Und er bleibt doch mein Sohn

Ruedipferd

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Und er bleibt doch mein Sohn

Ich hatte den Brief nur überflogen. Es war nicht nötig, ihn genauer zu lesen. Ich wusste, was drin stand und was meine Schwester von mir erwartete. Die Entscheidung, die ich so viele Jahre vor mir her geschoben hatte, stand nun an. Zittrige Hände legten das Papier zur Seite. Ich ging zum Stubenschrank und blieb vor einem Foto stehen. Ein kleiner blonder Junge von fünf Jahren lachte mich fröhlich an und trieb mir Tränen in die Augen. Melf war mein Kind. Mein eigenes Fleisch und Blut, das ich unter Schmerzen geboren hatte und das damals zur unpassendsten Zeit mein Leben aus den Fugen warf. Die Turbulenzen dauerten nicht lang an. Meine Schwester Rieke war seit drei Jahren mit einem Bauern verheiratet gewesen. Sie bewirtschafteten einen Hof und bemühten sich verzweifelt um Nachwuchs. Riekes Mann, mein Schwager Frank, war unfruchtbar, wie sich herausstellte. Als Melf in meinen Armen lag, zögerte Rieke nicht lange. Sie fragte direkt heraus, was ich in meinem jetzigen Zustand mit einem Kind wollte. Sie würde sich um Melf kümmern, so dass ich meinen eigenen Weg gehen konnte. Ich war damals mit dieser Lösung mehr als einverstanden. Auch meine Eltern und die restliche Familie fand nichts dabei.

Ich schluckte schwer, ging auf den Flur und nahm meine Jacke in die Hand. Raus, nur weg, dachte ich. Der Wind wehte steif, wie man hier in Hamburg, in meiner Wahlheimat, sagte, als ich endlich vor der Tür stand. Ein Frösteln konnte ich nicht unterdrücken und wusste nicht, ob es an den anstehenden Veränderungen oder doch nur an der Kälte lag. Es war mir auch egal. Ich war in den vergangenen fünf Jahren eine saumäßige Mutter gewesen. Hatte meinen Sohn bei meiner Schwester gelassen, um mich von meinem weiblichen Geburtsgeschlecht verabschieden zu können. Seit knapp zwei Jahren lebte ich nun als Mann. Inzwischen war die Personenstandsänderung durch und aus Levke war Jens geworden. Meine Familie hatte es mir damals nicht leicht gemacht, den transsexuellen Weg zu gehen. Meine Eltern sahen zwar schon sehr früh ein, dass ich kein richtiges Mädchen sein konnte, aber auf die Idee, dass bei mir eine transsexuelle Prägung vorhanden sein würde, waren sie nicht gekommen. Ich hatte selbst als Jugendlicher recherchiert und für mich stand fest, dass ich mein Heimatdorf verlassen musste, wollte ich jemals in meinem gefühlten Geschlecht auch leben. Etliche Diskussionen schlossen sich an, bei denen es nicht immer fair zuging. Vater und Mutter und auch meine Schwester dachten daran, was wohl die Leute sagen werden und was das alles mit ihnen machen würde. Das ich unter meiner Prägung am meisten litt und auch zweimal versucht hatte, mir das Leben zu nehmen, ignorierten sie. Ich war damals wutentbrannt von zuhause abgehauen, mit gerade mal sechzehn Jahren einfach in den nächsten Zug gestiegen. In Hamburg fiel ich am Bahnhof einem jungen Mann auf, der mich mit zu sich nach Hause nahm.
Jetzt, am Hafen, blickte ich auf die schäumende See vor mir und alles kam wieder hoch. Der junge Mann hieß Jörn und gaukelte mir damals vor, mich zu verstehen. Es war nicht schwer für ihn, mich noch am ersten gemeinsamen Abend dazu zu bringen, mit ihm ins Bett zu steigen. Ich vertraute ihm und erlebte aus meiner Sicht zwei wunderschöne Wochen. Meiner Schwester schrieb ich eine SMS und teilte ihr meinen Aufenthaltsort mit. Das war mein Glück gewesen.
