Vergangenheit

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Höldereden

Mitglied
Vergangenheit

Schlafend stehst du vor mir- herbe Süße
ohne Atem gebierst du lose Schwere- Absolute
die ich nur in vino veritas durchschaue- verdaue.

Vergangenheit- wird die Zeit,
die dir verbleibt und deinen Weg beschreibt.

Führ ich deine blutend Augen saugsam,
durch meiner Momente- Sagen.
mit verklärten Visionen flüsterst du mir Versuchung,
Urteil zu geben über Leben, über Fehler, über Zukunft- Vernunft.

Vergangenheit ist die Zeit,
die dich treibt und Erfahrung zeugt.

verkrampft dein Wehmutsgriff- der schönen-,
verblättert deine Bildersammlung- der schlimmen-

Vergangenheit...
 
D

dockanay

Gast
lieber höldereden,

ein gedicht schreiben heute, aus dem jetzt heraus, und dann über das undeutliche wort vergangenheit. das ist nicht einfach, denn - philosophisch gesehen - gibt es ja keine vergangenheit, weil sie mit dem augenblick selbst vergangen ist und nicht mehr erreichbar. also, sollten wir dann über erinnerung sprechen? gleichfalls. es ist einfach erstaunlich was sie da tut, dieses kleine gedicht von dir: (Vergangenheit- wird die Zeit, / die dir verbleibt und deinen Weg beschreibt). sie treibt einfach ins zukünftige, aber einleuchtend, wie sie da an ihrem und an einem heute schreibt, gegenwärtig etwas wie vergangenheit komponiert, sie zusammenschreibt aber streng genommen auch das geschriebene sofort wieder von dir weist (Führ ich deine blutend Augen saugsam, / durch meiner Momente- Sagen) – damit lese ich dieses seinerzeit als gedicht eines schreibenden, als wirkliche potentialität des lesens, und dass da im grunde schon die ganze zeit von einer art über-ich die rede ist, nämlich (und namentlich) der sprache, mit all ihren herrlichen unschärfen in formenlehre, syntax, recht- und unrechtschreibung sowie den verlesern versprechern verhörern, die dann in der vertauschbarkeit von subjekt und objekt selbsttätig poetisch werden könnte, aber ohne das instrument der phantasie, die ich bei dir ausreichend vorfinde, völlig unfähig wäre, das zu sagen, was du zu sagen hast.
an deiner sprache hast du jedoch noch viel zu arbeiten, und diese einschränkung bitte ich als guten rat anzunehmen, nicht als kritische bewertung. doch aus der lautmalerei deiner worte ist eigentlich gut zu hören, dass du noch jung bist, ich tippe, weit unter dreißig. also hast du damit genügend zeit dich darum zu kümmern, und gerade in deinem fall sehe ich die größten hoffnungen.

