Tagesrand

4,30 Stern(e) 3 Bewertungen

Nosie

Mitglied
Tagesrand

Ich liege schon eine Weile wach, bevor ich mit einem Ruck die Füße aus dem Bett werfe. Heute wird nicht mein großer Tag. Der wird es nie mehr in letzter Zeit, aber das macht nichts, meine großen Tage hatte ich, ich bin dankbar und satt. Bevor der Entschluss aufzustehen an die Oberfläche gelangen kann, wälze ich mich gequält hin und her in dem Versuch, das Grauen abzuschütteln, das mich seit Monaten fast jeden Morgen überfällt. Ich hänge zwischen den Welten, noch nicht denkend, nicht mehr träumend. Ich nehme nichts wahr ausser diesem Gefühl, das weniger als ein Gefühl und keine Angst ist – Angst wäre eine Erlösung dagegen.
Ich weiß nicht, was mich da jeden Morgen anstiert, bevor sich der vernünftige Teil von mir durchsetzt und seine Tätigkeit aufnimmt. Ich bin wach und bin es nicht. Etwas derart Unmenschliches glotzt mich an, dass ich keine Sprache dafür finde, auch keinen Vergleich mit irgendeiner realen Erfahrung.
Abgrund ist nicht das richtige Wort, obwohl es dem, was ich empfinde, noch am nächsten kommt. Doch Abgründe haben Begrenzungen, haben einen Rand, über den man in die Tiefe starrt und wenn man fiele, gäbe es immerhin ein Ankommen, ein Aufschlagen und ein Ende. Mein Abgrund ist bodenlos, er hat keinen Rand und ich falle nicht. Es gibt mich nicht mehr, nur mehr das Grauen der gesamten Menschheit auf meinem Polster gebündelt, dort wo mein Kopf liegt. Solange, bis es mir gelingt, ein loses Ende meines Verstandes zu erhaschen, es mit den äußersten Auslegern meines Bewusstseins festzuhalten, zu mir heranzuholen und mich auf die erlösende Zauberformel zu konzentrieren: Zieh die Knie an und wirf die Beine aus dem Bett, zieh die Knie an, die Knie, hoch mit dir, tu es, JETZT!

Danach ist es wie immer. Alles normal, die Zeit zwischen Erwachen und Aufstehen nur ein böser, dummer Traum. Solange ich die Zauberformel habe, kann mir nichts geschehen. Doch es dauert immer länger, bis ich sie finde. Ich ahne, dass die losen Enden meines Verstandes weniger werden könnten, vergleichbar mit einem begrenzten Vorrat an Streichhölzern.

Ist es eine Ahnung von dem was kommt? Eine schlecht eingestellte Tür, die sich erst nach dem Erwachen zu spät wieder schließt? Eine Warnung?
Ich wünschte, ich könnte zurück in die Ahnungslosigkeit.
 

Kölle

Mitglied
Hallo Nosie,

ich mag den Text. Dieses "Morgengrauen" kann ich gut nachvollziehen, auch wenn mir das Aufstehen aus einem anderen Grund schwer fällt...

Wo ich dir nicht richtig folgen kann, ist der letzte Absatz, in dem du von der Ahnung sprichst. Mir scheint der Raum zwischen Aufwachen und Aufstehen doch recht "real" zu sein. Warum Ahnung? Warum Warnung? Ist es eine Ahnung über die Zukunft oder Warnung vor ihr?

Auch wenn ich nicht den Anspruch habe, bei Texten alles verstehen zu müssen, würde ich mich in dem Fall freuen, wenn du mir helfen könntest, den Absatz zu verstehen?!

LG Kölle
 

Nosie

Mitglied
Ahnung

Lieber Kölle,
Danke für deine Rückmeldung, es freut mich, dass dir mein Text gefällt.
Ich frage mich manchmal, ob dieser Zustand nach dem Erwachen, bevor der Verstand einsetzt,und den ich manchmal als äußerst grauenvoll erlebe, dem nahe kommt, wie sich Menschen fühlen, denen der Verstand nicht mehr gehorchen will, demente Menschen, Alzheimerpatienten. Merkt man selber, wenn es beginnt? Deshalb "Ahnung".

Mit Warnung, meinte ich einfach eine Warnung des Unterbewusstseins, etwas anzuschauen, was unter der Oberfläche brodelt, Ein Wink mit dem Zaunpfahl sozusagen. Ansonsten winkt das Unterbewusstsein ja eher sehr verschlüsselt in Träumen.

