Von Saft und Zeitreisen

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Aligator

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Ich lebe in Berlin, in einer Art WG. Meine Mitbewohner kenne ich nur zum Teil. Aus der Saftzeit. Ich mag Saft gern, besonders Apfelsaft. Er muss nicht frisch sein. Aber bitte mit etwas Wasser verdünnt. Irgendwann, vor zwei oder zwanzig Jahren, da gab es einen Zwischenfall, einen kosmischen, weltumspannenden. Genau verstehe ich es nicht, aber es muss etwas mit der Erdachse, Gravitation und so zu tun haben. Alles ist nun verdreht, nicht auf den Kopf, sondern zu annähernd 90 Grad. Ich kenne mich aus mit Geometrie. Jedenfalls kann ich heute keinen Saft mehr zu mir nehmen. Der Inhalt des Glases würde sich mir unweigerlich ins Gesicht ergießen. Doch selbst mit einem Strohhalm funktioniert es nicht. Ich habe gelernt mich damit abzufinden. Saft ist schließlich nicht überlebensnotwendig.

Die heutige Epoche nenne ich insgeheim nur: Kaugummi. Alles zieht sich. Selbst stabile Oberflächen, das habe ich genaustens beobachten können, verändern sich in Beschaffenheit und Länge. Es muss mit Veränderungen auf der molekularen Ebene zu tun haben. Habe als Kind im Kunstunterricht Dalìs Uhren kennengelernt. Ihm müssen schon damals Visionen dieses Prozesses erschienen sein. Mag sein, er war ein Zeitreisender. Dann wäre er zu beneiden gewesen, denn ich möchte auch gern in die Saftzeit zurück, so wie er es wohl getan haben muss. Ich bin ihm übrigens begegnet. Habe ihn als Kind in einem Traum getroffen, in der Fußgängerzone von Barcelona.

„Gestatten, mein Name ist Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech. Wären Sie so freundlich und könnten mir den Weg zum nächsten Barbier erläutern?”

„Immer gerade aus, sie laufen direkt auf ihn zu“, hat ihm dann ein vorrübergehender Passant zugerufen.

Dem nickte Dalí mit leicht schrägem Kopf zu, mir ebenso, dann stolzierte er wie ein Pfau mit seinem Spazierstock davon. Hätte ich damals von dem Kaugummizeitalter gewusst, hätte ich ihn wohl fragen können, ob er mir den Trick mit dem Zeitreisen nicht verraten kann. Aber ich stand noch voll im Saft, zu jener Zeit.
 

herziblatti

Mitglied
Hallo Aligartor, schräge Geschichte, druckreif! Hätt den Pfau mit Flanierstöckchen auch gerne kennengelernt! Kann mich noch gut an das Saftzeitalter erinnern :D LG - herziblatti
 

Aligator

Mitglied
Hallo herziblatti!

Vielen Dank für deinen Kommentar, hab das Ding irgendwo auf meinem Laptop gefunden und es hat mich schön verwirrt.
Aber der Dali is komisch, irgendwie so unnahbar.

Grüße,
Aligator
 
Ich finde die Idee mit der Zeitreise charmant.
Leider verstehe ich den Begriff "Saftzeitalter" nicht. Beim googeln stoße ich auf das Elisabethanische Weltbild und der Lehre von den vier Säften, sprich Elementen. Aber auch dieser Hinweis stellt für mich keine Brücke zum Text dar.
Willst Du mir helfen, alligator?

Schöne Grüße
Rondaly
 

Aligator

Mitglied
Hi R(h)ondaly!

Vielen Dank fürs nette Kommentieren und dein Interesse bezüglich des "Saftzeitalters".
Dass das Googeln hier keine brauchbare Antwort lieferte, beruhigt mich einigermaßen.
In der Saftzeit, also vor diesem kosmischen Zwischenfall, den man wohl auch aus einem subjektiven Blickwinkel, nämlich dem Erwachsenwerden, heraus betrachten könnte, stellte es kein Problem dar, den Saft (möge er mit uns sein) bequem und ohne Reue geniesen zu können. Aber später - o mein Gott - in diesem ewig sich ziehenden Kaugummizeitalter ist halt alles irgendwie schräg, oder nicht?!

Saftige Grüße,
Aligator

P.S. Die Brücke zum Elisabethanischen Weltbild erschließt sich mir auch nicht, wäre aber ggf eine genauere Untersuchung wert
 

Aligator

Mitglied
Ich lebe in Berlin, in einer Art WG. Meine Mitbewohner kenne ich nur zum Teil. Aus der Saftzeit. Ich mag Saft gern, besonders Apfelsaft. Er muss nicht frisch sein. Aber bitte mit etwas Wasser verdünnt. Irgendwann, vor zwei oder zwanzig Jahren, da gab es einen Zwischenfall, einen kosmischen, weltumspannenden. Genau verstehe ich es nicht, aber es muss etwas mit der Erdachse, Gravitation und so zu tun haben. Alles ist nun verdreht, nicht auf den Kopf, sondern zu annähernd 90 Grad. Ich kenne mich aus mit Geometrie. Jedenfalls kann ich heute keinen Saft mehr zu mir nehmen. Der Inhalt des Glases würde sich mir unweigerlich ins Gesicht ergießen. Doch selbst mit einem Strohhalm funktioniert es nicht. Ich habe gelernt mich damit abzufinden. Saft ist schließlich nicht überlebensnotwendig.

Die heutige Epoche nenne ich insgeheim nur: Kaugummi. Alles zieht sich. Selbst stabile Oberflächen, das habe ich genaustens beobachten können, verändern sich in Beschaffenheit und Länge. Es muss mit Veränderungen auf der molekularen Ebene zu tun haben. Habe als Kind im Kunstunterricht Dalìs Uhren kennengelernt. Ihm müssen schon damals Visionen dieses Prozesses erschienen sein. Mag sein, er war ein Zeitreisender. Dann wäre er zu beneiden gewesen, denn ich möchte auch gern in die Saftzeit zurück, so wie er es wohl getan haben muss. Ich bin ihm übrigens begegnet. Habe ihn als Kind in einem Traum getroffen, in der Fußgängerzone von Barcelona.

„Gestatten, mein Name ist Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech. Wären Sie so freundlich und könnten mir den Weg zum nächsten Barbier erläutern?”

„Immer gerade aus, Sie laufen direkt auf ihn zu“, hat ihm dann ein vorrübergehender Passant zugerufen.

Dem nickte Dalí mit leicht schrägem Kopf zu, mir ebenso, dann stolzierte er wie ein Pfau mit seinem Spazierstock davon.
Hätte ich damals von dem Kaugummizeitalter gewusst, dann hätte ich ihn wohl gefragt, ob er mir den Trick mit dem Zeitreisen nicht verraten kann. Aber ich stand noch voll im Saft, zu jener Zeit.
 



 
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