UNTERWEGS

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Maribu

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U N T E R W E G S

Er saß jetzt allein im hinteren Teil des Wagens. Den eingerollten, mit einem Gürtel verschnürten Schlafsack und die drei Plastiktüten hatte er vom Boden hochgenommen und neben sich auf die Sitze gelegt.
Der Hund hatte unter der Bank gelegen, fast versteckt hinter dem wertvollen Gepäck. Jetzt lag er schlafend vor ihm, die Vorderpfoten ruhten auf seinen Schuhen.
Aber auch am Tage hatten sich nur wenige Menschen neben ihn gesetzt. Ein junger Mann sprang sofort wieder auf, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und drückte Daumen und Zeigefinger auf die Nasenflügel. Dabei hatte er doch vorgestern im 'Pik As'
geduscht, sich rasiert und seine Klamotten ausgebürstet.
Er griff in seine grauen strähnigen Nackenhaare, die bis zum Kragen seines Parkas reichten. Klar, er musste zum Friseur, auch sein Bart war wieder nachgewachsen.
Eine Frau hatte im Vorbeigehen auf dem Weg zur Tür ein paar Münzen in eine der Plastiktüten geworfen und kopfschüttelnd gesagt: "Der arme Hund!"
Zehn Minuten noch, dann würden sie am Hauptbahnhof aussteigen und ihr Nachtasyl aufsuchen. Dann waren sie zwölf Stunden lang mit der U-Bahn kreuz und quer durch Hamburg bis an die Grenze Schleswig-Holsteins gefahren. In den Walddörfern hatte er zweimal unterbrochen, um einem drängenden Bedürfnis nachzugeben und gleichzeitig dem Hund, dem ebenfalls die Blase drückte, ein wenig Auslauf zu gewähren. In Norderstedt hatte er am Bahnhofskiosk ein paar Brötchen vom Vortage ergattern können.
Eigentlich war es langweilig, Leute zu beobachten, deren Blicke ihm auswichen und die erst recht kein Interesse daran hatten, sich mit ihm zu unterhalten.
"Aber wir Bastarde haben es wenigstens schön warm, nicht wahr?" Seine Schuhe wippten nach vorne, die Pfoten des Hundes rutschten auf den Boden. Die braunen Augen des schwarzen Mischlings in Schäferhundgröße schienen ihn vorwurfsvoll anzuschauen.
Eine Stunde früher als sonst hatte der Wachdienst ihn aus der Ladenpassage in der Nähe des Hauptbahnhofs verscheucht. Der Hund hatte neben ihm auf der Wolldecke gedöst. Er, bereits wach, noch in seinem Schlafsack gelegen, als er den Fußtritt mit der Aufforderung spürte: "Komm hoch und hau ab, du Penner!
Gleich kommen die ersten Kunden. Und lass dich vor acht Uhr abends nicht wieder sehen!"
Bisher hatte er ja noch Glück, dass er hier schlafen konnte.
Viele andere, die im Bahnhofstunnel Platte machten, werden jetzt vertrieben. Der Hamburger Hauptbahnhof muss keimfrei bleiben!
In den Schaufenstern sollten bunte Schilder Kunden locken:
WSV - Sale - Prozente - 50% Rabatt, 70% reduziert, zwei Pullover kaufen, nur einen bezahlen! Er hatte nur verächtliche Blicke dafür. Für ihn war es Volksverdummung mit Konsumscheiße! Sein Pullover in der Plastiktüte war bestimmt von besserer Qualität!
Kurz vor seinem Ziel stiegen drei Kontrolleure ein. Sie trafen ihn heute bereits zum vierten Mal. Zwei unterhielten sich und beachteten ihn nicht. Der Dritte kam interessiert heran und fragte: "Na, immer noch unterwegs?" Er setzte sich neben ihn. "Ich habe jetzt Feierabend", fuhr er fort und streichelte den Hund, der an seinem Hosenbein schnüffelte. "Wie heißt er denn, Blacky?"
"Sie heißt Lore", antwortete er. "Wir müssen uns auch beeilen, sonst ist unsere Platte von anderen besetzt. Drei Stationen noch, dann haben wir auch Feierabend."
Der 'Hochbahner' lächelte. "Das klingt seltsam aus ihrem Munde! Was verstehen Leute wie Sie schon unter 'Feierabend'?
Und wie kann man einen Hund nur 'Lore' nennen?"
"Sie hat die gleichen braunen Augen wie meine Frau", antwortete er.
"Sie haben den Hund doch nicht wirklich nach Ihrer Frau benannt?" entrüstete sich der Kontrolleur. "Gibt es sie noch? Fährt sie auch so gerne U-Bahn? Beide auf getrennten Wegen in verschiedenen Linien? - Vielleicht habe ich sie heute schon kontrolliert!" Er lachte, fand sich sehr komisch."Oder hat sie Sie verlassen? - Ist sie abgehauen?"
Er schluckte nur, stand auf und griff nach seiner Habe. "Ich muss jetzt aussteigen!" Der Hund hatte es gespürt; war aufgesprungen und lief schweifwedelnd und bellend umher.
"Sie können doch noch weiterfahren und mir von sich erzählen", versuchte er ihn zu halten. "Sie können doch aussteigen, wo Sie wollen! Leute wie Sie können das! Ihr seid doch frei wie die Vögel!"
"Am Tage, als Mitfahrer, nicht als Kontrolleur, hätten Sie eine Chance gehabt!" Er klemmte den Schlafsack unter den Arm, schnappte sich die Plastiktüten und sagte: "Komm Lore, wir müssen jetzt raus! Der soll doch nur Fahrkarten und nicht unser Leben kontrollieren!"
 

wirena

Mitglied
Lieber Maribu, HALLO :)

da hast du ja wie ich eine ähnliche Odysee hinter Dir - hmmm, für die ich zur Zeit keine Worte finden. Doch schlussendlich habe ich in TAT + WAHRHEIT einen Mohrenkopf/Schaumbeule geschleckt, und es hat geschmeckt.

Ein Schulkollege kam mir in den Sinn, der mir einmal, seinerzeit, als ich noch Schärer hiess; einen ganzen Korb voll solcher Mohrenköpfe schenkte. Er meinte später, ich hätte immer nur "G'stämpfelte". Bin erwachsen geworden ledich zweimal Habe ich.

Schön, dass ich dir dies schreiben durfte -
Ich hoffe, du bleibst gesund und munter wie ich.
wirena
 

Maribu

Mitglied
Hallo wirena,

danke für Deine Zeilen! - Da gibt es denn wohl eine gewisse
Geistesverwandtschaft!

Ich hätte nichts dagegen, wenn du "Unterwegs" nach dem Ll-System
bewerten würdest.

Liebe Grüße
Maribu
 



 
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