lg dockanay
 

Höldereden

Mitglied
Lieber dockanay,

ich freue mich ganz außerordentlich über dein kommentar, da sie von dir stets so hilfreich, ratsam und ausführlich sind.
Ich würde mich so gern mit dir treffen können und über gott und die welt philosophieren, das gefühl bekommen ich bei deinen zeilen.
Du sagst vergangenheit gibt es eigentlich nicht, aber ich würde ein gedicht aus dem jetzt heraus schreiben... aber eigentlich gibt es streng genommen auch kein jetzt! Nur eine bewegung durch von uns definierten raum und dessen zeit....
Aber du hast recht in diesem gedicht habe ich die vergangenheit als überschrift meiner "Erinnerungsbilder" genommen.
damit lese ich dieses seinerzeit als gedicht eines schreibenden, als wirkliche potentialität des lesens, und dass da im grunde schon die ganze zeit von einer art über-ich die rede ist, nämlich (und namentlich) der sprache, mit all ihren herrlichen unschärfen in formenlehre, syntax, recht- und unrechtschreibung sowie den verlesern versprechern verhörern, die dann in der vertauschbarkeit von subjekt und objekt selbsttätig poetisch werden könnte, aber ohne das instrument der phantasie, die ich bei dir ausreichend vorfinde, völlig unfähig wäre, das zu sagen, was du zu sagen hast.
Diesen teil deiner interpretation hab ich leider nur ganz schwer verstanden. Ich gehe davon aus, du meinst man könnte diese von mir oben beschriebene "bewegung" durch raum und zeit (was in meinem gedicht zum teil die nicht loslassende vergangenheit ist) mit der sprache gleich setzen mit all ihrer unvollkommenheit und leistung?
Aber warum schließt du dann die fantasie in der sprache aus, betrachtest du sie da nur als gerüst?
Und was müsste ich an meiner sprache anders gestalten?
Hab da leider keine Vorstellung, nur ne ahnung..
Und woran erkennst du die jugendliche lautmalerei, das würde mich dolle interessieren? Wahrscheinlich an der naiven, romantisch/idealistischen weise, oder? :)
Ich danke dir jedenfalls ganz sehr für deine tiefreichende antwort und vorallem für dein sehr motivierendes Lob, jetzt kann ich richtig glücklich in mein australisches bett gehen um 2:54uhr!

Mit herzlichen grüßen,
Höldereden
 
D

dockanay

Gast
lieber höldereden,

ermutigung ist ein wunderbares instrument zum antrieb, und ich habe nicht übertrieben, wenn ich hoffnungen in dein schreiben setze. ich werde keinen deiner texte verpassen, das will ich hier gern versprechen.
die an mich angedachten fragen hast du meines erachtens selber zur genüge und mit meinem zuspruch beantwortet, es geht bei dir um die bemühung zur sprache hin, was ich sehr lobenswert finde. deshalb, nur noch ein kleiner (philosophischer) exkurs zur zeit, eigentlich nur eine zustimmende anmerkung zu deiner auffassung über dieses phänomen:

aber eigentlich gibt es streng genommen auch kein jetzt! Nur eine bewegung durch von uns definierten raum und dessen zeit
dieser satz hat bei mir echte begeisterung ausgelöst, denn sie entspricht meinen ansichten zum phänomen der zeit. du hast vollkommen recht: wenn es eine gegenwart, ein jetzt geben würde, in der alles geschieht, dann wird doch auch dieser gegenwart jede erdenkliche kurze zeiteinheit zu lang, es nutzten irgendwelche physikalischen messungen zur erklärung nicht. denn, was gerade ist, bleibt im nächsten moment nicht mehr und ist daher vergangen, und schwupp, bevor man überhaupt etwas erfassen kann, da schrumpft das gegenwärtige zu einer unausgedehnt kürzesten zeit, wenn man sich überhaupt so etwas vorstellen kann. damit ist demnach alles ohne ausnahme, alles was wir als vorhanden wissen, was sich als dasein empfindet, ein wesen ist, und damit verbunden auch das bewusstsein, lediglich in einem unendlich kurzen zeitintervall abgelegt, einem nicht berechenbaren punkt auf einer geraden, das außerhalb des nicht-seins liegt. und schon beginnt unser grundlegendes problem der existenz an sich.

lg dockanay
 

Walther

Mitglied
Moin Ihr Lieben,

das Phänomen der Zeit zu debattieren: Welche Herausforderung! Letztlich kann man das philosophosch, theologisch und literarisch betrachten, wobei sich diese Sichtweisen wieder miteinander vermengen.

Einstein hat mit der Entdeckung der Relativität den Grundstock der obigen Bemerkungen gelegt. Erkannt ist seitdem, daß es in der Tat eine Frage des Bezugssystems ist, um die Frage nach der Zeit zu beantworten, und daß es überhaupt nur eine Konstante gibt, die Geschwindigkeit des Lichts.