Jörn zeigte nämlich wenig später seinen wahren Charakter. Er kam eines Tages nach Hause, erzählte mir von großen Schulden und das sein Freund ihm ein unmoralisches Angebot gemacht hätte. Er würde ihm die Schulden erlassen, wenn, ja, wenn er eine Nacht mit mir verbringen durfte. Jörn hatte empört abgelehnt. Aber da waren seine Schulden und der andere drohte ihm mit Prügel. Einen Tag später war ich weich geklopft und willigte ein. Aus diesem einen Mal wurden zwei, drei und dann, als ich mich einmal weigerte, mit einem fremden Kerl ins Bett zu gehen, bekam ich drei Ohrfeigen von Jörn. Er hatte in mich investiert, ich hatte Schulden bei ihm, die ich nun abarbeiten musste. Ich kapierte schnell. Jörn war stärker als ich und er besaß viele Freunde im Stadtteil. Nach und nach lernte ich die anderen Mädchen kennen, die für ihn anschafften. Ich erzählte ihm auch von meinem transsexuellen Problem und bat ihn, mich wenigstens als Jungen auf den Strich zu schicken. Ich wollte einen Teil des Verdienstes für mich behalten und sparen, damit ich für die geschlechtsangleichende Operation Geld hätte. Jörn war wider Erwarten einverstanden. Hauptsache, er bekam seinen Anteil, meinte er trocken. Statt der Mädchenkleidung trug ich ab sofort Hosen und kurze Haare, band mir meine kleine Brust ab und steckte mir einen täuschend echt aussehenden Dildo in die Unterhose, mit dem ich sogar im Stehen pinkeln konnte. Ich war ohnehin der passive Teil und die Freier merkten nichts.

Irgendwie begann mein Leben eine nicht ganz geplante, aber dennoch für mich akzeptable Eigendynamik zu entwickeln. Bis zu dem einen Tag. Rieke und meine Eltern tauchten bei mir auf. Ich war nach einer anstrengenden Nacht am frühen Nachmittag noch im Bett gewesen, als sie an unserer Tür klingelten. Es gelang mir nur mit Mühe, sie davon zu überzeugen, dass ich okay wäre. Ich schaffte ja inzwischen mit vollem Bewusstsein an und betrachtete Jörn schon lange nicht mehr als meinen Zuhälter. Er war heterosexuell und sah auch nur einen Kumpel in mir, der ihn in einer Zweckgemeinschaft mit Knete versorgte. Ich ging also freiwillig auf den Strich. Konnte ich das meinen Eltern erzählen? Nein, konnte ich nicht. Ich log, dass sich die Balken bogen. Mama und Papa schluckten es. Rieke nicht. „Ich weiß, was du machst. Du gehst mit fremden Kerlen wie ein Strichjunge ins Bett. Warum tust du das Levke oder meinetwegen auch Jens? Mach eine Ausbildung, dann bist du krankenversichert und kannst alles auf legalem Weg bekommen“, sagte sie am nächsten Tag, als wir uns ohne die Eltern noch einmal kurz trafen.“ Ich nickte stumm. Ja, sie hatte eigentlich Recht. „Ich hab am Anfang als Frau für Jörn angeschafft, weil er mich dazu gezwungen hatte. Später bin ich mit ihm übereingekommen, dass ich als Strichjunge auf die Straße gehe. Inzwischen teilen wir den Verdienst. Ich bekomme in einer einzigen Nacht so viel, wie du in einem Monat als Verkäuferin in eurem Bäckerladen.“ Rieke schwieg darauf betroffen. „Gut, kannst du dich jederzeit von ihm trennen?“, fragte sie. „Ich denke schon. Er weiß nicht, wo ich zuhause bin und wenn ich keinen Bock mehr habe, setz ich mich in den Zug und komme wieder zu euch.“ Erleichtert umarmten wir uns.

