Von Liebe und Finsternis

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fynn

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Morgens. Unendliche Stille. Die Sterne funkeln, der Mond zeigt sich selten und ab und zu sieht man die müden Scheinwerfer eines Autos an der Wand. Schnell, schnell, anziehen. Zähne putzen kann man später. Wenn man alt ist. Warum sich mit 25 Sorgen machen, wie es wäre mit 30 kariesgeplagte Zähne zu haben. Wenn man überhaupt noch Zähne hat. Der Bus ruft. Ich renne die Treppe runter, ein Arm sucht noch wild den Ärmel meines Mantels. Nach den Handschuhen krame ich mit der linken Hand, die Rechte muss die Haustür öffnen. Die Tür schlägt zu. Mit gehörigem Krach, denn ich möchte das alle in diesem Haus wach werden und wissen, da muss jemand schon um 6.00 Uhr los. Und sich fragen: ist es nur der Zeitungsmensch?
Hauptsache weiterschlafen können bis der Wecker klingelt oder die Nachbarn und das Leben unerträglich laut in die verführerischen Träume eindringen.
Ich dagegen renne, obwohl ich genau weiß der Bus kommt erst in fünf Minuten. Als wäre es die Schlimmste aller Qualen ihn zu verpassen. Deshalb gehe ich mit schnellem Schritt und übereiltem Atem zur Haltestelle und schaue neidisch in die dunklen Fenster der anderen. Auf der anderen Straßenseite läuft ein Mann mit einem Kinderwagen. Während ich überlege welch Eigenwilligkeit ein Kind zu Tage legen muss, damit es um diese Zeit durch das Dunkel des angehenden Tages geschoben wird, nimmt er gelassen zwei Zeitungen aus dem Wagen und ich sehe nur noch das Aufglimmen der Zigarette während er in der Auffahrt verschwindet. Ich bin dankbar für mein Alter und meinen Beruf. Schon lang habe ich vergessen wie es ist Hunderte von unnützen Zeitungen an Frau, Mann und Maus zu bringen.

Mein Herz hüpft. Der Mond schaut dabei zu und ich starre auf die Straße. Es ist 6.02 Uhr. Der Bus hat Verspätung und mein Atem rennt. Endlich. Das gelbe Dach und das unauffällige Grau seines Körpers sind zu sehen. Ich flüstere: er kommt. Schnell die Tasche packen. Ein letzter Blick in die Runde, hat mich jemand beobachtet? Aber wer sollte schon? Sie alle liegen im Bett und schlafen. Träumen von einer Welt die anders ist als diese.
Der Bus kommt. Ich sehe den Fahrer und frage mich wie jeden Morgen, ob er seinen Beruf liebt. Und warum nie eine Frau zu sehen ist. Ein winziges Erkennen, ein noch winzigeres Kopfnicken. Für ein „Guten Morgen“ ist es noch zu früh. Für Gewalt und Schwarzfahren wohl auch. Deshalb darf ich überall einsteigen. In der Mitte, Hinten und Vorne. Jeden Tag ähnliche Gedanken. Wo sitzt er? Es gibt kein System, ich kann nur raten. Mache ich Fehler, büße ich dafür mit viereinhalb Minuten, in denen ich viele Vorwände in meinem Kopf umsortiere, um ebenso unauffällig wie beiläufig meinen Platz wechseln zu können. Er sitzt da wo es ihm beliebt. Jeden Tag anders. Und ich kann nur raten in stummer Erwartung. Ich steige ein und weiß da ist er. Ebenso beiläufig wie die Wahl meines Sitzplatzes muss der morgendliche Blick sein, den ich ihm schicke. Wie sieht er aus. Dabei weiß ich es genau. Die schwarzen Cordhosen. Die blaue Jacke. Die dunklen Haare. Und die vielen Lachfältchen in seinem Gesicht. Verstohlen schaue ich ihn immer wieder an und dann und wann begegne ich dem müden Blick seiner braunen Augen. Ich freue mich: meine Augen sind auch braun. Als wären wir uns dadurch näher. Gekonnte Desinteressiertheit ist zu meinem Zweitberuf geworden. Ich schaue aus dem Fenster, erkenne dabei im winterlichen Dunkel nur den Anblick meiner begehrenden Augen und die Wangen, die sich in Verlegenheit rot färben. Meine Hand wischt die roten Flecken weg und meine rechte Hand, die vor wenigen Minuten noch für das Erwachen der Nachbarn sorgte, kramt ebenso gewissenhaft nach einem Taschentuch. Taschentücher bewahren das Unschuldige. Wie ein Kind schniefe ich in den Zellstoff und kann dadurch meinen Blick auf ihn verschwenden. Kostbare Sekunden. Er liest in einem Buch. Ich möchte wissen was er liest. Es gibt Tage da wünsche ich mir, alles wäre nur einmal. Ich könnte nur einmal sein Buch fortreißen, den roten Halteknopf drücken und alles wäre vergessen. Ich wüsste, was er liest und damit was er ist. Als ob es so einfach wäre. Jeden Morgen grübele ich. Und jeden Morgen fühle ich Begeisterung, wenn der Bus voll genug ist, um mich an eine Stelle zu drängen, die mir erlaubt, einzelne Buchstaben zu erfassen. Ich lese und fühle mich verbunden. Und schon steigt er aus. Die kalte Luft füllt den Bus ebenso wie der Hauch der Verlassenheit.

Der Mond schwindet und die Sterne funkeln längst nicht mehr. Das Geheimnisvolle des winterlichen Himmels wird durch das träge Lüften der Schönheit der frühlingslaunigen Sonne ersetzt und nichts hat sich geändert.
Ich weiß immer noch nicht was er liest und warum er jeden Tag um 6.02 Uhr in diesem Bus sitzt und wo er einsteigt. Aber ich weiß in all seinem Gleichsein, in seiner Müdigkeit berührt er mich so sehr, dass ich jeden Tag auf diesen Bus warte und jeden Tag verdamme, der es mit sich bringt, dass ich fragen muss, ob Samstag oder Sonntag ist. Dass er krank ist oder mal keine Lust hat, würde den Status eines Zauberwesens aufheben. Das geht nicht. Denn er ist eins. Jeden Morgen stehe ich auf und warte gespannt auf die Falten der müden braunen Augen und der Mundwinkel, die sagen, genug ist genug.
Ich warte und weiß: eines Tages wird unerklärliches geschehen. Mitten im Sommer wird er fehlen, keine Krankheit wird dies ummanteln und ich werde zerbrechen daran.
 



 
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