Weihnachten

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loussi

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Fest in Omas Manier

Weihnachten war stets Omas Fest gewesen. Nach Moms Scheidung, spätestens nach Opas Tod war es ehernes Gesetz, dass wir die Weihnachtsfeiertage bei ihr verbrachten. Zwar sagte sie jedes Mal „Natürlich müsst ihr nicht kommen, wenn ihr etwas anderes vorhabt.“ Aber schon ihr Tonfall machte deutlich, dass wir keine Wahl hatten.
Mom hasste Weihnachten. Je näher das Fest rückte, umso übellauniger wurde sie. „Verlogen! Sinnentleert! Nur Konsum und Kommerz!“, schimpfte sie. „Familienharmoniegeheuchel!“ Sie schnaubte verächtlich, verwies auf die gehäufte Suizidrate, die Zunahme innerfamilialer Gewalt sowie die vielen Familienkräche und Trennungen gerade an den Festtagen. Danach verengte sich ihr Blickwinkel aufs Private. „Das sentimentale Getue meiner Mutter! Ihr unablässiges Geplapper! Ich kann es nicht mehr hören! Auch ich brauch´ einfach mal Ruhe!“ Sie holte tief Luft. „Nur einmal, ein einziges Mal,“ fuhr sie mit erhobener Stimme fort, „möchte ich Weihnachten so verbringen, wie ich will. Nämlich gar nicht!“
Mein Bruder und ich hingegen freuten uns auf das Fest. Auch dann noch, als wir längst erwachsen waren.
*
Mit den Vorbereitungen begann Oma bereits Mitte Oktober. Dann nämlich fischte sie einen vergilbten Kanzleibogen aus ihren Unterlagen und heftete ihn mit vier Tesastreifen an die Küchenwand. Akribisch hatte sie darauf die Rezepturen für ihre zwanzig Sorten weltbester Weihnachtskekse notiert, in exakt aufeinander abgestimmter Backabfolge. An den folgenden fünf Tagen zog sie jeden Morgen Punkt neun Uhr mit ihrem Einkaufsroller los. Kiloweise transportierte sie Mehl, Butter und Zucker, Nüsse, Dutzende von Eiern und sonstigen Backzutaten nach Hause. Ende Oktober forderte sie unsere Wunschzettel ein. Der November war dem Backen vorbehalten, außer den Montagen. Da fuhr sie mit dem Bus in die Innenstadt, um Geschenke zu besorgen. Am ersten Advent präsentierte sie stolz ihr Werk: 2118 Plätzchen, die sie nun nach einem bestimmten Schlüssel uns, sich selbst sowie irgendwelchen Leuten zuteilte, denen sie sich verpflichtet fühlte. Natürlich bekamen wir den Löwenanteil: jeder 360 Stück, später Omas noch dazu. Mom verdrehte stets abwehrend die Augen. Ausgerechnet im Dezember musste sie dringend auf ihre Figur achten. Dabei stopfte sie das ganze Jahr über tafelweise Schokolade in sich rein. Die verbleibenden Adventswochen verfasste Oma Weihnachts- und Neujahrsgrüße, verpackte aufwändig ihre Geschenke und schmückte die Zimmer mit Tannengrün, Kerzen, Goldhaarengeln und Räuchermännchen aus dem Erzgebirge. Nur einen Weihnachtsbaum gab es seit Opas Tod nicht mehr.
Je näher das Fest rückte, desto umtriebiger und aufgekratzter wurde sie, was sich in der Häufigkeit ihrer Anrufe bei uns niederschlug.
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Wie jedes Jahr saß Oma am Küchenfenster und wartete auf uns. Wie jedes Jahr kamen wir verabredungsgemäß gegen 14 Uhr angereist und hatten doch stets das Gefühl, zu spät zu sein. Das Auto war vollgepackt mit unseren Reisetaschen, Geschenken, einem ausufernden Gesteck für Opas Grab, einem etwas kleineren für die Urgroßeltern, zwei Wäschekörben mit Lebensmitteln und vorbereiteten Speisen. Die Zubereitung des Weihnachtessens hatte mittlerweile Mom an sich gerissen, da Oma stur die neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse missachtete. Nachdem wir den Wagen ausgeräumt hatten, drängte Oma auf den Friedhof. Mit diesem Gang begann die alljährliche Zeremonie des Heiligen Abends. Oma, die wie immer darauf beharrte das große Gesteck zu tragen, trippelte vorneweg, tapfer gegen ihre Trauer um Opa anplappernd, die sie an solchen Tagen verstärkt befiel. „Hubert, wann holst du mich endlich zu dir?“ fragte sie vorwurfsvoll, als sie vor Opas Grab stand. Zu Hause verschwand sie sogleich im Wohnzimmer. „Ihr noch nicht!“, tat sie geheimnisvoll. Erst auf ein dreimaliges dünnes Gebimmel hin stürmten Marius und ich hinein, Mom langsam hinterher. Auf dem runden Esstisch stapelten sich die Weihnachtsgeschenke. Doch erst war Oma dran. In diesem Jahr bekam sie von uns eine Vibrationsmassagenfußbadewanne. Sie bedankte sich wortreich, konnte es aber kaum abwarten ihre Geschenke loszuwerden. Zu jedem Präsent wusste sie etwas ganz Besonderes zu erzählen. Ich bekam die heiß ersehnte Digicam, begleitet von einer extra langen Geschichte.
Auch während des Abendessens wirkte Oma entspannt. Sie trank sogar ein Glas Sekt, nippte an allen Salaten, Dipps und Pasteten, die Mom zubereitet hatte, lobte deren Kochkünste, aß und trank jedoch nicht übermäßig. Vorübergehend schwächelte ihr Redefluss. Als Marius nach dem Essen eine CD von Jopie Heesters in Omas Mini-Stereoanlage schob, die wir ihr letzte Weihnachten geschenkt hatten, blühte sie auf, begann mit dem rechten Fuß zu wippen und die Texte mitzuträllern. Als sie merkte, dass ich sie mit der neuen Digicam filmte, warf sie sich in Pose und sang kraftvoller. Dann erzählte sie der Kamera, wie sie Opa kennenlernte, von ihrer Hochzeit und Moms Geburt. Nichts Neues also. Glückstrahlend schwelgte sie in der Vergangenheit. Gegen Mitternacht meinte sie unvermittelt, sie habe genug geredet. Abrupt stand sie auf. „Ich habe ein schönes Leben gehabt,“ sagte sie. „Dafür bin ich dankbar!“ und ging zu Bett.

