Vom Vergehen der Zeit

nisavi

Mitglied
Ulrich wusste: wenn er in den folgenden Jahren ein Bild würde finden müssen für die Vergänglichkeit und das Voranschreiten der Zeit, würde er immer wieder an diesen einen Moment zurückdenken wollen.

Sie waren am Morgen im Stadtzentrum unterwegs gewesen. Der Touristenführer hatte vor einem Kloster eine Pause gemacht und war gerade im Begriff gewesen, seine sorgsam vorbereitete Führung zu beginnen.

Ein in Purpur gewandeter Mönch hatte sich ihnen langsam genähert. Kein ungewöhnliches Bild in diesem Land.

Wiewohl tief in Kontemplation versunken, grüßte er die an der Straße stehende Menschengruppe, die er nach Ulrichs Verständnis nur schemenhaft wahrgenommen haben konnte, mit einem kaum merklichen, angedeuteten Kopfnicken.

Ruhigen Ganges passierte er die Touristen und völlig unerwartet beschleunigte er noch im Vorübergehen seinen Schritt und nahm mit einem Maß an Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Energie, das für die Zuschauer geradezu körperlich erlebbar wurde, Ulrich fühlte wie ein Ufer, an dem sich Wellen brachen, die Stufen zum Kloster hinauf.

Dann zersprang der Fluss der Bilder in Ulrichs Augen. Sein Hirn schien sich zu weigern, die empfangenen Signale weiterzuverarbeiten.

In einer ruhigen Abfolge, der einer altmodischen Diashow ähnlich, beobachtete Ulrich einzelne Sequenzen von allen Seiten, unfähig, diese wieder stimmig in einen der Chronologie folgenden Ablauf einfügen zu können. Sein Unvermögen störte ihn nicht. Er genoss vielmehr seine Konzentration auf diesen einen, unerwarteten Augenblick und der Gedanke, dass er in dieser Sekunde die Welt atmen dufte, ließ ihn nicht los. Er würde ihn auch noch auf dem Sterbebett beschäftigen. Wie ausgelöscht waren das ferne Europa, Verkehrslärm und Alltagsprobleme. Selbst die Mitglieder seiner Reisegruppe und der Guide schienen aufgehört haben zu existieren.

Der rechte Fuß des Mönchs verharrte noch, von einer ausgetretenen Sandale geschützt, in dem Staub vor dem Kloster, aber die Ferse verließ bereits den Schuh und strebte ihrem Besitzer nach. Aufwärts. Nach oben.

Dazu vollführte der Mönch eine anmutige Armbewegung und schlug den Überwurf seiner Robe zurück. Ulrich suchte nach Erinnerungen und Vergleichen, obwohl ihm durchaus klar war, dass er noch nie etwas Derartiges gesehen und gefühlt hatte.

Wie eine riesenhafte Blüte umgab der schwere Stoff den Körper des Mannes. Wie ein glühender Edelstein umfing er ihn. Ein gigantischer Krake funkelte. Stiere triumphierten, Matadore schnaubten und die Menge, sie jubelte. Weil Mengen oft jubelten. Zu oft und zu leicht jubelten, dachte er. Ein Dornbusch schien den buntbemalten Türrahmen zu füllen. Ein Fels brannte lichterloh. Ein rotes Untier spannte seine Schwingen, spuckte Feuer und setzte zum Flug an. Blutbahnen pulsierten. Die Sonne war im Begriff, gleichzeitig auf- und unterzugehen. Ein Glas Rotwein wurde in einem teuren Restaurant verschüttet und ruinierte eindrucksvoll eine Damastdecke. Staub wehte über eine trockene Ebene, die ein riesiger Fels dominierte. Ein Kardinal grinste in Kameras.

Der Mönch verschwand nach und nach im Schatten des Klosterganges.

Ulrich wollte seinen Blick nicht abwenden. Noch konnte er den nackten Arm des Mannes ausmachen. Noch sah er die helle Kopfhaut, die unter den raspelkurzen Haaren hervorschimmerte. Dann verschluckte das Dunkel des schattigen Säulengangs den Mönch . Nur einen Anflug von Rot, der sich sanft mit dem Dämmern mischte, bis auch er schließlich verlorenging, ließ sich noch lange erahnen.
 

Ji Rina

Mitglied
Beeindruckend, mit welcher Intensität diese Beobachtung beschrieben ist. Schön wenn man so mit Worten spielen kann…
Du kannst das!
Gruss,
Ji
 



 
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