Verschlafen

DaBink

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Marvin erwachte, wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah auf die Uhr.
Schock! Schon viertel nach sieben! Das hieß viertel nach Arbeitsbeginn! Er sprang aus dem Bett und rannte ins Bad.
Zum Teufel mit dem Bad! Er rannte zurück ins Schlafzimmer, sammelte die Hose und das T-Shirt voom Vortag vom Boden auf und zwängte sich hinein.
Dann eilte er zum Schrank und ergänzte seinen Look mit Socken, einem Hemd und den guten Schuhen für die Arbeit.

Marvin hechtete an der Küche vorbei (Frühstück hatte er sich heute nicht verdient!) zur Haustür, schnappte sich seine Schlüssel und seinen Koffer und schlug die Tür hinter sich zu. Nachdem er im Treppenhaus fast die nette Nachbarin in den Tod gestürzt hatte und nach fünf Minuten joggen den sonst zehn Minuten dauernden Fußweg gemeistert hatte, verpasste Marvin beinahe den Zug, wenn nicht ein älterer Herr so lange für den Einstieg gebraucht hätte.

Nun stand ein 20-jähriger junger Mann in durchgeschwitztem Hemd im Zug in Richtung Innenstadt. Und er hatte Angst. Todesangst. Wenn er diesen Job verlor, würde seine Tante ihm den Hals umdrehen. Das war jetzt der dritte Versuch, Bürokaufmann zu werden, aber mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss war das wirklich nicht einfach. Marvin lebte bei seiner Tante, seit er sechs Jahre alt war. Damals waren seine Eltern bei einem Auslandsaufenthalt in Afrika entführt worden. Sein Vater ist Botschafter gewesen. Ein halbes Jahr nach der Entführung dann erreichte Marvin und seine Tante Elisabeth die Todesnachricht über seine Eltern.

Tante Elisabeth oder Tante Lisa, wie sie lieber genannt wurde, war in den Vierzigern und arbeitete im Krankenhaus.
Heute hatte sie scheinbar Nachtschicht, sonst wäre Marvin von ihr geweckt worden. Sie predigte ihm immer wieder, sich fünf Wecker zu stellen, falls er vom Vierten nicht wach wurde. Natürlich sagte sie das immer nach der Arbeit und halb im Spass, aber sie meinte es eigentlich ernst, sie kannte ihren Neffen.

Marvins Herz raste immernoch. Er schaute an sich herunter. Sein Hemd war schief geknöpft, er hatte Schweißflecken unter den Armen und zwei verschiedene Socken an, eine weiße und eine graue. Er korrigierte seine Hemdknöpfe und versuchte sich die Hose in die Schuhe zu stecken, aber dafür war sie zu kurz. Die nächste Haltestelle war\'s. Marvin stieg aus, wühlte sich durch die Menge, einmal links, wieder rechts, lange geradeaus. Beim Laufen fiel ihm sein Atem auf und er suchte in seinen Taschen nach einem Kaugummi. Er fand ein altes Pfefferminzbonbon; besser als nichts. Beim Verlassen des Bahnhofs fiel ihm auf, wie kalt es tatsächlich war, aber das war jetzt Nebensache. Er schaute auf die große Bahnhofsuhr über dem Eingang: Kurz nach halb Acht. Marvin lief die Straße hinunter und wich dabei gekonnt den Passanten aus. Die nächste rechts, dann in die Freiherr-von-Stein, auf das zweitgrößte Hochhaus zu. Er machte sich noch schnell die Haare im Schaufenster, bevor er durch die große Drehtür in die Eingangshalle eilte.

Es war nicht besonders viel los. Marvin nahm die Rolltreppe, blieb aber nicht darauf stehen wie sonst. Als er oben ankam, verschnaufte er nicht sondern lief so leise und schnell er konnte den Flur entlang. Er hatte es fast geschafft und war seinem Chef noch nicht über den Weg gelaufen.
Marvin bog um die Ecke und sah die Tür zu seinem Büro offen stehen. Er erstarrte. Dann hoffte er, sie offen stehen gelassen zu haben. Er kam etwas näher, da trat sein Chef mit einem Karton in den Händen heraus. Sie schauten sich in die Augen.
„Es tut mir Leid, Herr Berg.“
Marvins Augen befeuchteten sich.
 



 
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