Das ist der objektive Zeitbegriff, der sich vom subjektiven nur eine logische Sekunde unterscheidet, denn jedes Subjekt ist zugleich Objekt eines Bezugssystems. So ist auch klar dargelegt, warum auch das, was wahr ist, durchaus eine Frage des Bezugssystems bzw. von Standort und Blickwinkel sein muß, denn, was Wunder, durch unsere Wesensnatur scheinen die Grundgesetze der Physik stärker in die Sphäre des Geistes hinein, als wir glauben. Und das nicht nur, weil wir eben Teil unserer Umwelt sind, sondern auch weil das Wissen um das tatsächliche Sein eben die geistige Sphäre in der Diskussion durchdringt.

Natürlich gibt es dennoch sog. ewige Wahrheiten. Sie sind Teil unseres Bezugssystems und haben den Charakter in der Geisteswelt, den das Licht in der Naurwelt hat. Selbst relativ ist relativ, überspitzt ausgesagt.

Kurz und gut: Wenn wir Gegenwart beschreiben, ist sie in der Tat bereits vergangen. So ist auch Gegenwartskunst immer vergangenheitsbewältigend, weil sie sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung mit der damaligen Realität beschäftigt hat. Und die ist vorüber, wenn das Kunstwerk fertig ist.

Wir sollten allerdings nicht zu sehr der Haarspalterei anhängen. Da das immer so ist, kann das durchaus berechtigterweise vernachlässigt und die unmittelbare Vergangenheit der Gegenwart, die immer ein Durchgangsstadium ist und per defitinitionem sein muß, zugeschlagen werden.

In diesem Sinne enthebt sich der W, heute der Grundsätzlichkeit anheimgefallen, grüßend

ins ewige und zugleich immer wieder neu sich bildende Off :)
 

Perry

Mitglied
Hallo Höldereden,
mit Interesse habe ich die Diskussion hier über das Phäonmen Zeit hier gelesen und werde deshalb nicht lange im Grübeln verweilen, sondern mich der "herben Süße" in deine Zeilen widmen. Ich denke, es ist keine schlafwandelnde Süße wie man eingangs vermuten könnte sondern die Wehmut, die hier atem- und schwerelos, blutend und saugend in den Erinnerungen blättert. Deine Ausdrucksweise ist sicher ungewöhnlich aber auch wohltuend originell.
LG
Manfred
PS: Mir würden deine Zeilen übrigens ohne die eingeschobenen Vergangenheitsphilosophien noch besser gefallen.
 

Höldereden

Mitglied
Hallo lieber manfred,

Danke für dein Lesen, die Interpretation und den resultierenden konstruktiven vorschlag!
Um ehrlich zu sein habe ich mal so eine art vorstellung von der personifizierten wehmut gehabt. Komischer weise war es eine junge, aber aschfahle, augenlose, fast zombieähnliche und dennoch anziehende frau, die des nachts vor meinem geöffneten kühlschrank stand mit irgendwelchen dosen in der hand und es war nichts weiter in der luft als schweigen...
Also die schlaflose/schlafwandelnde wehmut, wenn ihr so wollt.
Mit den philosophischen "Einschüben" hast du vollkommen recht, ich habe mehrmals überlegt, ob es dem gedicht zu sehr abbruch tut. Da sie schon einen ziemlichen bruch in der"originellen" ausdrucksweise darstellen. Aber andererseits fand ich gerade diesen kontrast auch ein bißchen faszinierend, warum auch immer :)

Nochmal Danke!
Höldereden
 

Höldereden

Mitglied
Vergangenheit

Schlafend stehst du vor mir- herbe Süße
ohne Atem gebierst du lose Schwere- Absolute
die ich nur in vino veritas durchschaue- verdaue.

Vergangenheit- wird die Zeit,
die dir bleibt, den Weg beschreibt.

Führ ich deine blutend Augen saugsam,
durch meiner Momente- Sagen.
mit verklärten Visionen flüsterst du mir Versuchung,
Urteil zu geben über Leben, über Fehler, über Zukunft- Vernunft.

Vergangenheit ist die Zeit,
die dich treibt, Erfahrung zeigt.

Verkrampft dein Wehmutsgriff- der schönen-,
Verblättert deine Bildersammlung- der schlimmen-

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