vier. Ein paar Minuten später betritt Vater zu gewohnter nachmittäglicher Zeit die behagliche Stube. Sein fröhliches „Hallo, meine Mädchen“ geht im Nu in ein bedrohliches „Magda, komm und schau die Hurenfrisur deiner Tochter an!“, über. Mutter betritt den Raum, zögert. Das Tablett mit dem Teegeschirr entgleitet ihren Händen. Kreideweiss steht sie da. Einige Minuten herrscht Stille im Raum. Die beängstigende Stille vor den kommenden Donnerschlägen.
“Ab sofort arbeitest du hier im Betrieb“, grollt es los. Fertig mit Schule und fertig mit Freundin Marlene. Heute noch werde ich mit Konrad sprechen. Ich will, dass er dich fortan in seine Jugendgruppe mitnimmt. Konrad und ich werden dich schon zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft erziehen. Und nun macht, dass ihr rauskommt. Und du missratene Schwester eines rechtschaffenen Bruders, lasse dich nie mehr hier blicken“.
Erst am nächsten Mittag sieht Amalie ihren Vater bei Tisch wieder. Anfänglich spricht er kein Wort. Und wie fast immer sitzt auch die Mutter schweigend über ihrem Essen. Plötzlich beginnt Vater mit unerwartet ruhiger Stimme zu sprechen. Er berichtet vom gestrigen Besuch Konrads. Dieser habe sich ziemlich entrüstet über seine verwirrte Schwester und auch über seinen jüngeren Bruder geäussert. Nicht zuletzt sei Marlene - und nur sie - an Amalies Fehlverhalten schuld. Auch die Frisurenidee sei Marlenes wirrem Hirn entsprungen. Konrad hätte ihm, dem Vater, in die Hand versprochen, Amalie von der Swing-Szene fernzuhalten und ein Wiedersehen mit seiner Schwester und mit seinem Bruder zu verhindern. Dieser Tatsache und der Überzeugungskraft Konrads habe ihm Amalie nun zu verdanken, dass sie zu Beginn des neuen Schuljahres - dies sei ja schon in drei Monaten - wieder aufs Gymnasium gehen dürfe. Wohlverstanden: Eine Klasse unter Marlenes Klasse. Diese Umteilung würde keine Probleme ergeben, gehe doch der Rektor des Gymnasiums bei Konrads Eltern sozusagen ein und aus. Und noch heute nähme Konrad Amalie mit zum Treffen der HJ.
Und durch Konrad und ihren Vater lernte Amalie diese Nicht-Liberty kennen. Sie vergass die Sprache der Swing-Kids mit den vielen englischen Ausdrücken und ihre Kleidung, aber an ihre Einstellung, aber an ihren Drang nach Freiheit und nach Demokratie und einem anderen Leben, an ihre Freude und an Ritschi dachte Amalie oft und das gab ihr Halt. Und nie schaffte es jemand, ihr die Hoffnung auf Gleichheit und Frieden zu nehmen.
 



 
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