Unbezwingbare Gedanken

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Meist trifft es mich ohne jede Vorahnung. Sei es nachts auf der Toilette, mittags im Bus oder abends in der Dusche. Diese glitschigen, verwilderten Gedanken. Festhalten ist nur bedingt möglich, sie sind unbezwingbar. YEAH. Unbezwingbare Gedanken. Warum nicht? Spreche ich die Gedanken dann auch noch aus, sind sie gleich futsch.

Die Gedanken sind zuerst nie ganz da. Sie kommen in Ausschnitten, damit ich die Geschichte MIT der Person erlebe. Erst, wenn ich anfange die Geschichte zu schreiben, entwickelt sich die Person. Ich lege nie fest, wie eine Person wird. Das macht die Geschichte von selbst. Schreibe ich jedoch vorher auf, was die Eigenschaften der Person sind, ist die Person sofort für mich uninteressant, wertlos - MÜLL.

Habe ich dann wieder einmal einen Gedanken und denke etwas (sehr) weiter, werde ich sofort überrumpelt. Alles kommt auf einmal - so viele Ideen. Dann bin ich für niemanden mehr ansprechbar. Dann muss alles, was beschrieben werden kann, hinhalten. Alles wird aufgeschrieben, damit ich ja nichts vergesse. Dennoch bleibt ein großer Teil unentdeckt. Die Idee schwirrt da oben bei mir herum, doch ich will das Paket nicht öffnen. Aus Angst, dass das Paket verloren geht. Und öffne ich das Paket dann schließlich, kann ich nicht aufhören zu schreiben, um die Idee für mich wörtlich, bildlich zu machen.

Ferner sitzt man in der Küche und schaut aus dem Fenster. Man sieht einen Kirschbaum und RUUMMS. Neben dem Kirschbaum liegt Schutt und Asche. Alles ist grau, die grüne Rasenfläche ist weg. Ein tiefer Abgrund, bestehend aus Hausteilen. Kein Haus in der Nachbarschaft steht, nur der Kirschbaum blüht und hat Kirschen, obwohl er sie noch nie hatte. Er blüht auf, wenn andere verzweifeln, wenn es trostlos ist und wenn alles zerstört, hinüber ist. Vielleicht will er Hoffnung schenken? Oder erfreut er sich an dem Leid der Menschen, die vorher mit wachsender Ungeduld auf seine Kirschen gewartet haben? Vielleicht interessiert ihn seine Umgebung auch einfach nicht? Er macht das was er will, diesmal war er vielleicht bereit dazu, Kirschen wachsen zu lassen? Ein Zufall?
Oder wartet er auf jemanden? Jemanden der ihn erlöst und er wollte zum Schluss doch noch einmal Kirschen wachsen lassen?

Zu viele Fragen. Dabei habe ich nur einen Kirschbaum angeguckt, der auf einer normalen Rasenfläche steht. Meine Familie schaut mich fassungslos an. Wie ich Gedankenverloren einen Kirschbaum anstarre. Tja.

Und RUUUUMMS. Der nächste Gedanke.
Ich habe gerade eine Kerze ausgepustet (ja, man sollte mich dafür bestrafen).
Und, wie nicht anders zu erwarten, hat die Kerze auch mal gebrannt.
Aber das ist irrelevant, denn jemand schlägt eine Tür zu. Ein Mädchen kreischt. Etwas fällt um, der Raum wird kurz erhellt. Das ist ein zu düsterer Ort für ein Mädchen.
Anscheinend weiß das Mädchen auch, denn sie kreischt um ihr Leben. Wir lachen sie aus. Ich hoffe sie sieht es nicht. Aber sie hört es. Sie hört auf zu kreischen und faucht in unsere Richtung. Sie will irgendetwas sagen, aber sie kommt nicht dazu, denn ER kommt. Ich kenne den Ablauf und bin deshalb nicht mehr so ängstlich wie beim ersten Mal. Meine Hände ruhen in der Innentasche meiner Jeans. Ich rieche den Schweiß des Mädchens. Als ER kommt, wird der Raum erhellt. Die Fenster sind milchig weiß und umrandet von Spinnweben und Dreck. Wie immer. Ohne mit der Wimper zu zucken gehen wir an ihm vorbei. Das Mädchen bleibt zurück und schreit. Wir drehen uns nicht um. Wir gehen den Gang entlang, biegen links ab und sind endlich wieder draußen. Ich schaue mich um. Immer noch die gleichen Angebote in den Regalen des Gruselkabinettshops.
Die Kerze brennt, alles ist gut. Das war nur ein kleiner Ausflug. Würden Sie vor mir sitzen, hätte ich Ihren Kopf oder ihre Schulter zur Beruhigung getätschelt.

Dann versucht man mit Lautmalereien, Metaphern, Anaphern, Anspielungen und was es da noch alles gibt, den Text angemessen zu gestalten und merkt: Nop. Du hast versagt. Das Männlein im Kopf (das im übrigen auch mal gerne piept) kommt dann auch noch mit dem hilfreichen Ratschlag: „Du brauchst mit irgendwelchen Stilmittel nicht versuchen, deinen Text besser zu machen als er in Wirklichkeit ist. Und bitte! Schreib. In. Ganzen. Deutschen. Verständlichen. Sätzen!“
Und ich, natürlich ein Autor mit jahrelanger Erfahrung (nicht), schiebe das Männlein beiseite und veröffentliche es trotzdem.

Sie mögen jetzt wahrscheinlich mit dem Kopf schütteln.

Nun ja, ich schüttele auch hin und wieder meinen Kopf, vor allem, wenn ich daran denke WAS UM GOTTESWILLEN IN MEINEM KOPF LOS IST.








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Ich muss mich entschuldigen.
Ich bin meinem Namen nicht treu. Sonntagsschreiber; da vermutet man ja, dass ich meine Texte immer sonntags schreibe. Doch so ist es ganz und gar nicht. Ich, böses Kind, schreibe die Texte nicht am Sonntag, sondern an den anderen Tagen der Woche. Am Sonntag veröffentliche ich die Texte lediglich. Das stimmt auch nicht ganz, denn heute ist nicht Sonntag, sondern Freitag.
Ich bin ein elender Lügner, ich weiß.

Ich hoffe, ich habe Sie mit meiner Lüge nicht verletzt.

Hochachtungsvoll

Euer edles Sonntagschreiber-lein, das gar nicht sonntags schreibt
 
S

steky

Gast
Hallo Sonntagschreiber,

ich lese hier keine Kurzgeschichte, sondern einen Essay über das Schreiben. Damit es auch wirklich ein Essay bleibt, solltest Du die Geschichte in der Mitte ausschneiden und fruchtbare Gedanken über das Schreiben einfügen. So viel dazu.

Ich mag es übrigens auch nicht, wenn man vor dem Schreibprozess alles penibel plant und sich endlos Gedanken macht. Tolstoi hat mal gesagt: "Wo Inhalt ist, da fügen sich die Formen wie von selbst". Das sehe ich auch so. Alles andere ist Spielerei der Eigenliebe willen, mit der der egozentrische Autor den Leser beeindrucken möchte.
Die besten Geschichten schreibt das inspirierte Unterbewusstsein - es ist nicht blöd und weiß, wie man die Puzzleteile aneinanderfügt.

Geduckt wegrennend

Steky
 



 
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