Zwei Monate später merkte ich, dass ich schwanger von Jörn war. Er hatte mich in betrunkenem Zustand vergewaltigt und war wieder in die Stelle meines Körpers eingedrungen, die ich eigentlich so schnell es ging, zunähen lassen wollte. Ich sagte es ihm und erklärte, ich müsste jetzt erst mit meinen Eltern reden. Er ließ mich ohne ein Wort zu verlieren ziehen. Die Verantwortung für ein Kind wollte er auf gar keinen Fall übernehmen. Vater und Mutter nahmen mich liebevoll auf. Rieke war bereits verheiratet und wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind. Aber ihr Mann war nicht zeugungsfähig. Nach langen Diskussionen fanden wir alle, dass es besser wäre, ich würde mein Kind zu Rieke als Pflegekind geben und könnte so meinen eigenen Weg gehen. Ich hatte damals genug Geld gespart, so dass ich auch ohne Hilfe der Krankenkassen meine OP bezahlen konnte. In Selbsthilfegruppen hatte ich einen Operateur gefunden und bemerkte die Schwangerschaft nur, weil ich mich beim Urologen für den Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung vorstellen wollte. Mit Jörn verband mich nichts mehr, aber das Baby in meinem Bauch war ein Teil von mir. Ich blieb bis zur Geburt zu Hause und überließ meinen kleinen Melf meiner Schwester. Dann ging ich den transsexuellen Weg, erhielt männliche Hormone, bekam einen Stimmbruch, später sprießte der Bart, und im folgenden Jahr ließ ich mich operieren. Alles klappte. Die Personenstandsänderung kam zusammen mit der Vornamensänderung. Ich konnte unerkannt in Hamburg meinen Freuden nachgehen und schrieb mich in der Volkshochschule für die Mittlere Reife ein. Mein Ziel war, das Abitur am Tageskolleg dranzuhängen und später zu studieren. Abends arbeitete ich in Bars und natürlich auch weiterhin auf dem Jungenstrich. Wie bei Transmännern üblich, sah ich zu Beginn der Hormonbehandlung noch aus wie ein vierzehnjähriger Bengel. Für Melf sollte ich sein Onkel Jens werden. Ich fuhr an Weihnachten und zum Geburtstag meines Kleinen stets nach Hause. Rieke sprach unsere Mutter mit Mama an und Melf tat von sich aus mit Rieke dasselbe. Sie brachten es mir schonend bei, aber es war okay für mich. Melf wurde ein fröhlicher aufgeweckter Lausejunge. Wir spielten zusammen, ich verwöhnte ihn mit Jungenspielzeug, das ich selbst als Mädchen nie bekommen hatte und erlebte meine eigene Kindheit wieder. Als ich hörte, wie er Frank mit Papa ansprach, gab es mir einen kurzen Stich, aber dann besann ich mich. Es war das Beste für meinen Sohn. Er sollte bei Rieke unbekümmert aufwachsen und ich wollte ihn nicht verwirren. Doch er war nun fünf Jahre alt geworden und in seinen Papieren stand immer noch mein Mädchenname. Das wollte Rieke jetzt ändern, denn nach dem Kindergarten käme im nächsten Jahr die Einschulung. Ich atmete tief aus. Rieke und Frank wollten Melf endgültig adoptieren. Er würde Franks Namen tragen und offiziell ihr Kind sein. Das letzte Band zu meinem Jungen wurde damit durchtrennt. Mein Herz schmerzte, meine Seele schrie auf, als ich am Quai stand und auf den Hamburger Hafen blickte. Ich musste eine Entscheidung treffen, die meine Kräfte und Möglichkeiten überstieg. Mit der Unterschrift würde ich mein Kind für immer weggeben. Gab es eine andere Lösung? Ich überlegte und mir fiel nichts ein. Wenn Melf als Pflegekind bei Rieke und Frank blieb, würde er weiterhin meinen Namen tragen und auch ich wäre in seiner Geburtsurkunde als Mutter vermerkt. Er kannte mich jedoch nur als Onkel Jens, wie sollte ich ihm begreiflich machen, dass ich in Wirklichkeit seine Mutter und seine Mama nur seine Tante war? Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich heulte wie ein Schlosshund und bemerkte die Polizeistreife nicht, die hinter mir anhielt.