Oma überlebte dieses Weihnachtsfest nicht. Sie verstarb 86jährig in den frühen Morgenstunden des ersten Feiertages an Herzversagen.
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Obwohl schon der erste Advent nahte, hatte sich Mom noch nicht geäußert, wie sie die Weihnachtstage zu verbringen gedachte. Mein Bruder und ich hielten uns seit geraumer Zeit zum Studium im Ausland auf; Marius in New York, ich in Kairo. Beide gingen wir davon aus, Mom würde vorschlagen sich gemeinsam in Kairo zu treffen. Umso überraschter waren wir, als sie uns in einer Mail kurz und bündig mitteilte sie erwarte uns am 24. Dezember zur üblichen Zeit in Omas Haus. Erst jetzt wurde uns bewusst, dass sie das Haus noch nicht vermietet hatte.
Wir fanden das Haus verschlossen vor. Auch Moms Auto war nirgends zu sehen. Marius war übellaunig. Sein Flieger hatte drei Stunden Verspätung gehabt und er litt unter dem time lag. Ich war übellaunig, denn ich hatte die ganze Zeit seinetwegen im Flughafen ausgeharrt. Doch statt sich über unser Wiedersehen zu freuen, verbreitete er nur Muff. „Was soll das Ganze hier überhaupt? Da meckert sie seit Jahrzehnten wegen Weihnachten. Jetzt kann sie endlich machen was sie will und kommt trotzdem hierher! Ich wär´ lieber in New York geblieben oder zu dir nach Kairo gekommen! Wo ist sie überhaupt?“ Es dämmerte bereits. Gewohnheitsmäßg trabten wir Richtung Friedhof. Tatsächlich parkte dort ihr Wagen. Das schmiedeeiserne Tor war schon abgesperrt, Mom nirgends zu entdecken. Seltsam! Wir kletterten über die Mauer. Der Friedhof lag in gespenstischem Dunkel. Wir tapsten den Hauptweg entlang. In einiger Entfernung entdeckten wir linkerhand, dort wo wir das Familiengrab vermuteten, einen Lichtschein. Wir tasteten uns an Baumstämmen und Grabsteinen einen schmalen Seitenpfad entlang, von dem wir annahmen, dass er zum Grab führte. Marius vorneweg, mich hinter sich herziehend. „Hörst du das?“ Unvermittelt blieb er stehen. „Ach du lieber Himmel!“ sagte er fassungslos. Omas Stimme! Sie sang mit Jopie Heesters im Duett. Auf dem Grab stand ein mannshoher Weihnachtsbaum. Im Flackern des Kerzenlichts entdeckten wir Mom, eingemummt in eine Decke in einem von drei Sesseln kauernd, die nebst einem Tisch um einen rot glühenden Heizpilz herum standen. Auf dem Tisch ihr Laptop, auf dessen Monitor überlebensgroß das Gesicht der singenden Oma erstrahlte. Daneben eine Sektflasche, mehrere Päckchen, Omas Keksdose sowie ein Picknickkorb. Mom schien uns erwartet zu haben. Sie schwenkte ein Sektglas, prostete erst uns, dann Oma zu. „Die Kinder sind da, Mama! Die Bescherung kann beginnen!“ Sie stellte den Ton ab. Oma sang stumm auf dem Monitor weiter.
 



 
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