Warum ich nicht wissen kann,

was ein Politiker ist.

Es wäre sinnlos, euch den Namen des Dorfes zu verraten, in dem ich geboren wurde, lebe und sicher auch einmal sterben werde. Ihr würdet den Namen auf kaum einer Landkarte finden.
Kein Politiker mit Rang und Namen hat sich je hierher verirrt, nicht einmal in Wahlkampfzeiten, in denen die sich
doch überall hin begeben, wo zwei oder drei versammelt sind.
Es wäre sinnlos, hier Wahlkampf zu machen, denn wir wissen immer schon, welche Familie schwarz, rot oder jene Liste, die mit "F" beginnt, anzukreuzen pflegt. Im Neubaugebiet wohnen zwei Familien, die im begründeten Verdacht stehen, den "Grünen" ihre Stimmen zu geben. Im Ortskern kommen dann noch einige braune Stimmen dazu. Wir sind berechenbar! So etwas wie ein Mikrokosmos. Oder so etwas...
Wenn mich meine Kinder gefragt hätten: "Was ist ein Politiker?" so hätte ich sie darüber genau so wenig aufklären können, wie über die Frage, woher die Kinder kommen. Irgendwie wurde ich als Vater nie gefragt und irgendwann wussten die Kinder dann trotzdem Bescheid.
Natürlich gab und gibt es auch bei uns Politiker! Kommunalpolitiker eben. Als ich noch ein Kind war, waren diese Kommunalpolitiker sehr wichtig! Es gab im Dorf einen Ortsgruppenleiter, einen Bauernführer und einen Bürgermeister. Die drei trugen, wenn sie ihre vaterländischen Pflichten versahen, oder zu ihren Gefolgsleuten sprachen, eine braune Hose, ein nicht ganz so braunes Hemd, wowie schwarzgewichste und gebürstete Stiefel, oder Schuhe mit Gamaschen. Auf dem Höhepunkt der nationalen "Bewegung" verwirklichten sich diese örtlichen Leiter und Führer mit ihren mehr oder weniger strammen PG´s einen grandiosen Traum: Sie pflanzten auf dem Platz vor dem Pfarrhaus eine "Hitlerlinde". Unter deren Wurzeln vergruben sie eine Flaschenpost, in der sie eine Liste mit ihren Namen für kommende Generationen verewigten. Für die Zeit nach dem tausendjährigen Reich!
Ich ging gerade einige Wochen in die erste Klasse unserer Dorfschule, später nannte man so etwas "Zwergschule", als das kürzeste aller tausendjährigen Reiche aufhörte.
Bei uns hörte es sang- und klanglos auf, kein Schuss fiel, das Dorf blieb von Bomben und feindlichen Kampfhandlungen verschont. Wahrscheinlich fanden die alliierten Flieger unser Dorf gar nicht auf ihrer Karte.
Als an einem wunderschönen Frühjahrs-Nachmittag 1945 (Führers Geburtstag) ein Jeep mit drei weißen und einem dunkelhäutigen Franzosen samt Trikolore die Dorfstraße hinauf fuhr, hängte mein Vater das goldgerahmte Bild mit dem "Führer", das in der Ofenecke hing, ab. Der Führer, der darauf irgendwie aussah, wie das spätere TV-Ekel Alfred, hatte ausgedient. Und das, obwohl unser Ortsgruppenleiter noch einmal einen Rundgang durch "sein" Dorf machte und fest behauptete: "Der letzte Schuss ist noch nicht gefallen!" In der darauf folgenden Nacht wurde die inzwischen prächtig gediehene Hitlerlinde samt íhrem kräftigen Wurzelwerk von unbekannten Zeitgenossen ausgegraben. Alles geschah völlig lautlos und bei mäßig hellem Sternenlicht. Mein Vater hat Tränen gelacht, als er am andern Morgen den wieder tadellos eingeebneten Tatort
sah. Er, der zwei Jahre zuvor schwer verwundet aus Russland zurückgekommen war, hatte im häulichen Kreis öfter vorausgesagt, dass der Krieg verloren sei. Da ich in diesem Alter sehr mitteilungsfreudig war, verbreitete ich die Neuigkeit bereitwillig im Dorf herum. Danach machte ich die ersten Erfahrungen mit einem väterlichen "Maulkorb-Erlass".
Als unsere Zwergschule wieder öffnete, war ich bereits in der zweiten Klasse, hatte aber längst vergessen, was man uns in der ersten Klasse hatte beibringen wollen oder sollen. Unser Lehrer, der ehemalige Ortsgruppenleiter, war inzwischen gründlich "entnazifiziert" worden.´Vor dem Unterricht sangen wir danach nicht mehr: "Wir haben einen Führer" sondern, man war zum Schulgebet zurückgekehrt.
Wer im Dorf entnazifiziert wurde, bestimmte zunächst einmal der wieder kommisarisch eingesetzte Bürgermeister. Nur trug er jetzt keine braunen Hosen mehr! Er war ja schon immer
dagegen gewesen! Immer! Von Anfang an!
Wie, Freunde, sollte ich in einer solchen Idylle einen Politiker kennen lernen?
 