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine markante männliche Stimme. Ich drehte mich um und blickte total verheult in die sanften Augen eines jungen Mannes, der wohl mit mir im selben Alter war. Er trug eine Polizeiuniform. Oh je. Ich lächelte spontan. „Danke, ich glaube, es geht schon. Ich hab da eine kleine Lebenskrise zu bewältigen.“ „Das sehe ich. Kommen Sie, erzählen Sie. Sie stehen mir zu nahe am Hafenbecken und das Wasser ist sehr kalt. Ich möchte genau wie meine Kollegin heute Abend ungern noch in den Hamburger Hafen springen müssen, um Sie herauszufischen.“ Er reichte mir seine Hand. Ich schlug ein. Wärme strömte mir entgegen und ich ging voller Vertrauen auf ihn zu. Seine blonde Kollegin war inzwischen auch ausgestiegen, lächelte mich an und sagte: „Wissen Sie, der Polizeipsychologe hat uns erklärt, wir sollen in kritischen Situationen, wenn jemand vielleicht Suizid gefährdet ist, ganz locker sagen: Lassen Sie uns doch erst mal reden, umbringen können Sie sich ja später immer noch.“ Ich lachte auf. „So schlimm ist es bei mir wirklich nicht. Aber, wenn Sie schon mal hier sind, können Sie mir auch einen Rat geben. Haben Sie Kinder?“ Beide verneinten. Wir setzten uns ins Polizeiauto und ich begann meine Geschichte zu erzählen. Von meiner transsexuellen Prägung, den Eltern, wie ich weggelaufen war, vom Strich und von Jörn und ja, dann kam Melf an die Reihe. Beide sahen mich verständnisvoll an, als ich geendet hatte. Doch ehe sie etwas entgegnen konnten, kam ein neuer Einsatzbefehl per Funk. „Bleib sitzen, Jens. Wir fahren zum Einsatz. Du bist dann ein Stricher, den wir gerade auf Drogen kontrolliert haben. Dann kannst du noch eine Weile bei uns bleiben und wir sprechen nachher über dein Problem“, sagte Marie, die mir nach meinen ersten Enthüllungen genauso wie Achim das Du angeboten hatte. Meine Sorgen rutschten in den Hintergrund und ich blieb gespannt auf meinem Platz sitzen. Auf dem Kiez, gleich neben der Freiheit, hatte es eine Rangelei zwischen betrunkenen Besuchern gegeben. Ein Mann war dabei schwer gestürzt. Er blutete am Kopf. Marie rief den RTW. Achim nahm die Personalien der Kontrahenten auf und ließ sich den Hergang erzählen. Routinearbeit. Beide schnauften, als der RTW mit dem Verletzten ins nächste Krankenhaus abfuhr. „So, jetzt kommen wir wieder zu den wirklichen Problemen. Das ist schon eine heiße Kiste, mit dir. Aber ich denke, dass es für Melf jetzt am besten wäre, er würde nach der Adoption auch in den Papieren den Namen tragen, den er kennt und den er eigentlich schon all die Jahre führt. Es sind doch nur Schriftstücke. Das Wichtigste ist eure Beziehung“, meinte Achim. Marie lächelte vielsagend. „Das Wichtigste ist deine Liebe, Jens. Du bist jetzt ein Mann und kannst ihm keine Mutter mehr sein. Vielleicht wirst du ihm im Herzen immer wie eine Mutter zugetan bleiben, aber das macht doch auch nichts. Er hat auf diese Weise zwei Mamas und ja, mit Frank und dir, sogar zwei Papas. Ganz am Ende steht ja auch noch Jörn. Ob der als Vater erstrebenswert ist, brauchen wir aber noch nicht zu klären. Jetzt lasst ihr alles beim Alten und er kann mit dem Namen deines Schwagers eingeschult werden. Er ist doch noch so klein und braucht Sicherheit.“ Marie hatte Recht. Ich war sehr egoistisch gewesen und hatte nicht daran gedacht, was im Augenblick für meinen Sohn das Beste war. Ich sagte es ihr. „Irgendwann, wenn er Elf oder Zwölf ist, nicht früher, aber auch nicht später, auf keinen Fall, wenn er pubertiert, nimmt ihn Rieke zur Seite und erzählt ihm als Mutter seine Geschichte. Sie wird das gut machen, denn sie liebt ihn auch und er muss noch vor der Pubertät die Wahrheit über sich kennen. Da hat er dich als liebenden Onkel erlebt, Frank ist und bleibt sein sozialer Vater und Rieke seine Mutter. Es kann sein, dass er dann Jörn kennenlernen will. Ich denke, du solltest versuchen, Jörn zu finden und mit ihm sprechen, ob es ihm genehm ist, seinen Sohn zu sehen. Überlasst Melf danach die Entscheidung, als was er euch ansieht und einordnet“, meinte