Aber keine Sorge, ich bin ganz gesund, das menschliche Gehirn ist halt einfach mein Steckenpferd.

Liebe Grüße
Nosie
 

Kölle

Mitglied
... und der entgleiste Geist zeigt sich ja gern kaleidoskopartig bunt und strukturiert und fraktioniert. Genau das Richtige für Menschen wie dich, die sich für das menschliche Gehirn interessieren.

Aber - liebe Nosie - danke für deine Erklärung, in die Richtung hatte ich "geahnt".

Noch eine Anmerkung: Im Grunde beschreibst du das Aufstehen in einem Zustand der Ahnungslosigkeit. Erst im letzten Absatz verlierst du deine "Unschuld" durch deine Gedanken, die in die Zukunft reichen.

Wenn du auf den letzten Absatz verzichten würdest, ist der ganze Text in einem Zustand einer gewissen Ahnungslosigkeit geschrieben. Durch den Verzicht erreichst du als Schreiberin das, was sich die Erzählerin wünscht.

Nachteil: Die Erzählerin kann diese Sehnsucht nach Ahnungslosigkeit nicht mehr erwähnen, weil sie sie ja (im Schreiben) erlebt.

Unabhängig vom Text: Ist Demenz und Alzheimer in einem fortgeschrittenen Zustand nicht auch ein Zustand von Ahnungslosigkeit/Gedankenlosigkeit?

Ich hoffe mich nicht zu sehr in deinen Text eingemischt zu haben. Aber es lag mir auf der Zunge.

LG Kölle
 

Nosie

Mitglied
Lieber Kölle,

Unabhängig vom Text: Ist Demenz und Alzheimer in einem fortgeschrittenen Zustand nicht auch ein Zustand von Ahnungslosigkeit/Gedankenlosigkeit?
Möglich, wir wissen es nicht. Wir bestehen aus vielen Schichten und die kognitive (wissende) Ebene ist nur eine davon.

Ich möchte meinen Text eigentlich gar nicht so sehr durch den Filter des Verstandes betrachten. Du hast schon sehr viel hinein interpretiert, was ich so gar nicht im Sinn hatte.

Jedenfalls nochmal meinen Dank für dein Feed Back.
Liebe Grüße
Nosie
 

Kölle

Mitglied
Liebe Nosie,

ja, es ist schrecklich, wie sehr man versucht, fremdes Material/fremde Texte so zu verändern, dass sie einem angenehm werden und dass man sie besser akzeptieren kann. All unseren schlaumeierischen Ratschläge dienen nur dazu, das Andere geschmeidiger für uns zu machen. Es kommt mir vor, als würden wir deshalb so viel Ratschläge und Korrekturen geben, damit wir uns die Texte der anderen besser "einverleiben" können.

Sorry, ich habe mich da nicht immer im Griff und stelle mich manchmal mit meinen Kommentaren so pseudo-wichtig in den Vordergrund, dass die eigentliche Geschichte - deine! - hinter einer Wand meiner Ich-bezogenen Kommentare verschwindet.

Ich wünschte, ich könnte zurück in Ahnungslosigkeit.
Im Zusammenhang mit Text-Kommentaren bedeutet das für mich, dass ich Texte versuche so zu lesen, als gäbe es nur die Gedankenwelt des Schreibers, während ich selbst keine Gedanken habe - ahnungslos bin. Und wenn ich ahnungslos bin und selbst nicht weiß, was er meint, was er meinen könnte, wenn ich selbst also ohne "wissenden" Gedanke bin: dann kann ich Texte nehmen, wie sie kommen, und habe nicht das Bedürfnis, sie mir mundgerecht zu korrigieren und kommentieren. Dann - das bilde ich mir ein - komme ich der Weltwahrnehmung des Autoren vielleicht nahe.

LG Kölle
 

Nosie

Mitglied
Lieber Kölle,

Da sagst du etwas sehr Wahres. Die reine Möglichkeit in diesem Forum, einen Kommentar abzugeben, verändert schon beim Lesen die Sicht auf den Text und seine Wirkung und jagt ihn durch den Filter der subjektiven Wertung.

Lieber Kölle, sag bitte weiterhin, was immer dir auf der Zunge liegt, deine Kommentare und Gedanken sind mir willkommen.

Liebe Grüße
Nosie
 



 
Oben Unten