Und jeden Tag ein kleines Glück (Tag 43)

Astrid

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Vom Wege abgekommen


In der Nacht hat es geschneit. Doch die milden Temperaturen am Tage verwandeln das Weiß wieder schnell in eine hässliche Pampe. Auf dem Weg zur Straßenbahn spritzt Schneematsch unter meinen Stiefeln. Der Himmel ist grau. Die Sonne fehlt mir.

Es ist die letzte Biegung, bevor ich aussteigen muss. Hundertmal bin ich schon mit der Bahn vorbeigefahren und stets schaue ich fasziniert zu der kleinen Straße rüber, die hinter einem Torbogen beginnt. Wohin dieser Weg wohl führen mag?
Ich steige aus, erledige meine Besorgung und – fahre heute nicht sofort nach Hause. Nein, mutig und verwegen lenke ich meine Schritte ihr entgegen – der unbekannten Straße. Ich habe sogar ein wenig Herzklopfen, als würde ich in ein kleines Abenteuer starten. ‚Vielleicht sollte ich das öfter tun – vom Wege abkommen’, denke ich. Fast feierlich durchschreite ich den Torbogen und gehe vorbei an gepflegten, ländlichen Einfamilienhäusern mit gepflegten Gärten davor. In manchen von ihnen steht eine bunte Rutsche oder eine Schaukel und ich kann das Quietschen und Lachen der Kinder förmlich hören. Doch es ist still. Fast gespenstisch. Nur von weitem sehe ich einen älteren Mann auf der Eingangstreppe.
Die Straße gabelt sich und führt nun beidseits um eine Art Dorfplatz herum. Die Häuser stehen im Quadrat und meine Augen suchen nach der Lücke, wo ich weiter gehen kann. Mein Schritt ist schneller geworden.
Bin ich etwa in eine Sackgasse geraten? Doch auf der rechten Seite entdecke ich einen schmalen Durchgang heraus aus dieser idyllischen Enge. Ich stoße auf eine Kleingartenanlage. Hier bin ich noch nie gewesen! Die Wege heißen „am Teich“ oder „zum Grund“. Den Teich finde ich nicht. Ich treffe keinen Menschen. Der Weg gehört mir. Der Schnee gehört mir! Hier liegt er - unberührt und fest. Er knirscht, wenn ich darüber laufe und erinnert mich an kindliche Schulwege. Ich liebte es, wenn er unter dem morgendlichen Licht der Laternen glitzerte, als hätte jemand winzige Edelsteine darüber gestreut. Heute glitzert er nicht. Aber er knirscht. Doch die halbgeöffneten Blattspitzen der Sträucher, die über die Zäune ragen, scheinen ihm zuzuflüstern –„warte, deine Zeit ist bald um!“
Später vor meiner Haustür knirscht nur noch der Streukies. Doch an meinen Stiefeln klebt ein wunderschöner Rest vom weißen Schnee.
 



 
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