Tantes Bertas Sofa

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clarat

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Tantes Bertas Sofa

Es hatte im Mund angefangen. Hallström verspürte eine Trockenheit, die durch nichts zu befeuchten war. Morgens, wenn er erwachte, klebte seine Zunge am Gaumen. Fast hatte er schon Angst, er könne den Mund nicht mehr öffnen. Jeder Atemzug schien ihm zusätzlich Feuchtigkeit zu entziehen. Er begann deshalb, darauf zu achten, dass er sich nur langsam bewegte und nicht ins Keuchen kam. Aber es half nicht. Also trank er.
Er hatte nie darauf geachtet, wieviel er trank, aber jetzt war es jedenfalls sehr viel: Wasser, Saft und Limonade, Kräutertee, auch Bier oder Wein. Durstig war er nicht. Aber es schien ihm als ziehe sich sein Mund zusammen, als schrumpften Zunge, Gaumen und Wangen vor lauter Trockenheit. Das Trinken half jedoch nicht, und so ließ er es schließlich bleiben. Das Essen schmeckte auch nicht mehr, also ließ er auch das. Und wie das so geht, wenn man nicht mehr isst und wenig trinkt, Hallström wurde leichter. Auch magerer wurde er, aber das war ihm egal. Er fühlte sich leichter. Er fühlte sich ständig leichter werden. Ja, er meinte fast, schweben zu können. Aber das trockene Gefühl im Mund blieb.
Eines Tages traf er seine Tante auf der Straße. Tante Berta war schon sehr alt. Sie war schon alt gewesen, als Hallström noch ein kleiner Junge war. Damals hatte er immer bei ihr auf dem Sofa gesessen, wenn seine Eltern sie besuchten. Er hatte süßen Sirup mit Wasser zu trinken bekommen. So etwas Seltsames gab es sonst nie: Sirup mit Wasser. Kinder tranken Milch oder Kakao, Saft oder Limonade. Was Sirup war, wusste er nicht genau, auch nicht, wofür Tante Berta es zu verwenden pflegte, da sie doch immer welches im Haus hatte. Der süße Geschmack des meist roten, manchmal auch grasgrünen wässrigen Getränkes kam ihm jetzt wieder in den Sinn. Hallström, groß geworden, begleitete nun seine Tante nach Hause. Sie bat ihn, auf dem Sofa Platz zu nehmen und bot ihm eine Tasse Kaffee an. Aber er wollte Sirup. Heute wollte er Sirup.
Tante Berta schaute ihn erstaunt an.
„Ich habe schon Kaffee getrunken“, beeilte er sich zu erklären. Sie nahm es hin, ging in die Küche und bereitete den Sirup zu. Dann saßen sie beisammen, Hallström auf dem Sofa mit einem Glas Sirup und Tante Berta im Sessel, plaudernd.
Der Sirup schmeckte wie früher. Nicht besonders fruchtig und nicht besonders gut, eher süß und wässrig. Aber was hatte er denn erwartet? Ein Wunder vielleicht? Er wusste es nicht. Hallström lehnte sich zurück und hörte seiner Tante zu, die von den Eigenheiten ihrer Nachbarin erzählte. Das Sofa war weich und groß und sehr gemütlich. Außerdem war es rot.
„Wo ist denn dein altes Sofa?“ fragte er erstaunt.
„Du sitzt drauf“, erwiderte die Tante, „ich habe es neu beziehen und polstern lassen. Gefällt es dir nicht?“
Jetzt fiel ihm auf, dass er auch ganz anders saß. Hallström war schon so daran gewöhnt, leichter zu sein, dass es ihn kaum wunderte, dass Dinge sich anders anfühlten. Aber das Sofa war früher nicht nur weicher, sondern der Bezug war auch irgendwie rau gewesen. Wenn er im Sommer kurze Hosen getragen hatte, war das ein ganz seltsames Pieksen gewesen und eine Art kribbeliges Schwitzen auf der Unterseite der Beine.
Er nahm noch einem Schluck Sirup.
„Das alte war auch ganz schön“, sagte er.
„Ha! Weisst du nicht mehr, wieviel Sirup du darüber gekippt hast?!“
Oh. War das so oft passiert? Dass ihm das Glas, das er meistens auf der Sofalehne abstellte, umkippte. Klebrig war das dann, alles war klebrig von dem süßen Sirup. Und kühl von dem Wasser.
„Gibst du mir noch ein Glas?“
„Von dem süßen Zeug? Aber Junge, was ist denn heute los mit dir?“
Hallström wusste es nicht. Er wusste nur, dass er endlich wieder etwas schmeckte, was nicht trockener Mund war. Tante Berta lächelte und brachte ihm noch mehr Sirup. Dann fing sie an zu erzählen, wie es früher gewesen war, als Hallström noch ein kleiner Junge in kurzen Hosen war, der sie mit seinen Eltern besuchen kam und für den sie nur Sirup hatte, nie Coca Cola. Sie amüsierte sich glänzend dabei, und Hallström hörte zu, nickte manchmal und einmal grinste er sogar.
Kurze Hosen, ja, die müsste er mal wieder tragen. Wie sich das Sofa mit dem neuen Bezug wohl anfühlte?
Es war spät am Abend, als er nach Hause wankte. Von Sirup wird man normalerweise nicht betrunken, aber Hallström war es. Vielleicht hatte die Tante auch etwas anderes hineingemischt. Alte Leute wissen manchmal sehr genau, was man trinken muss, um wieder zu Kräften kommen. Hallström hatte nicht gewußt, dass es ihm überhaupt an Kraft fehlte. Aber jetzt fühlte er sich wieder stark. Der trockene Geschmack im Mund war weg. Das Käsebrot, das die Tante ihm gegeben hatte, war das Schmackhafteste, das er seit langem gegessen hatte.
Später im Bett fiel ihm ein, dass er noch eine kurze Hose im Schrank hatte. Es wurde Zeit, sie wieder einmal zu tragen.
 
H

HFleiss

Gast
Tante Bertas Sofa

Ja, das ist so ein Schmunzeltext, den man in Zeitungen findet, und dann faltet man sie zusammen und hat ihn in der nächsten Minute vergessen. Nicht so ich. Ich kenne nämlich den Sirup sehr genau, er begleitete mich meine ganze Kindheit hindurch, er war billig und schmeckte auch so. Und wenn man sich heute die Mühe macht, die Getränkeecke im Supermarkt (meine ostdeutschen Leser mögen mir verzeihen) zu durchforsten, findet man ihn noch: den Himbeer-, den Kirsch- und den Waldmeistersaft. Soviel zum Sachlichen. Aber jetzt bewegt mich noch eine Frage: Gibt es einen inneren Kopf? Wie sonst könnte man ihn "innerlich" schütteln? Solltest du damit die Gehirnmasse gemeint haben, wäre es nützlich, wenn der Ich-Erzähler diese auch schüttelte. Selbstverständlich, dass er dann auch seinen äußeren Kopf mitschütteln muss.

Lieben Gruß
Hanna
 

clarat

Mitglied
Hallo Hanna,

danke für deine Antwort. Ich habe das Kopfschütteln rausgenommen; der Ausdruck sollte eher ein Gefühl beschreiben als einen sichtbaren Vorgang. Wenn man drüber stolpert, war er wohl nicht so passend.
Aber was meinst du mit dem Ich-Erzähler?

Grüße
clarat.
 



 
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