Achim. Ich fühlte mich erleichtert. Das klang gut. Damit konnte ich leben. Mit Rieke würde ich das hinkriegen und was Jörn betraf, hatten wir noch massenhaft Zeit. Vielleicht würde mein Zuhälter ja auch irgendwann die Kurve kriegen und halbwegs anständig durchs Leben gehen. Viel Hoffnung hatte ich allerdings nicht. Aber Jörns Gene steckten auch in Melf und es war wichtig, dass der wusste, welch einen Filou er zum leiblichen Vater hatte. Mit Frank würde er sich danach sicher noch besser verstehen und von Rieke konnte man sich ohnehin nicht abwenden. Was mich anging, würde ich ihm von meiner Transsexualität erzählen und wie schwer es mir gefallen war, ihn zu seinem Wohl und um ihn nicht zu verwirren, bei seiner Tante Rieke zu lassen. „Ich möchte mich bei euch beiden bedanken. Ihr habt mir sehr geholfen. Ich würde mich freuen, wenn das hier keine Eintagsfliege bleibt und wir unsere privaten Handynummern austauschen. Ich werde alles für Melf in die Wege leiten und euch dann anrufen und zum Essen einladen. Und mit dir Achim, muss ich sowieso zusammenbleiben, denn deine Connections zu den Dauerkarten der Freezers kann ich mir nicht entgehen lassen“, erwiderte ich. Marie gab mir als erstes ihre Nummer, Achim folgte. Ich wollte aussteigen, aber die Tür in einem Polizeiauto ließ sich für die im Fonds sitzenden natürlich nicht einfach öffnen. Ich sah die beiden überrascht an. Belustigt drehte sich Marie um und bat mich, ihr meine Hände zu zeigen. Irritiert tat ich, was sie wollte und war im nächsten Augenblick mit Handschellen gefesselt. Achim grinste. „So, mein lieber Strichjunge, ganz umsonst sind Polizeiauskünfte natürlich nicht. Du begleitest uns jetzt aufs Revier. Da werden wir deine Personalien aufnehmen und dich in unserer Hamburger Kartei speichern. Du fehlst uns nämlich noch. Und da wir deine Wohnung noch nach Drogen absuchen wollen, bleibst du heute Abend eine Weile unser Gast. Marie und ich haben um 22 Uhr Schichtwechsel. Dann lassen wir dich aus deiner Zelle und fahren in unseren Privatautos noch zu einem Umtrunk zu dir. Das heißt, Marie, als gestandene Antialkoholikerin fährt und wir zwei gönnen uns ein Bier auf den nächsten Sieg der Freezers. Ich besorg uns die Karten.“ Ich setzte amüsiert eine schuldbewusste Miene auf und fügte mich meinen beiden Ordnungshütern. Mit Achim verband mich eine gemeinsame homosexuelle Ausrichtung. Das bedurfte keiner Worte und Marie würde uns eine liebe Freundin sein. Ich dachte daran, mich beruflich einmal von ihnen beraten zu lassen. Es würde etwas dauern, bis ich mein Abitur hätte, aber eine Ausbildung bei der Polizei konnte ich mir vorstellen.
Um 22 Uhr verließ ich die Zelle. Achim hatte Wort gehalten. Zwei Tage später saß ich im Zug und überraschte Rieke und Frank mit der Zusage, die Papiere gleich zu unterzeichnen, sobald der Anwalt alles aufgesetzt hätte. Wir sprachen über Melfs Zukunft und ich erzählte von meinem Erlebnis am Hafenbecken. Sie fanden beide den Vorschlag gut. Ich hatte ein Video der Freezers auf mein Handy geladen und zeigte meinem Sohn im Anschluss die Aufnahme mit den kleinsten Eishockeyspielern beim Training. Wie erwartet war er hell auf begeistert. Ich hatte ihm auch einen Eisbären und ein Eishockeyspiel mitgebracht und fragte ihn, ob er, wenn Mama und Papa es erlauben, mit zu mir nach Hamburg kommen möchte. Wir würden ihm Kleidung und Schlittschuhe leihen und er dürfte mit mir aufs Eis. Wenn er dann brav wäre und auch im nächsten Jahr artig zur Schule gehen würde, könnten wir über den Vereinsbeitritt sprechen und ich würde ihn zweimal in der Woche zum Training abholen. Melf schlang seine kleinen Arme um mich und jauchzte überglücklich. „Ich hab dich ganz doll lieb, Onkel Jens!“ Ich hielt ihn, während mir Rieke ihre Hand gab. Es war ein Gefühl wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag.
 



 
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