G

Gegge

Gast
Ein schöner Text, der mit einigen kleinen Änderungen und weniger Bezug zur Schreibaufgabe eigentlich schon eine tolle Kurzgeschichte abgeben könnte.

Gruß Gegge
 
Warum ich nicht wissen kann, was ein Politiker....

Vielen Dank, für Deinen Kommentar! Auch auf
einem Dorf hatte man Gelegenheit, Politiker
kennenzulernen und Kommunalpoliter sind eine
besonders interessante Sorte.
Ob ich es einmal mit einem Prosa-Stück in der
Lupe versuchen soll. Aber, wer nimmt sich schon
die Zeit, so etwas auch zu lesen?
mfg. Bernhard
 

Elli K.

Mitglied
Also,

ich habe deinen Text mit goßem Vergnügen gelesen! Einer der besten Beiträge zur aktuellen Schreibaufgabe und sicherlich noch anderweitig "verwendungsfähig"! :)

Beste Grüße,
Elli
 
Warum ich nicht wissen kann

Danke, Elli, für Deine Antwort! Ich wünsche Dir
viel Glück mit Deiner Muse.

Des einen Glück ist fast unsäglich,
denn seine Muse küsst ihn täglich,
des andern Dichters Elend ist,
dass seine Muse gar nie küsst.
-Bernhard-
 
L

Lothar

Gast
Warum ich nicht wissen kann

Lieber Bernhard!

Ich habe mir Zeit genommen, Deine Geschichgte zu lesen. Mir gefällt der Bezug Deiner Geschichte zum Heute. Außer, dass wir uns von äußerer Uniformiertheit tatsächlich verabschiedet haben, hat sich wohl nicht viel geändert. Die Uniformiertheit von Heute sieht man nicht sofort. Aber auch die hast Du sehr gut dargestellt. Die Einen wählen so, die Anderen so. Alle stecken wir im engen Korsett unserer jeweiligen Weltsicht, deren es leider nur 3, 4 gibt, nein 5, denn Jene muss man ja auch dazu zählen, die keine allgemein akzeptierte haben.

Eine verdammt gute, realistische Geschichte. Dein Bezug zum Heute hat wohl nicht Allen gefallen und sie wohl deshalb ins Archiv verbannt.

Liebe Grüße
Lothar
 
G

Gegge

Gast
@Lothar,
NEIN, die Geschichte ist lediglich im Archiv gelandet, weil Sie vorher im SchreibaufgabenForum und ALLE Schreibaufgabenbeiträge ins Archiv wandern sobald eine neue Schreibaufgabe gestellt wurde.

Gruß Gegge
 



 
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