Todesursache unklar

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Todesursache unklar
Die Zeit der drei Programme war längst vorbei. Damals hatte Mutter immer auf dem Stuhl neben dem Sofa gesessen und sich beim Fernsehen mit dieser oder jener Handarbeit befaßt. Die Programmhöhepunkte hießen: "Was bin ich?" und "Einer wird gewinnen". Es gab noch den Sendeschluß und das Testbild; ganz zu Anfang sogar noch in Schwarz-Weiß. Wenn sie dann mal drei Stunden ferngesehen hatten, kam das schon einem Exzeß gleich. Die Luft im Raum war von so elektrisierender Feuchte und Mutter erhoffte sich die Absolution beim Wort zum Sonntag. Das mit den Lottozahlen klappte nie und so blieb er in der engen Stube wohnen, auch nach Mutters Tod. Auch ihren Stuhl ließ er stehen, so wie sie einst Vaters Hausschuhe am Bett stehengelassen hatte, obwohl der nie von der Ostfront zurückgekehrt war.
Die Arbeit ernährte und langweilte ihn gleichermaßen und der Feierabend begann für ihn mit dem gleichzeitigen Griff nach Bierflasche und Fernbedienung. Das Programm flutete aus dem Gerät, glitt in Wellen über ihn hinweg und füllte den gesamten Raum, wie ein Aquarium. Werbung plätscherte dahin, Spielfilme umspülten sein Gehirn. Nicht selten schlief er in den lauwarmen Wogen eines Erotikfilmchens ein und erwachte erst wieder, wenn das Frühstücksfernsehen in sein Bewußtsein tröpfelte. Die Wände wurden feucht, doch das bemerkte er nicht. Arbeit, Fernsehen, Schlaf - Arbeit, Fernsehen, Schlaf, so schwappte sein Leben dahin, im unabänderlichen Rhythmus, wie die Gezeiten, nur freitags kurz unterbrochen, wenn er das nötigste einkaufte. Manchmal bemerkte er, daß das Bild vor seinen Augen zu schwimmen begann, so als sei das Zimmer von einer Art Nebel oder Dunst durchzogen; doch er schob es auf sein Alter und seine schlechter werdenden Augen. Schließlich begann er, egal ob Sommer oder Winter, vor dem Gerät zu frösteln und auch die Decke, unter die er sich deshalb legte, konnte dagegen nicht wirklich etwas ausrichten, vielleicht, weil sie ihm immer leicht klamm erschien.
Eines Nachts dann, erlebte er nicht mehr das Ende der Werbepause, er war tot. Als der Hausverwalter ihn Wochen später entdeckte, war er entsetzt über die völlig verschimmelten Tapeten im Wohnzimmer, in dem auch die Leiche lag. Alle anderen Räume waren jedoch trocken und sauber. Weder der herbeigerufene Notarzt, der nur noch den Tod feststellen konnte, noch der Pathologe, der die Autopsie durchführte, konnten sagen, ob der Mann nun erfroren oder ertrunken war. Für beides gab es Symptome und beides schien absolut unwahrscheinlich auf einem Sofa in einer Wohnung im August. So trug man auf dem Totenschein ein: Todesursache unklar.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
Kommentare und Aufrufzähler beginnen wieder mit NULL.)
 



 
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